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MANFRED MATZKA

DIE
STAATSKANZLEI

300 Jahre Macht und Intrige
am Ballhausplatz

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Inhalt

Vorwort

1 Am Ottakringer Bach – die Vorgeschichte (bis 1717)

2 Die Geheime Hof- und Staatskanzlei (1717–1753)

3 Der erste große Kanzler (1753–1792)

4 Konservative Wende am Ballhausplatz (1792–1809)

5 Metternich und der Wiener Kongress (1809–1815)

6 Vormärz (1815–1848)

7 Das Ministerium des Kaiserlichen Hauses und des Äußeren (1848–1912)

8 Auf dem Weg zum und aus dem Ersten Weltkrieg (1912–1918)

9 Die Erste Republik – Umbrüche im Palais (1918–1934)

10 Der Austrofaschismus – Mord am Ballhausplatz (1934–1938)

11 In dunkler Zeit (1938–1945)

12 Die Konsolidierung der Republik (1945–1953)

13 Große Koalition am Ballhausplatz (1953–1966)

14 Die Kanzlerdemokratie (1966–1999)

15 Das neue Jahrtausend (ab 2000)

Nachwort

Literaturhinweise

Bildquellen

„Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz […] warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebildete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, fasste Schauer an. Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Josef durchdringt, durchdrang der Name ‚der Ballhausplatz‘ den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dutzends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde.“

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(Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)

Vorwort

Als ich das erste Mal ins Palais kam, es war Dienstag, der 1. April 1980, empfand ich sofort Respekt vor seiner Aura. Der hohe stuckverzierte Eingang, die Torwache, das Bewusstsein, dass da oben der bewunderte Kreisky arbeitete, die Ruhe in den Höfen, die spürbare ernsthafte Betriebsamkeit hinter den Fenstern – all das war etwas Besonderes, mehr als nur eine künftige Arbeitsstätte, anders als jedes andere Verwaltungsgebäude, das ich kannte. Ich nahm die hintere Stiege, die für die ganz normalen Menschen, die direkt in alle fünf Büroetagen führt. Die feierliche Feststiege war nämlich nicht für mich bestimmt, noch lange nicht. Man wusste, wo sie war, wie man sie erreichte, aber es gehörte sich nicht, sie so einfach zu benutzen. Erst Jahrzehnte später wurde sie zu meinem normalen Weg ins Büro. Später, als ich die Verantwortung für das ganze Haus übertragen bekam, als die Hauswache schon aus einer solchen Entfernung respektvoll grüßte, dass ich mich beeilen musste, ihr wenigstens ab und zu zuvorzukommen, und als ich meinen siebenten Chef als Bundeskanzler begrüßen konnte.

Dazwischen lagen viele Jahre der Entdeckung dieses Mikrokosmos. Zunächst die intellektuelle Arbeitsatmosphäre im Verfassungsdienst, dem Gral der Jurisprudenz, umgeben von den Büchern der Handbibliothek, die alle Größen der Wiener Schule des öffentlichen Rechts versammelte, und Tür an Tür mit den qualifiziertesten Kollegen, die man sich nur wünschen konnte, wenn es ums Abklopfen der Tragfähigkeit von Argumenten ging. Es folgten vorsichtige Erkundungen des großen alten Bauwerks. Zuerst die sechs Stiegenhäuser, dann die Logik der Nutzung, dann die besonderen Ereignisse in den Repräsentationsräumen, dann die Verbindungen bis hinunter ins Kellergeschoß. Und mit der Zeit kamen auch die vielen kleinen Informationen auf mich zu, die erklärten, Besonderheiten markierten, Persönlichkeiten zitierten, Staatsgeschichte erzählten.

In den späteren Jahren ging ich oft am Abend, als kaum mehr jemand im Haus war, durch die dunklen Gänge, bog um viele Ecken, stieg sämtliche Treppen hinauf und hinunter – und da begann mir das Haus wirklich lebendig zu werden und zu erzählen: das Entree von mächtigen Barockfürsten unter ihren Perücken, der Marmorecksalon von Mord und Diktatur, die schmalen Zimmer des dritten Stocks von der unglücklichen schwindsüchtigen Clementine Metternich, das alte Kanzlerzimmer vom Fensterglas, das man im Winter ’45 so dringend gebraucht hätte, das Hochparterre von jungen kriegslüsternen Schnöseln des Jahres 1914, der Kanzlertrakt von rechten Prälaten und linken Revolutionären, der Ministerratssaal von plötzlichem Tod im Amt, die Balkone von Volkstribunen, das Archiv von der Goldenen Bulle, der Unterkeller von türkischen Mineuren und der Dachboden von französischen Kanonenkugeln.

Ich begann, Details zu entdecken, die allgemein kaum beachtet wurden: die leeren und wegen ihrer geringen Höhe nicht verwendbaren Räume über einem Teil der Fürstenwohnung, die durch eine recht verpfuschte Angliederung des alten Gerichtsgebäudes an das Palais entstanden waren; den in der Hälfte auseinandergeschnittenen Altar der Kapelle; die Reste der Wendeltreppe, die den Keller mit dem Dach verband und die Dollfuß nicht mehr erreichen konnte. Ich quälte mich durch einen Schluf in den mythenumrankten Raum über dem Kongresssaal, um festzustellen, dass er groß, weit, hoch und hell war und wert, wieder für Besucher geöffnet zu werden. Ich zählte die Fensterachsen und verglich sie mit alten Stichen, um authentisch zu ergründen, wo Metternichs Schlafzimmer wirklich gewesen war. Ich erhielt als besonderes, makabres Geschenk jenes verhängnisvolle Zeichenblatt, das den Putschisten 1934 ihren Weg durchs Palais zeigte. Ich roch in den Kaminen noch immer ganz schwach die Asche der vielen, vielen verbrannten Korrespondenzen, welche die Minister ihren Nachfolgern nicht hatten hinterlassen wollen. Und mitunter war mir, als hörte ich in den Gängen die Intrigen und das Geraune, mit denen Nachfolger ihre Vorgänger zu Fall gebracht hatten.

Dieses barocke Palais am Wiener Ballhausplatz 2 ist seit vielen Jahrzehnten der Sitz des österreichischen Bundeskanzleramtes und seit drei Jahrhunderten in unterschiedlichen Konstellationen Arbeitsstätte des Außenministeriums und der Regierungsspitze.

Das Haus ist wirklich weit mehr als bloß ein Amts- oder Ministeriumsgebäude. Das 1717 errichtete Bauwerk und seine Adresse sind Symbol und Synonym für eine von hier ausgehende 300-jährige ununterbrochene politische Entwicklung und Verwaltungsentwicklung, für die Lenkung und Steuerung eines Staatswesens, das in der ersten Phase der Geschichte des Hauses so groß war, dass darin „die Sonne nicht unterging“. Auf dem Platz vor diesem Haus wurden 1683 buchstäblich in letzter Sekunde die Türken zurückgeschlagen, in diesem Haus wurde Habsburgs Außenpolitik gemacht und europäische Geschichte geschrieben – mit weltweiten Auswirkungen, wie etwa durch die „Umkehr der Allianzen“ am Beginn des Siebenjährigen Krieges, durch den Wiener Kongress 1814/15, durch die von hier ausgehenden verhängnisvollen Depeschen zur Kriegserklärung 1914. Von hier aus wurden in der schreienden Not der ersten Monate nach den beiden Weltkriegen Nahrung, Sicherheit und Hoffnung organisiert. Hier wurden die Erste wie die Zweite Republik in ihren ersten Tagen ebenso wie in ihren schwierigen Zeiten geformt. Hier putschten und mordeten Nazis 1934 gegen das autokratische System des Austrofaschismus, hier wurde 1938 Österreichs Selbstständigkeit aufgegeben. Von hier aus wurde Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, wurde das kleine Land ein anerkannter Player im internationalen Kontext, nahmen die Reformen der 1970er-Jahre ihren Ausgang, und hier wird Österreich regiert.

Es ist der älteste Regierungssitz Europas, der noch immer in Funktion ist, achtzehn Jahre älter als Downing Street 10. Das Palais ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Haus, eigentlich das Haus der Geschichte Österreichs.

Dass Regieren und Verwalten unter modernen Rahmenbedingungen auch in einem 300 Jahre alten Gebäude heute noch gut möglich ist, zeugt von der hervorragenden Qualität seiner Architektur. Auch sie ist mit der Geschichte mitgewachsen, und die Erweiterungen und Umbauten sind das steinerne Zeugnis dessen, was hier geschah und was sich hier entwickelte. Sie ist untrennbar mit Jahrhunderten politischer Geschichte und Verwaltungsgeschichte verwoben, die an jeder Ecke und in jedem Detail des Gebäudes zum Vorschein kommen, wenn man nur alles richtig zu lesen versteht. Es gibt keinen Raum, keinen Flur, keine Treppe, wo nicht deren eigene Geschichte in der Geschichte geschrieben wurde.

Mit dem und im Palais lebt die Erinnerung an – bedeutende und weniger bedeutende – Menschen, die hier gehandelt, Entscheidungen getroffen, Schicksale beeinflusst, gesiegt und versagt haben. In diesem Haus wurde verwaltet, regiert und intrigiert, aber auch gelebt, geliebt, gefeiert, gelitten, geboren und gestorben – war es doch auch rund zweihundert Jahre lang das Wohnpalais von zwei Dutzend Ministern, Kanzlern, Regierungschefs, ihren Familien und Kindern. Sie erfüllten die Mauern mit ihrem Leben und mit ihren persönlichen Schicksalen, und auch diesen kann man anhand des Vorhandenen noch gut nachspüren.

Die historische Bedeutung des Ambientes versteht und spürt jeder, der sich mit wachen Sinnen darin aufhält und sich damit auseinandersetzt, und je tiefer man gräbt, umso spannender wird es. Das Haus erweckt Respekt und Ehrfurcht vor der Geschichte, vor der eines Staates, einer guten Verwaltung ebenso wie vor der von interessanten Menschen, und es ist es daher wohl wert, ihm seinetwegen zum 300. Geburtstag ein Geschenk zu machen. Das Geschenk ist ein Buch, das beschreibt, wieder lebendig macht, neues Licht auf bisher Unbekanntes wirft, die Einheit von Verwaltung und wirklichem Leben vermittelt – und denen, die darin heute und in den nächsten Jahrhunderten wirken, hilft, den Kontext ihrer Arbeit besser zu verstehen und vielleicht auch Fehler zu vermeiden, die hier schon einmal gemacht wurden.

Ich bin im Zusammenhang mit der Arbeit an diesem Buch vielen Menschen zu Dank verpflichtet. Zuerst all jenen, die meine lange und schöne Arbeitszeit im Bundeskanzleramt ermöglichten – sei es absichtlich als Förderer, sei es unabsichtlich dadurch, dass sie andere Karrieremöglichkeiten verhindert haben. Ich bin insbesondere vielen verbunden, die mir in meiner Zeit als Präsidialchef Dokumente, Tipps, Pläne, Gedankensplitter zugeliefert und mich motiviert haben, weil sie meine Idee unterstützten, ein Buch über ihr Haus vorzubereiten. Ich bedanke mich bei den Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes und des Österreichischen Staatsarchivs, die mich zuvorkommend und hochprofessionell unterstützt und beraten haben. Namentlich für sie alle will ich Susanne Bürger, Karin Holzer, Wolfgang Maderthaner, Lorenz Mikoletzky und Josef Ostermayer nennen.

Meine Frau Anica hat es mir nie übel genommen, dass ich wohl viel zu viele Stunden in „meinem“ Amt, hinter Folianten, am Computer und mit Erzählungen über den Ballhausplatz, den Wiener Kongress und die Verwaltungsgeschichte verbracht habe. Sie hat mir zu dieser Arbeit Mut gemacht und immer daran geglaubt, dass sie zu einem guten Ende kommen wird. Dafür danke ich ihr ganz besonders.

1 Am Ottakringer Bach – die Vorgeschichte (BIS 1717)

Zur Römerzeit, in der das heutige Wien und das Stückchen Erde, um das sich dieses Buch dreht, erstmals in die Zivilisationsgeschichte eintritt, gibt es auf diesem Fleck weder Gebäude noch einen angelegten Platz. Am Rand einer pulsierenden Stadt, zur Blütezeit des römischen Militärlagers im zweiten und dritten Jahrhundert, liegt das Areal des heutigen Palais am Ballhausplatz etwas abseits des städtischen Geschehens.

Hier breitet sich von der Lagervorstadt nach Westen eine unbebaute, blumenreiche, leicht abschüssige Wiese aus, durchzogen vom Ottakringer Bach, der – der heutigen Geografie nach – die Neustiftgasse herunterkommt, den Volksgarten durchquert, die Bruno-Kreisky-Gasse und die Landhausgasse abwärts entlang der Strauchgasse fließt und schließlich in den Tiefen Graben mündet. Dort bildet er mit seinem Einschnitt die westliche Flanke des großen Militärlagers. Die Fläche ist unbebaut, aber nie einsam, liegt sie doch unmittelbar am Rand einer Ansiedlung mit mehr als 30.000 Menschen.

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Rekonstruktion des römischen Wien, im Kasten rechts oben die Lage des heutigen Ballhausplatzes

Von dieser Wiese aus kann man im Norden, hinter der von Fuhrwerken stark frequentierten Herrengasse, der Verkehrstangente Vindobonas, noch stückweise die Lagermauern sehen. Sie beherrschen von der Naglergasse bis zur Peterskirche den Horizont. Gegen Westen aber hat man eine recht freie Sicht auf das Donautal, nur ein wenig eingeschränkt durch drei oder vier Villen diesseits der Straße, von denen die prachtvollste das heute zum Bundeskanzleramt gehörende Palais Porcia ist, in dessen Mauern man noch immer die römischen Steine und Ziegel und unter dessen Fußboden man nach wie vor einen gut erhaltenen Abwasserstrang sehen kann. In der Richtung zum heutigen Rathaus erstreckt sich eine freie Fläche. Nach Osten hin liegen die Ausläufer der Lagervorstadt dort, wo sich heute die Hofburg verzweigt. Und hier stehen entlang der Schauflergasse bis zum Michaelerplatz mehrere kleine Buden, die letzten Gebäude der Vergnügungsmeile der Soldaten am Kohlmarkt, an der sich Wirtshäuser, Ramschläden und Bordelle drängen. Von dort führt die Herrengasse weiter in die Zivilstadt im heutigen dritten Bezirk, wo es wesentlich gesitteter zugeht, und dann weiter die Donau entlang zur Provinzhauptstadt Carnuntum.

Hier aber, an der Hauptzufahrt zum Lager und bei der großen Kreuzung am Michaelerplatz, ist Tag und Nacht was los, und die nahe gelegene Wiese am Ballhausplatz ist so etwas wie die Jesuitenwiese heute: An schönen Tagen lungern Soldaten herum, die gerade frei haben, dazwischen spielen untertags die Kinder, ab und zu führt einer seine Ziegen an die Bachweide oder Pferde zur Tränke, am Abend geht in einer grölenden Runde der Weinkrug herum, und in der Nacht finden hier unkompliziert die Mädchen und ihre Freier zueinander.

Als das Lager im folgenden Jahrhundert an Bedeutung verliert und die Garnison schrumpft, wird es auch auf dieser Wiese ruhiger, und in der Folge richtet sich wohl die eine oder andere Familie am Bachufer – dem heutigen Minoritenplatz – einen Schrebergarten oder eine kleine Schafweide ein. Schließlich ziehen aber viele dieser Familien weg, die Buden und Wirtshäuser verfallen ebenso wie die schönen Villen in der Herrengasse mit ihren Badezimmern und Fresken. Das Gebiet rund um das Legionslager wird still, es verödet aber nicht ganz, sondern bleibt als einer der wenigen Teile des späteren Wien permanent besiedelt – auch in den kommenden dunklen Zeiten.

Denn im 5. Jahrhundert kommt die große Katastrophe über die Siedlung: Die Vandalen zerstören das, was vom Lager noch übrig ist, und die klein gewordene Stadt. Im Wesentlichen bleibt nur die Lager„burg“ im Bereich Judengasse/Sankt Ruprecht bestehen, die Lagervorstadt hin zum Ballhausplatz aber verödet völlig. Sie ist auch bald wie die Bauten an der Via Dominorum von einer Schicht aus Ruß und Schutt überzogen, der vormals gepflegte Anger am Ballhausplatz und die Felder ringsum verwildern und sind von Gestrüpp überwachsen.

Obwohl der Ort Vindobona an sich bestehen bleibt und ständig von etwa 1.000 Menschen bewohnt ist, verliert sich mehr als 400 Jahre lang jede überlieferte Spur und jede Dokumentation Wiens, und der trostlose Zustand der Ruinensiedlung, in deren wenigen noch erhaltenen festen Bögen und Gewölben man sich Hütten zusammenzimmert, bleibt lange Zeit bestehen. In dieser Zeit hat sich der Ballhausplatz wahrscheinlich sukzessive in eine Aulandschaft verwandelt.

Die nächste Erwähnung der Stadt findet sich erst 881, als ein Scharmützel zwischen Franken und Magyaren „ad Weniam“ dokumentiert wird. Die Ungarn positionieren Militär im „Berghof“, der dann mehrfach zwischen ihnen und den Ottonen den Besitzer wechselt. 1023 findet im „Rückzugsstädtchen“ Wien erstmals ein Hoftag statt, 1146 rettet sich Heinrich Jasomirgott hierher, aber es entsteht noch keine dauerhafte richtige Stadt. Das Gelände am Ottakringer Bach allerdings wird aufgrund seiner guten Lage langsam wieder zum bewirtschafteten Dorfanger, umliegend entsteht eine kleine Ansammlung von Hütten, und von Westen her weiten ein paar Dörfer (Nußdorf, Währing und Sievering) ihr Ackerland wieder bis zum Bereich der heutigen westlichen Ringstraße aus.

In dieser Zeit entwickeln sich in Wien jene drei Faktoren, die das Wesen einer mittelalterlichen Stadt ausmachen: Burg, Hoher Markt und Ruprechtskirche. Dies veranlasst wohl die Babenberger Mitte des 12. Jahrhunderts, ihre Residenz von Klosterneuburg an diesen verkehrsgünstigeren Ort in der Nähe des Ottakringer Bachs zu verlegen, was zum raschen Ausbau der Stadt führt. Die Grundstücke neben der Wiese am Ballhausplatz werden jetzt Planungsareal für die zu errichtende Burg des Herrschergeschlechts. 1137 stecken die Babenberger dafür die Grundrisse ab, die etwa die heutige Hofburg umfassen, allerdings ohne dass sie den Ballhausplatz selbst einbeziehen. Bis 1156 bleibt nämlich noch die Residenz Am Hof, im Schutz der römischen Mauerreste, bestehen.

1193 wird ein neuer Befestigungsring rund um die Stadt gelegt. Finanziert wird dieser aus dem Lösegeld, das die Babenberger für die Freilassung von Richard Löwenherz erhalten – immerhin 10 Tonnen Silber. Die neue Mauer umschließt das gesamte Gebiet der Hofburg und geht von da nach Westen weiter entlang des Ballhausplatzes und der ganzen heutigen Löwelstraße. Das Areal wird damit von einer Wiesen- und Felderlandschaft zu einem attraktiven, aber noch leeren Bauhoffnungsgebiet in der Stadt, die mittlerweile auf 12.000 Menschen angewachsen ist.

Als Erste investieren im Nordwestzipfel des eingefriedeten Areals die schottischen Benediktinermönche, die ihr Kloster ab 1155 an der Freyung bauen, die ja nun ebenfalls von der Stadtmauer geschützt wird. Gleich danach folgen – im allgemeinen Bauboom nach dem Mauerbau – unmittelbar am Bachufer die Minoriten; Herzog Leopold VI. holt sie 1224 nach Wien und gibt ihnen auf dem leeren Grundstück westlich der Burg einen Bauplatz für Kirche und Kloster. Dieser ist weit größer, als es der heutige Minoritenplatz erkennen lässt: Er reicht von der Löwelstraße über die Bankgasse fast bis zur Herrengasse und dann in einem großen Bogen bis zur Schauflergasse.

Noch immer ist der heutige Ballhausplatz selbst nicht bebaut, aber zunehmend mehr Menschen frequentieren den Platz und die hier neu gebaute kleine Brücke über den Bach. Unter ihnen sehen wir auch prachtvoll in byzantinische Tracht gekleidete Höflinge, die das nun errichtete Gasthaus neben dem Minoritenkloster – also am Ort der heutigen Bruno-Kreisky-Gasse, direkt an der Fassade des heutigen Palaisgebäudes – aufsuchen.

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Der Albertinische Plan von Wien, 1421/22. Rechts oben Burg und Minoritenkloster

1251 sind die Arbeiten am Bau des ersten Bauwerks am Platz, der Kirche „Zum Heiligen Kreuz“, abgeschlossen, um 1300 wird die Katharinenkapelle angefügt, im 14. Jahrhundert wird dann die Klosterkirche der Minoriten beträchtlich erweitert und an der Stelle, wo heute der Flügel des Haus-, Hof- und Staatsarchivs steht, wird das Konventsgebäude errichtet. Zwischen ihm und der Kirche baut man einen Kreuzgang, der bis an die heutige Metastasiogasse reicht.

Auch an der anderen Seite der Freifläche wird fest gewerkt: 1275 baut Ottokar II. Przemysl den Vierkanter der Hofburg direkt an die Stadtmauer – im Wesentlichen so, wie er heute noch den Schweizerhof umschließt.

Der weitere Bau des Hofburgkomplexes erfolgt in fünf, immer noch anhand der Bausubstanz gut erkennbaren Phasen: Als erste Erweiterung wird der – anfangs noch alleinstehende – Cillierhof im 14. Jahrhundert hinter dem Turnierplatz errichtet; er wird später zur Amalienburg am Ballhausplatz umgebaut, und eine Reitschule ergänzt den Komplex (1575); um 1660 entsteht entlang der Stadtmauer der Leopoldinische Trakt als repräsentativer Anbau an die alte Burg, und mit dem Reichskanzleitrakt wird ein Jahrhundert später (1723) der innere Burghof zur Gänze umschlossen. Nach der Schleifung der Stadtmauer errichtet man schließlich 1881 den ersten Teil der Neuen Burg – zur Fertigstellung des kompletten „Kaiserforums“ kommt es dann allerdings nicht mehr.

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Turnier anlässlich der Hochzeit von Karl von Innerösterreich und Maria von Bayern 1571, innerer Burghof, rechts die Amalienburg

Doch im 14. Jahrhundert wird das Viertel trotz seines etwas düsteren Ambientes direkt an der Stadtmauer zunehmend zum „Hofviertel“, und der Ballhausplatz wird geschäftig: 1278 lässt Rudolf von Habsburg die Leiche Ottokars 30 Wochen lang in der Minoritenkirche aufbahren, was für einigen Zulauf von Schaulustigen und Offiziellen sorgt. Margarete Maultasch wohnt im 14. Jahrhundert in einem Haus am Minoritenplatz, Adelsfamilien bauen Palais in der Herrengasse teilweise auf den römischen Villenruinen, wie im Fall des Palais Porcia, und die niederösterreichischen Landstände setzen sich dort repräsentativ fest. Die Bürgerschaft sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung. Zu Ende des Jahrhunderts leben bereits 40.000 Menschen in der Stadt.

1350 wird endlich die große Minoritenkirche fertiggestellt. Ansonsten aber werden die Zeiten krisenhafter: 1421 werden in einem – behördlich mehr als geduldeten – Pogrom unzählige Juden ermordet. Mehrfach fallen die Hussiten ein. Auf dem Areal der heutigen Amalienburg geraten die Grafen von Cilli und der Cillierhof in ein schlechtes Licht: Der Graf spielt in diesen turbulenten Jahren eine politisch zwielichtige Rolle, und allerlei Freischärler und Desperados treiben sich auf dem Ballhausplatz herum. Nach dem Aussterben der Familie Cilli wird das Gebäude vom Hof zunächst auch nicht mehr für Wohnzwecke genutzt, sondern bloß als Geschützdepot verwendet.

Zur Zeit der ersten Hofburgerweiterung entstehen zwischen dem Minoritenkloster und dem Bach ein zweiter Klosterhof, ein neues Refektorium, ein Dormitorium und schließlich der Gutshof direkt an der Stelle des späteren Palais am Ballhausplatz. Wo sich heute der Eingangsbereich befindet, steht schon seit Längerem die Pfisterei – die Bäckerei des Klosters (vom lateinischen pistor = Bäcker), die 1347 explizit erwähnt wird –, und an der Stelle des (in seiner letzten Zeit übel beleumdeten) Gasthauses wird das Haus des Provinzials errichtet.

Die Situation in der Stadt wird allerdings immer unsicherer: 1460 bis 1465 tobt ein veritabler Bürgerkrieg, 1519 bis 1527 schlagen die Habsburger mehrere Aufstände des Bürgertums blutig nieder, zahllose Hinrichtungen von Bürgermeistern, Lutheranern, aber auch unzuverlässigen Adeligen kennzeichnen diese Phase ihrer brutalen absoluten Herrschaft über die Stadt. Dennoch scheint auch in dieser Welt zumindest für die Herrschenden das Vergnügen nicht zu kurz zu kommen: Genau in dieser Zeit vor 1520 errichten die Habsburger das erste Ballhaus hinter dem Cillierhof, um dort einem aus Spanien importierten Vergnügen zu frönen, das darin besteht, mit löffelförmigen hölzernen Schlägern einen aus Stoff zusammengenähten kleinen Ball hin und her zu schupfen. Das ist also das erste Mal, dass an dieser Stelle ein Ballhaus steht, das später dem Ort den Namen geben sollte – allerdings gibt es rundum noch keinen „Platz“, sondern nur eine krumme Gasse, die an der Sporthalle vorbeiführt.

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Plan des Ballhausplatzareals vor 1717

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Die Belagerung von Wien 1683, links oben der Minoritenplatz

Das Ballspiel, vor allem das in geschlossenen Räumen gespielte courte paume, wurde vom französischen Hof importiert. Es ist das Spiel der Könige, denn nur der hohe Adel hat die Muße und die Geldmittel dazu. Es wird zunächst mit der flachen Hand gespielt, erst im 16. Jahrhundert setzen sich die Schläger, die sogenannten raquettes, durch. Ludwig XIV., der Sonnenkönig, spielt es ebenso wie Heinrich II., da können die Habsburger nicht abseits stehen, und die Sportart hält sich über Jahrhunderte – Napoleon III. errichtet sogar noch 1862 das Jeu de Paume im Zentrum von Paris –, was sich daran zeigt, dass immer wieder, auch in Wien, neue Ballhäuser gebaut werden.

1525 zerstört in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt ein Großbrand 416 Häuser, darunter auch den Cillierhof und das erst jüngst errichtete hölzerne Ballhaus nach recht kurzer Nutzungszeit. Ein neues Ballhaus ist also nötig, es entsteht aber erst Jahre später an anderer Stelle, nämlich am Rand des heutigen Michaelerplatzes. Rund um den Ballhausplatz aber kehrt zunächst wieder einmal eine dumpfe Ära der Zerstörung, Angst und Not ein.

Denn jetzt kommen Kriegszeiten: 1529 belagern die Türken erstmals die Stadt, und das betrifft unmittelbar auch das Gelände des heutigen Ballhausplatzes. Als deren Heer vor Wien anrückt, lässt nämlich Graf Salm jenseits der Mauer vorsorglich die Vorstadt niederbrennen. Vom 27. September bis zum 14. Oktober toben die Gefechte direkt an den Mauern, Minen werden gelegt, Breschen in die Befestigungen geschlagen, und auch der Ballhausplatz wird unmittelbares Frontgebiet im Häuserkampf und in den unterirdischen Gängen.

Man kann sich auch gut vorstellen, dass die am Stadtrand über die Mauer hinausragende Minoritenkirche ein beliebtes Objekt für Zielschüsse der Artillerie des Sultans ist. Der hohe, schlanke Turm, der vor der imposanten Ostfassade anstelle eines Mittelchors steht, verliert seine Spitze – zum ersten Mal. Erst 1633 wird diese Spitze des Turms wiederhergestellt werden, aber auch 50 Jahre später während der Zweiten Türkenbelagerung muss der Turm wieder als Zielscheibe herhalten. Er verliert erst seine Glocken und dann zum zweiten Mal die Spitze. Den wackligen Rest bedroht 1761 ein starker Sturm, und da reicht es den Kirchenvätern: Der zerstörte Helm wird durch ein flaches Kegeldach ersetzt, mit dem es keine Probleme mehr geben sollte und das wir heute noch immer in diesem geduckten Zustand sehen, obgleich wohl keine Gefahr seitens einer morgenländischen Artillerie mehr droht.

Nachdem es 1529 gelungen ist, die Türken zurückzuschlagen, wird ein weiterer Ausbau der Stadtmauer durchgeführt. Die neue Mauer mit fünf Toren und 19 Türmen verläuft innerhalb der heutigen Ringstraße im Bereich des Ballhausplatzes am äußeren Rand der Löwelstraße, und sie ist fast zwei Stockwerke hoch. Vor der Stadtmauer befindet sich der tiefe Burggraben, der in Friedenszeiten mit Futtergras bepflanzt wird und in dem Fischteiche angelegt sind. Mächtige Befestigungswerke verstärken die Mauer, eine davon unmittelbar vor dem Ballhausplatz.

1537 erwirbt Don Diego de Serava, Zuchtmeister Seiner Majestät Edelknaben und ein sozial engagierter Höfling, den östlichen Garten des Minoritenklosters, das ist etwa der Platz des heutigen Innenministeriumsgebäudes und der halbe Platz davor bis zum U-Bahn-Abgang. Er beginnt sofort mit dem Bau eines Spitals, welches das alte Hofspital ersetzen soll. Kaiser Ferdinand und seine Frau Anna schätzen die Initiative und stiften 1545 36 Betreuungsplätze im Gegenwert von 1.200 Gulden (das entspricht etwa 120.000 Euro) jährlich zur Aufnahme von Invaliden und Siechen, was auch notwendig wird, da 1529 die außerhalb der befestigten Stadtmauern gelegenen Spitäler und Siechenhäuser bei der Belagerung Wiens durch Sultan Süleyman und sein Heer völlig zerstört worden sind. Als Anna 1547 bei der Geburt ihres fünfzehnten Kindes stirbt, vermacht sie dem Spital auch noch die Einkünfte der Herrschaft Wolkersdorf.

Um 1540 wütet – nicht zum ersten Mal – die Pest in der Stadt, und auch die folgenden Jahrzehnte sind alles andere als ruhig oder friedlich, sodass Wien für mehr als ein Jahrhundert bei einer Einwohnerzahl von 50.000 stagniert. Dennoch wird im 16. Jahrhundert – mitten im heutigen Bundeskanzleramt – der zweite, kleine Kreuzgang des Minoritenklosters errichtet.

1547 zeigt der Stadtplan von Bonifazius Wolmuet schon die fertige Gestalt des ersten Hofspitalbaus und seiner Umgebung am Ballhausplatz: einen langen ebenerdigen Bau entlang der Schauflergasse, von dem einige Flügel nach hinten hinausgehen. Schon bald wird die Anlage allerdings zu klein, und außerdem soll sie modernisiert werden. Auch soll ein Meierhof die Spitalsversorgung sicherstellen. Daher beginnt man 1550 auf den bisherigen Gründen der Minoriten mit dem Bau einer vierflügeligen, zweigeschoßigen Anlage mit prächtigen Arkaden um einen quadratischen Innenhof, die über das bestehende Grundstück hinausgehen soll. Die Minoriten müssen daher noch ein Stück Weingarten (an der Stelle des heutigen Muhr-Brunnens) abtreten, ihre Katharinenkapelle wird Spitalskirche, und mit den Dietrichsteins wird gar wegen einer illegal zugebauten Ecke prozessiert.

1564 sind zwei Flügel des neuen Spitalbaus fertiggestellt – und dabei bleibt es dann auch, weil Geld und Gründergeist zu Ende gehen. Die Front zur Schauflergasse bildet somit weiterhin der alte Langbau, zur Minoritenkirche hinüber bleiben noch alte Peripherieanbauten bestehen, und an der Südflanke verbleibt die Meierei – ein veritabler Bauernhof mit Stall, Heustadl und Schlachthaus exakt an der Stelle des späteren Palais. Der Meierhof beliefert bis ins 18. Jahrhundert die Kaiserkinder mit frischer Milch, die man in der Silberkanne über den heutigen Ballhausplatz trägt.

1559 bis 1620 nehmen Protestanten die Minoritenkirche gewaltsam in Besitz – die Schäden sind noch heute am rechten Seitenportal zu erkennen. Und von 1575 bis 1610 wird am Ballhausplatz auf den Fundamenten des Cillierhofs in mehreren Bauetappen, immer wieder unterbrochen durch finanziell bedingte längere Pausen, die Amalienburg in ihrer heutigen Gestalt errichtet.

Das Spital hingegen scheint schlecht geführt zu werden. Während des Dreißigjährigen Krieges ist es unterbelegt – so quartiert sich die Kammerregistratur in ein paar Zimmern ein, und sie geht bis zum Neubau des Haus-, Hof- und Staatsarchivs aus dem Hintertrakt nicht mehr hinaus. Der alte Trakt zur Schauflergasse wird hingegen immer baufälliger. Die Ecke hinter der Hofburg bei der Bastei mit der zerbröselnden Spitalsfassade und dem alten Bauernhof verkommt zusehends.

Erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geht es langsam wieder aufwärts. Am Ballhausplatz ist das wieder an einer Großbaustelle zu merken, diesmal zur Errichtung des Leopoldinischen Trakts der Hofburg, mit dem der Komplex der alten Burg mit der bisher abseits stehenden Amalienburg verbunden wird.

Die Aufbauphase, die zu einer vollständigen Verbauung der Fläche innerhalb der Mauern führt, geht allerdings nicht lange ungestört voran. 1683 sind die Türken wieder da – und die Habsburger fliehen samt ihrem Hof nach Linz. Die Hofburg und die Wiener Bürger müssen sich in diesen heißen Sommertagen erneut selbst verteidigen.

Am 7. Juli schlagen die Türken die Kavallerie vernichtend vor der Stadt. Ab 14. Juli nehmen 250.000 Mann die Belagerung auf, am 16. Juli wird der Belagerungsring geschlossen, und ausgerechnet das Mauerstück beim Ballhausplatz wird aufgrund des militärisch gut gelegenen freien Glacis davor eines der Hauptziele der Angriffe und damit direktes Operationsgebiet. Die Belagerer graben zahlreiche Laufgräben bis zur Stadtmauer und sogar Tunnels unter der Mauer durch bis unter das heutige Palais und in Richtung der Palais Dietrichstein und Starhemberg (heute Bildungsministerium), in dem der alte Fürst sogar einmal das Briefeschreiben unterbricht, weil er unter sich dumpfes Grollen zu verspüren glaubt. Anfang August richten zwei gewaltige Explosionen große Schäden im Bereich des heutigen Volksgartens an. Am 4. September sprengt direkt bei der Burgbastei und beim Burgravelin (in der heutigen Volksgartennische und vor dem Bellariator der Hofburg) eine starke türkische Mine ein riesiges Loch in die Stadtmauer. Am 9. oder 10. September erfolgen weitere Sprengungen. Infanteristen drängen durch die Breschen herein, binnen kürzester Zeit entbrennen hier, wo heute die östliche Ecke des Volksgartens das Deserteursdenkmal umschließt, zwischen Heldenplatz und Schauflergasse und am gesamten Ballhausplatz die schwersten Kämpfe der ganzen Belagerungszeit. Der Burgravelin muss dabei zeitweilig aufgegeben werden, die Löwelbastei wird letztendlich gesprengt.

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Reste der Arkadenbögen des Hofspitals

Buchstäblich in letzter Sekunde vor dem endgültigen Zusammenbruch der Verteidiger kommt aber am 12. September um 5 Uhr früh doch noch das Entsatzheer und rettet Wien, weil die vom Nachschub abgeschnittenen türkischen Truppen Reißaus nehmen. Der Ballhausplatz aber ist ein blutiges Schlacht- und Trümmerfeld, das erst mühsam wiederhergestellt werden muss.

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Löwel- und Burgbastei, aus der Ansicht von Wien nach Folpert von Allen, 1680

Aber nicht nur in baulicher Hinsicht besteht Renovierungsbedarf, auch der Staat verlangt dringend Reformen. Diese sind einerseits auf militärischem Gebiet notwendig, wie man gesehen hat, andererseits ist aber auch das Finanzwesen auf solidere und effizientere Fundamente zu stellen, und schließlich erkennt die Führungselite, dass es angesichts der Größe des Staates und der habsburgischen Reichsverwaltung an der Zeit ist, die öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr en famille zu besorgen – vielmehr muss eine professionelle, auf Dauer organisierte staatliche Struktur her.

Die vormalige Pfisterei ist irgendwann davor in kaiserlichen Besitz übergegangen, möglicherweise bereits 1551 – aber das lässt sich nicht so präzise nachvollziehen. Jedenfalls gibt es hier schon ein kleines Verwaltungsgebäude, das gegen 1700 „römisch-kaiserliche geheime Hofkanzlei“ genannt wird. Wenige Jahre später wird es allerdings wegen seiner Baufälligkeit abgerissen, und damit wird das Areal völlig frei. Auch der frühere Bauernhof des Hofspitals daneben ist nicht mehr in bestem Zustand.

Dennoch ist diese Gesamtfläche sehr beengt, denn vis-à-vis vor der Amalienburg duckt sich noch ein weiteres Gebäude, das niedrige dreieckige Haus des Reichsfreiherrn Scalvinioni. An der Südseite engt die düstere hohe Mauer den Platz ein, und gegen den Komplex der Minoriten hin ragen gleich mehrere Baukörper unterschiedlicher Gestalt und Höhe in den Platz herein. Über die Schauflergasse führt ein zunächst hölzerner Gang von der Hofburg ins Kaiserspital, der um 1700 durch einen gemauerten Bogen ersetzt wird.

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Kämpfe in den Minen unter dem Ballhausplatz 1683

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Stadtplan von Wien 1547, unten links an der Stadtmauer die leere Fläche des Bauplatzes für die spätere Staatskanzlei

Als nun 1707 ein Teil des Spitalsgebäudes abbrennt, denkt man erstmals daran, den Meierhof gänzlich zu verlegen, da seine Heu- und Strohvorräte ein zusätzliches Brandrisiko darstellen. 1711 entdeckt man schwere Schäden am Arkadengang des Spitals und muss die Bögen wegen Einsturzgefahr zumauern. 1717 muss man schließlich erkennen, dass der Meierhof auch aufgrund seiner schlechten Bausubstanz nicht mehr wirklich zu erhalten ist, selbst wenn man dafür in Kauf nehmen muss, dass nach einem Abriss die frische Milch für die jungen Herrschaften nicht mehr täglich über den kleinen Platz zugeliefert werden kann. So werden die Pläne immer konkreter, hier ein neues Hofkanzleigebäude zu errichten.

Doch wer auch immer hier an eine Verbauung mit einem einigermaßen repräsentativen Haus denkt und was auch immer dieses für eine Funktion haben soll, eines ist klar: Es gibt hier zwar ausreichend Platz, aber es wird einen wirklich guten Architekten brauchen, um auf diesem unregelmäßigen, eingequetschten Restbaugrund in denkbar schlechter Lage etwas Ordentliches zustande zu bringen. Nichtsdestotrotz plant man am Hof Karls VI. bereits recht konkret ein repräsentatives Kanzleigebäude an genau dieser Stelle.

2 Die Geheime Hof- und Staatskanzlei (1717–1753)

1717 ordnet der mächtige Obersthofkanzler des Europa beherrschenden Kaisers Karl VI., Philipp Ludwig Wenzel Graf von Sinzendorf, an, in der ungenutzten Ecke an der Stadtmauer hinter der Amalienburg den Bauernhof des Hofspitals zu schleifen, störende Bauteile des Spitals und des Provinzialhauses des Minoritenklosters zu beseitigen und hier ein großes Kanzleigebäude für Regierungszwecke, nämlich für die Hofkanzlei, deren Chef er ist, zu planen.

Das Projekt hat einen verwaltungspolitischen Hintergrund, folgt aber auch einleuchtenden städtebaulichen Überlegungen: Als man nämlich 1683 endgültig die Türken besiegt und dafür vorgesorgt hat, dass die Stadt nach menschlichem Ermessen nie mehr von ihnen überrannt werden würde, kann man den Bau eines neuen Verteidigungssystems in Angriff nehmen. Dafür wird weit draußen vor den Vorstädten und Dörfern der Linienwall errichtet, der zu einer tatsächlichen Vergrößerung der Stadt und damit einhergehend zu einer wirtschaftlichen Verwertung und teilweisen Besiedlung der freien Flächen unmittelbar außerhalb der Stadtmauer führt. Das hat auch für die Meierei der Minoriten Konsequenzen – es gibt lukrative Verkaufsmöglichkeiten der zur heutigen Josefstadt hin gelegenen Felder, denn man kann sie jetzt profitabel an Kleinhäusler und Händler vergeben, ja die Stadt fordert und fördert hier sogar den Hausbau und die Besiedlung – und damit wird ein alter Bauernhof innerhalb der Stadtmauern unsinnig und überflüssig.

In den Nachkriegsjahren gibt es ökonomisch und in der Wiener Stadtgestaltung ohnedies eine schnelle und dynamische Aufwärtsentwicklung. Ein geradezu fieberhafter barocker Bauboom verändert die Stadt völlig: 1695 baut Fischer von Erlach das Stadtpalais des Prinzen Eugen in der Himmelpfortgasse, in dem dieser seinen sagenhaften Reichtum zur Schau stellen kann. 1700 beginnen die eifersüchtigen Habsburger, vom selben Architekten den Mitteltrakt des Schlosses Schönbrunn errichten zu lassen. 1708 folgt der große Zweckbau der Böhmischen Hofkanzlei am heutigen Judenplatz, und zur gleichen Zeit entsteht vor den Toren der Stadt das Gartenschloss der Familie Liechtenstein. 1710 wachsen in Sichtweite des Ballhausplatzes der Neubau des Palais Auersperg und im gleichen Jahr der des Palais Trautson in die Höhe.

1716 lässt sich der Kaiser abermals mit einem Projekt Fischer von Erlachs huldigen, nämlich mit der Karlskirche unmittelbar vor den Toren der Stadt und in Sichtweite der Burg. 1720 entsteht die prächtige Hofbibliothek und 1721 das Belvedere – diesmal beauftragt Prinz Eugen Johann Lucas von Hildebrandt mit der Planung.

Diese überhitzte Konjunktur der Feudalbauten wird allerdings von ungeheurem sozialem Elend in der Hauptstadt begleitet. Massenhaft strömen Baugesellen aus dem ganzen Reich nach Wien, wodurch die Löhne verfallen. Ab 1710 kommt es mehrfach zu Streiks der hungernden Gesellen. Auch die Immobilien-Kreditwirtschaft bricht in der entstehenden Blase zusammen, und 1703 kann nur ein Akt kaiserlicher Willkür gegenüber dem Bankhaus Oppenheimer einen Staatsbankrott abwehren. Die Habsburger und ihre politische Herrschaft berührt das aber kaum, sie lenken die Geschicke des Staatswesens nach ihren Interessen mit eiserner Hand und großen Erfolgen: Kaiser Karl VI. hat ein riesiges Imperium aufgebaut und arbeitet mit seinen Beratern und Ministern konsequent daran, es in alle Richtungen gut zu organisieren und abzusichern. Dies ist vor allem in der Außenpolitik wichtig, da es jetzt darum geht, die Anerkennung der Thronfolgeregelung – auch jener der weiblichen Linie, denn der Kaiser hat keinen Sohn – international und im mosaikhaft zusammengesetzten Großreich abzusichern.

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Das Hofspital und seine Umgebung um 1683. Ausschnitt aus Daniel Suttingers Vogelschau

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Blick vom Ballhausplatz durch den Schwibbogen, den letzten Rest des Hofspitals, in die Schauflergasse um 1885

Dafür braucht es gute Leute und eine professionelle Struktur. Und genau dafür wird im Geburtsjahr von Karls Tochter Maria Theresia, 1717, der Neubau der künftigen Hof- und Staatskanzlei begonnen. Im verwinkelten Platzbereich an der Stadtmauer ist man ohnedies bereits seit Jahren an das Baugeschehen gewöhnt: Die Pfisterei ist kürzlich abgerissen worden, detto das Scalvinioni-Haus, und das Hofspital ist schon seit Langem eine permanente Baustelle – erst jüngst ist bei Umbauarbeiten ein Teil des Spitalmeistertraktes eingestürzt, und seit dem Brand von 1707 stellt man fest, dass sich die Sandsteinsäulen des Arkadengangs „dergestalten schöllen“, dass der ganze Oberstock abzustürzen droht. Jetzt entsteht hier also eine Großbaustelle, wobei zuerst der noch verbliebene Teil des Meierhofes abgerissen und die Meierei nach Lerchenfeld verlegt wird.

Das neue Haus und seine Institution, die hier entstehen sollen, sind kein Produkt einer feudalen Laune Sinzendorfs, der einfach größer repräsentieren will, es hat auch einen manifesten politisch-administrativen Hintergrund, ohne den der Aufwand nicht verständlich wäre:

In früheren Zeiten haben sich die habsburgischen Herrscher in wichtigen Fragen primär ad hoc mit einzelnen vertrauten Personen beraten – ihren Räten bzw. geheimen Räten, entweder einzeln, zunehmend aber als Kollegium, das immer häufiger, zeitweise sogar täglich zusammenkam. Eine kontinuierliche Verwaltungsstruktur mit fixem Personal und fest zugewiesenen Geschäften zur Vorbereitung und Umsetzung der Entscheidungen bestand aber noch nicht.

Im 16. und 17. Jahrhundert ist es nur gelungen, mit dem Hofkriegsrat für die militärischen Angelegenheiten und mit der Hofkammer für die finanziellen Belange zwei permanente zentrale Strukturen für den einheitlich zu führenden Staat zu schaffen. Für die Zentralisierung der allgemeinen Verwaltung und der Außenpolitik hingegen gibt es zunächst nur kleinere Ansätze, so insbesondere im Frühjahr 1620 die Einrichtung der Österreichischen Hofkanzlei, durch deren Konstruktion man auch die österreichischen Angelegenheiten bewusst von denen des Kaiserreichs schied, und 1659 die Einrichtung der Geheimen Konferenz unter Vorsitz des Obersthofmeisters, die aber keinen organisierten Vollzugsapparat hat. 1709 wird dieses Kollegium verkleinert und in „Ständige Konferenz“ umbenannt.

Mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges erreicht Karl VI. die größte bisherige Ausdehnung seines Reichs – mit entsprechend großen administrativen Herausforderungen. Vor allem muss man sich noch stärker auf die habsburgischen Interessen konzentrieren und nicht nur auf die des Gesamtreichs. Mit der Unterzeichnung der Friedensverträge entsteht immer deutlicher die Idee einer österreichischen Monarchie, eines besonderen selbstständigen habsburgischen Staatswesens, als Herzstück des übernationalen Kaiserreichs.

Die Schaffung einer solchen Monarchie verlangt zwangsläufig nach neuen Wegen in der Verwaltung, die es jetzt zu realisieren gilt, wobei man auf solide „verwaltungswissenschaftliche“ Grundlagen zurückgreifen kann: Der Merkantilist und Kameralist Philipp Wilhelm von Hörnigk hat schon 1684 seine wirtschaftspolitische Kampfschrift „Österreich über alles, wann es nur will“ herausgebracht. In dieser versteht er unter Österreich die Gesamtsumme der Länder des Erzhauses – im Gegensatz zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – und sieht diesen Staat als zentral regierten Verwaltungs- und Beamtenstaat ohne Selbstständigkeit der Länder und Landstände.

Das leuchtet ein, und so geht in den Jahrzehnten nach 1700 die Reichspolitik des Kaisers auf der einen und die an den Interessen der Monarchia Austriaca orientierte Politik des Wiener Hofes auf der anderen Seite immer weiter auseinander. Die österreichische Monarchie wird in den für eine Staatsbildung wichtigen Bereichen – der Entwicklung von Zentralbehörden, der Kriegsführung und der Finanzen – vom Heiligen Römischen Reich abgesondert und eigenständig verwaltet.

Ein solcher Staat erfordert auch eine neu konzipierte, leistungsfähigere professionelle Regierungsstelle für die inneren und äußeren Angelegenheiten, und dafür macht sich Obersthofkanzler Sinzendorf mit seinem Bauprojekt stark. Die Österreichische Hofkanzlei hat unter seiner dynamischen Führung gegenüber der Reichskanzlei bereits zusehends an Bedeutung gewonnen. Dies gilt vor allem für die äußeren Angelegenheiten, für die er schon 1705 erstmals eine außenpolitische Abteilung gegründet hat und die bald auch die Bezeichnung Staatskanzlei führt. Das entspricht auch dem internationalen Trend, denn im 18. Jahrhundert wird die Außenpolitik europaweit ein selbstständiger Bereich der Politik, und die Diplomatie wird von den sonstigen politischen Agenden getrennt. In vielen Ländern entstehen dafür eigene Verwaltungsorganisationen, die professionell und unterstützt durch Archive die Außenpolitik routiniert betreiben, und diese Entwicklung beeindruckt auch Karl VI. und seinen Stab.

Das neue Amt braucht, auch wenn man zunächst nur an wenige Mitarbeiter denkt, Platz – Platz, der in der Hofburg selbst nicht mehr zu finden ist. Zugleich soll aber auch eine angemessene und zweckmäßige Kanzlerresidenz eingerichtet werden, weil es nicht mehr machbar scheint, dass der Kanzler gewissermaßen „von zu Hause aus“ in irgendeinem entlegenen Familienpalais den Staat regiert.

Die Professionalisierung der Verwaltung mit speziell ausgebildeten Beamten, festen internen Regeln, Abläufen und funktionierenden dauerhaften Strukturen ist die Vision für dieses neue Amt. Der Umstand, dass es im habsburgischen Interesse darüber hinaus dringend geboten scheint, den landständischen Adelsverwaltungen eine zentrale Institution entgegenzusetzen, ist ein zweites Motiv. Ein drittes ist die Erkenntnis, dass man gerade jetzt nach der Geburt einer Tochter des Kaisers einen fähigen diplomatischen Apparat brauchen wird, wenn man der Pragmatischen Sanktion für deren Erbfolge auch außenpolitisch nachhaltig Anerkennung verschaffen will – für die Habsburger eine Überlebensfrage.

Doch ist noch keine feste Umschreibung von Zuständigkeiten im heutigen Verständnis ins Auge gefasst. Die Aufgaben diverser Kommissionen, Hof- und Staatsämter überschneiden sich daher, Aufgaben werden parallel wahrgenommen, und Rangstreitereien behindern ebenso wie Nichtinformation das Funktionieren des Staates. Zur besseren Koordination soll das neue Amt Hausangelegenheiten (Familienangelegenheiten der Habsburger), vor allem aber Hofangelegenheiten (Protokollarisches und Herrscherbezogenes) sowie Staatsangelegenheiten (innere und auswärtige Aufgaben) primär und koordinierend besorgen. Dies aber noch in Konkurrenz zu anderen Institutionen, etwa zum Hofkriegsrat und zur Reichskanzlei mit ihren Referaten und sogenannten „Expeditionen“ für diverse Weltgegenden.

An einem Frühlingstag des Jahres 1717 erteilt Sinzendorf formell den Bauauftrag mit dem Wunsch, das Projekt raschestmöglich umzusetzen. Der Grundstein wird am 13. September gelegt. Unverzüglich ergeht auch an die Landstände das Ersuchen, diesen Bau des neuen Gebäudes für die Österreichische Hofkanzlei zu finanzieren. Die sorgfältige Unterbringung der Archivalien, die bisher verstreut und unter widrigen Umständen aufbewahrt wurden, liege ja auch in ihrem Interesse, meint Sinzendorf. Die weitere Deckung der Baukosten soll aus einer neuen Steuer „auf jedes bey allhiesiger Stadt Wienn und in denen Vorstätten innern denen Linien aushackenden Pfund Rindfleisch“ erfolgen. Diese wird dann aber zum Teil für eine Gehaltserhöhung der niederösterreichischen Beamten verwendet, sodass die Arbeiter zunächst nicht bezahlt werden können und weitere Mittel nachbewilligt werden müssen. Trotz dieser Widrigkeiten wird der Bau 1721 fertiggestellt.

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Grundriss des ursprünglichen Palaisgebäudes 1717

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Prospect der Geheimen Hoff-Cantzley 1750

Noch während der Bautätigkeiten arbeitet Sinzendorf auf Anordnung des Kaisers im Sommer 1719 ein Statut aus, das dem Ersten Hofkanzler die auswärtigen Angelegenheiten und die Protokollführung der Ständigen Konferenz zuweist. Er soll also zugleich Regierungschef und Außenminister sein. Neben ihm gibt es einen zweiten Hofkanzler und unter diesem einen Vizekanzler als Kanzleileiter und neun Hofräte. Für dieses kleine Team, dessen Hilfspersonal sowie die Sitzungen der Kollegien für Inneres und Justizielles ist die neue Kanzlei primär gedacht. Ihre Bezeichnung ist noch nicht recht klar, zunächst firmiert das Amt unter Österreichische Hofkanzlei, später aber auch als Geheime Hof- und Staatskanzlei.

Die Pläne für den Neubau hat der 1668 in Genua geborene Johann Lucas von Hildebrandt entworfen, der seit 1700 den Titel Kaiserlicher Hofingenieur und Hofarchitekt trägt. Dieser Prominentenarchitekt, der bereits das Untere Belvedere für Prinz Eugen geschaffen hat, erfreut sich der besonderen Gunst Graf Sinzendorfs, der ihn am 1. Mai 1720 sogar in den Reichsadelsstand erheben lässt. Der Bau der Staatskanzlei erregt in der Stadt so viel Aufsehen, dass Reichsvizekanzler Schönborn darüber sogar brieflich an seinen Onkel berichtet und ihm Pläne übermittelt. Der ausführende Baumeister ist Christian Alexander Oedtl.