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Signe Preuschoft

MEINE WILDEN KINDER

Ein Leben für die letzten Orang-Utans

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Ich widme dieses Buch allen fühlenden Wesen.

INHALT

WIE ALLES BEGANN

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ROTHAARIGE VETTERN

Begegnung mit dem Wald

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WEM DIE STUNDE SCHLÄGT

Wie Kopral zu seinem Namen kam

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EIN UNRECHT RICHTEN: DIE DREI R

Waldelfe Lesan

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VON WAISEN UND ANDEREN KINDERN

Sorgenkind Sri

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VON GUTEN HERZEN – UND ZWEIFELHAFTEN ERGEBNISSEN

Schnappschuss: Maya

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DES TEUFELS ADVOKAT

Sandra und Cecilia: Menschenaffe sein in Argentinien

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GEFÄHRLICHE NÄHE

Signes Osterüberraschung

DANK

LITERATUR

ABKÜRZUNGEN

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WIE ALLES BEGANN

Dieses Buch begann ich auf meiner Terrasse in Samboja Lestari, auf der Insel Borneo, abends oder frühmorgens vor Arbeitsbeginn. Mit Blick auf Baumfarne, im grün-goldenen Schatten eines überhängenden Baums, immer begleitet von meinem Freund, dem Kater Subhuti. Gepiesakt von Stechmücken, den Rauch einer Moskitospirale in der Nase. In den Ohren das allgegenwärtige Schrillen der Zikaden. Jede Tageszeit hat ihre eigenen Laute, jede Vogelart ihren eigenen Ruf. Einer rief unentwegt „Pacet Pacet Pacet“ – im Indonesischen bedeutet das Blutegel. Morgens sang ein Gibbon. Gegen Abend kamen juwelenglitzernde Nektarvögel. Im Dunkeln machten Stachelschweine Krach beim Essen oder gingen nadelklickend auf eifrigen Füßen vorbei. Ich saß ganz still da und schrieb weiter, während im Land mal wieder die Feuer wüteten, teils sogar auf dem Gelände der Auffangstation, gelegt von Anrainern, die das Land beanspruchen. Wir husteten uns durch drei Monate und hatten rußgeschwärzte Fußsohlen vom Barfußgehen in Innenräumen. Nach fünf Jahren Gemeinschaft verschwand Subhuti. Vermutlich von einer Python gegessen.

Wie war ich dort hingekommen? Ich bin 1960 geboren – ein guter Jahrgang. In Deutschland ließ man den Mief der 1950er Jahre hinter sich, begann gerade das Trauma des Zweiten Weltkriegs zu überwinden. Es war eine verspielte, frühlingshafte Aufbruchszeit, in der die wahre Entnazifizierung begann und die geistige Abrüstung von heftigen Generationenkonflikten begleitet war. Die Welt öffnete sich langsam wieder.

Das ist der Hintergrund, vor dem ich meine jungen Eltern heute sehe. Meine Mutter, die mich in dem Bewusstsein erzog, dass nichts meine Fähigkeiten übersteigen kann, bloß, weil ich eine Frau bin. Sie verlangte Chancengleichheit und unterstützte mich darin. – Sie werden übrigens feststellen, dass ich beim Schreiben nicht „gendere“, ich halte das für verkrampft. Wir sollten uns daran gewöhnen, dass z.B. hinter normalen Berufsbezeichnungen in der maskulinen Form gleichermaßen Frauen stehen können. Viel lieber gebe ich mit meinem Leben eine klare Stellungnahme ab als mit uneleganter und leserunfreundlicher Sprache. Also Mädchen, liebe Geschlechtsgenossinnen! Wenn ihr ein freies Leben wollt oder einen interessanten herausfordernden Beruf: Lebt es einfach! Der Wind wird euch ordentlich ins Gesicht blasen, da könnt ihr sicher sein. Aber ihr könnt das! – Meine Mutter schenkte mir diese Selbstverständlichkeit, und dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Mein Vater erforschte und lehrte über die Ursprünge des Menschen an der Universität Tübingen. Damals war die Welt noch ein natürlicherer Ort, die Flurbereinigung noch nicht abgeschlossen. Es gab frei strömende Bäche, oben am Hang begann der Schönbuch, ein magischer Wald. Mein Vater war wissbegierig und respektvoll gegenüber allem, was da kreucht und fleucht. Auf unseren vielen Ausflügen teilte er mit endloser Geduld sein stets wachsendes Wissen mit mir. Einmal, als ich grade Laufen konnte, fanden wir einen Bombardierkäfer. Er nahm den riesigen, bepanzerten Käfer auf, um ihn mir zu zeigen. Ich hockte neben ihm, während er ihn auf seiner Handfläche umdrehte, mit offenem Herzen, offenem Geist und … offenen Augen. Der Käfer feuerte. Direkt in meine Augen. Aus meiner schmerzwirren Erinnerung springt ein „Warum?“, weshalb betrachtete der Käfer mich als Feind, wo wir doch nur die besten Absichten hatten? Später gestand mir mein Vater, seine größte Sorge sei gewesen, ich würde eine bleibende Angst oder Abneigung gegenüber Tieren oder zumindest Käfern zurückbehalten. Nichts lag mir ferner. Was ich dabei lernte, war, mich in andere hineinzuversetzen.

Zu dieser Erziehung leistete später noch ein Pony einen Beitrag, und dann vor allem die Katzen: Manchmal ist jemand einfach nicht daran interessiert, mit mir in Kontakt zu treten, egal wie sehr ich das ersehne. Ich lernte die Zeichen zu lesen und ihnen einen Ausweg zu lassen, damit sie sich nicht bedrängt fühlten und mich verletzten, nur weil ich zu dickfellig und egozentrisch war, um zu verstehen, was sie wollten. Mir ging es ja genauso! Achtung, Nicht-Stören und ein nicht endendes Interesse an den stillen Dingen, die nicht so ins Auge springen – das ist mein Credo geworden. Ich möchte verstehen, mich in andere hineinversetzen.

Es war unausweichlich, dass ich Verhaltensforscher wurde, doch zuerst nahm ich einen Umweg und studierte Psychologie. Auch Philosophie. Letzteres war keine so gute Idee, zu verstaubt. Nur die analytische Philosophie des Geistes leuchtete mir ein und Werke wie Thomas Nagels „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ zupften an der richtigen Saite in meiner Seele. Doch der Gedanke, mein Leben in Forschungslabors und an Schreibtischen zu verbringen, bewirkte, dass mein 22-jähriges Selbst förmlich dahinwelkte und sich vor Verzweiflung krümmte. Was war mit all den interessanten Wesen dort draußen? Dem Wald, seinen Gerüchen? Den Magnet-Bakterien? Dem Schlüsselreiz, der das Kopulationsverhalten von Truthähnen auslöst? Wollte ich nicht die Welt verändern? Ich beriet mich mit meinem Vater. Ökologie wollte ich studieren, das Waldsterben verhindern. Einfühlsam überzeugte er mich, es sei besser, zuerst das Alte abzuschließen, bevor man etwas Neues beginnt. Ich willigte ein, mein Psychologie-Studium zu Ende zu bringen und stürzte mich auf die Tierpsychologie, in Sprachpsychologie wählte ich die Sprachexperimente mit Menschenaffen als Spezialgebiet. Anschließend wechselte ich in die Zoologie und nach Utrecht, um über Lachen und Lächeln bei Affen zu promovieren. – Mein Werdegang war schon damals unkonventionell. Ich bin meinen Lehrern Juan Delius, Hans Hörmann, Heinz Heckhausen und vor allem Jan van Hooff zu unendlichem Dank verpflichtet – sie haben mich inspiriert und mir auf meinem Weg sehr weitergeholfen. Ein Querfeldein-Weg, der oft drohte, durch Nicht-Zugehörigkeit in Sackgassen stecken zu bleiben. Ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen wurde ich, mal mit beiden Beinen in der Biologie, dann wieder zurück in der Psychologie, mit Abstechern in die Anthropologie und sogar Flirts mit der Philosophie. Ich wusste mit zwanzig nicht, was ich werden wollte. Ich ging einfach los: aufgeschlossen, wissbegierig, und ließ mich ein auf Tiere, Fragestellungen und Diskussionspartner, die mir begegneten.

Am Affenberg Salem hatte ich als Verhaltensforscher das Paradies auf Erden gefunden. Meine Aufgabe war es, den ganzen Tag unter Berberaffen zu verbringen und zu beobachten und aufzuzeichnen, was sie taten. Ich durfte nicht mit ihnen interagieren, sie in keiner Weise beeinflussen. Ich musste praktisch zum Baum werden. Als Ethologe führt man ein seltsames Leben, wie ein Völkerkundler vielleicht oder ein Reporter: Man ist immer dabei, nimmt aber nicht teil. Man bleibt ein Außenseiter, obschon man seine Umwelt mit offenen Poren aufnimmt, förmlich einsaugt. Idealerweise ist man unvoreingenommen, urteilt nicht und ist vollkommen gleichmütig. Um ein guter Beobachter zu werden, muss man sich zunehmend seiner Gedanken bewusst werden. Man hat natürlich weiterhin Gedanken, Ideen, Interpretationen, Gefühle – Amüsiertheit, Empörung, Mitleid –, aber man wird sich ihrer bewusster und lernt sie als Arbeitshypothesen zu betrachten – und jederzeit wieder über Bord zu werfen. Es ist eine Haltung neugieriger Bescheidenheit. Ein gläsernes Bewusstsein, bei dem man fortwährend das Glas sauber hält und weiterpoliert. Und irgendwann ist einem etwas zugewachsen, da fühlt man tief innen, wie es sein muss, ein Berberaffe zu sein.

Es kam der Moment, wo ich vorhersagen konnte, was gleich zwischen ihnen geschehen würde. Ich erinnere mich an einen kalten Wintertag. Seit dem Morgengrauen war ich im Freigehege am Bodensee Berberaffen gefolgt und hatte sie beobachtet. Nun wurde es Abend und sie bezogen allmählich, mit der üblichen Unruhe und den sozialen Regelverstößen im Schutze der Dämmerung, ihre Schlafbäume. Ich war steif und kalt und voll von Affenbildern und sagte innerlich zu ihnen: „Okay Leute, jetzt könnt ihr eure Kapuzen abstreifen, ich kenn euch ja eh.“ Über mich selbst verblüfft, fühlte ich das Grinsen in meinem kalten Gesicht. Ich hatte ernsthaft, für einen Augenblick lang, erwartet, dass sie nun ihre Fellkapuzen zurückstreifen und mir ihre menschlichen Gesichter darunter offenbaren würden. Wie eine Frau, die man nur mit Jilbab kennt und eines Tages bei sich zu Hause mit offenem Haar sieht. Jahre später las ich eine buddhistische Anweisung: Wer Bambus zeichnen möchte, muss Bambus werden.

Nach meinem Postdoc in den USA wollte ich endlich Feldforschung betreiben, am liebsten in Uganda. Ich war bereits dort gewesen, hatte an der Seite von David Watts wilde Schimpansen der Ngogo-Gruppe beobachtet. Ein Traum würde sich erfüllen. Da kam, 2001, ein Anruf aus Österreich. 46 ehemalige Labor-Schimpansen sollten pensioniert werden. Ich sei als Spezialist für Sozialverhalten und Schimpansen empfohlen worden. Diese Schimpansen müssten resozialisiert werden, denn sie seien seit den 1970ern in Einzelhaft gehalten worden. In der Presse sei zu lesen, dass es menschlicher wäre, diese „AIDS-Affen“ zu euthanasieren. Sie seien zu geschädigt, sie würden einander umbringen, hieß es. Es ist nicht leicht, Schmeicheleien zu widerstehen, noch schwerer, einen Hilferuf zurückzuweisen. Ich ließ mich auf ein Vorstellungsgespräch ein – zwischen mir und den Labor-Schimpansen, noch in ihren Einzelkäfigen im Labor. Sie überzeugten mich mit ihrer offenkundigen Entschlossenheit, jede Chance auf ein besseres Leben, auf Freundschaft zu erhaschen und auch zu nutzen.

Es war wohl etwas naiv zu glauben, ich könne ein, zwei Jahre erübrigen und den Affen etwas zurückgeben, Gutes tun und dann wieder mein Leben als Wissenschaftler aufnehmen. Wir übersiedelten die Schimpansen und begannen geduldig, mit kontrollierten Zweierbegegnungen, sie miteinander bekannt zu machen. Atemberaubend war, wie sie mitarbeiteten. Wir verbrachten Tage in größter Konzentration, immer wieder blieb einem schier das Herz stehen und klopfte zugleich wild in der Kehle. Wir sahen Begegnungen – so rührend, dass uns die Tränen herunterliefen. Wie bei der Maueröffnung in Berlin oder in Korea. Es gelang uns, praktisch ohne größere Verletzungen nahezu alle Schimpansen in Gruppen zu integrieren. Dann geriet das Projekt in Konkurs. Fünf Jahre arbeiteten wir weiter, mit vollkommen ungewisser Zukunft und in einem oft feindseligen Umfeld. So ein Projekt ist sehr teuer, es ist der Unterhalt der Schimpansen, der so kostspielig ist. Sie können über 50 Jahre alt werden. Damals waren sie zwischen 20 und 30 Jahre. Im sechsten Jahr wurde ich gefeuert, man brauche mich nicht mehr, die Resozialisierung sei abgeschlossen. Ich machte mir entsetzliche Sorgen, wie es mit den Schimpansen weitergehen würde, sie waren noch so fragil und hatten noch einen Menge zu lernen. Mir war nur allzu bewusst, dass immer wieder über ihre Euthanasie nachgedacht wurde, ob „man“ das in der Öffentlichkeit durchstehen würde. Ich konnte kaum glauben, dass mitten in Europa im 21. Jahrhundert derart barbarische Überlegungen angestellt wurden. Doch es war wahr. An einem Frühlingstag, als draußen die Linden blühten, wurde ich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass alle Schimpansen getötet werden könnten. Meine Patienten, die vor Jahrzehnten als Kinder ihren Müttern und ihrer afrikanischen Heimat entrissen worden waren, um in geistzerrüttender Einsamkeit in der Impfstoffforschung ausgeliefert zu dienen, die erlebt hatten, wie ihre Nachbarn dabei zugrunde gingen, die Jahrzehnte in Angst und ungekannten Sehnsüchten verbracht und endlich ein eigenes Leben, ein wenig Selbstverantwortlichkeit und Freunde gefunden hatten. Ich fragte mich, ob es nicht humaner wäre, wenn wir sie heimtückisch selber töteten, ohne dass sie es kommen sähen, anstatt sie von einer einmarschierenden Gewalt schießen oder gefangen nehmen zu lassen.

Diese Erfahrung hat mich verändert. Der Duft von Linden ist heute intensiver und zugleich irreal. Es war eine gute Vorbereitung auf die Arbeit in einem Menschenaffenheimatland: Und keiner werfe den ersten Stein! Es war auch eine Lektion im Loslassen. Wieder einmal. Lieben ohne Festhalten. Ohne Liebe kein Einfühlen. Nur mit Einfühlung kann man Affen verstehen. Verstehen aus Freude an ihrer bloßen Existenz oder Verstehen, um ihnen zu helfen. Die Arbeitsweise des Verhaltensbeobachters mit ihrer offenen Wachheit und Zugewandtheit, mit dem Sich-selbst-Zurücknehmen ist eine exzellente Vorbereitung auf die Arbeit als Affen-Therapeut oder Affen-Kinderpsychologe. Zöglinge und Patienten darf man nicht festhalten, nicht brauchen, keine Gegenliebe erwarten. Aber sie lieben einen zurück! Und das ist eine große Versuchung, der man niemals erliegen darf. Jede Art von egoistischer, besitzergreifender Liebe ist ein Vorstoß gegen ihre Interessen. Und nun bin ich hier: rehabilitiere Orang-Utan-Waisen, damit sie wieder in Freiheit leben können.

Mit diesem Buch möchte ich meinen Lesern diese Anderswelten öffnen, die hier so mitten unter uns sind. Dort, wo es still ist, in den Zwischenräumen. Ich habe das unglaubliche Privileg, mit Affen Umgang zu haben, sogar zaunlosen, aber nicht ohne Grenzen. Dieses Buch soll eine Brücke sein, die ermöglicht, diejenigen besser zu verstehen, die uns so ähnlich sind und doch ganz sie selbst.

Im ersten Kapitel berichte ich über die Familienbeziehungen unter den Menschenaffen. Ich stelle die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede dar, vor allem im Sozialverhalten und im Fortpflanzungssystem, und bemühe mich, den Blick zu schärfen für die feinen, doch wichtigen Unterschiede, die trotz der gemeinsamen Evolution zwischen den verschiedenen Menschenaffen – von denen wir Menschen ja nur einer sind – bestehen.

Kapitel zwei handelt von der drohenden Ausrottung unserer Verwandten durch die wirtschaftliche Entwicklung ihres menschlichen Cousins. Da ist es schwer, nicht alle Hoffnung zu verlieren. Meine Probeleser fanden mich in diesem Kapitel „abwesend“. Aber darstellen musste ich diese komplexen Tatsachen doch.

Optimistischer ist das dritte Kapitel, in welchem ich von Menschen berichte, die einfach helfen und versuchen, das Unrecht wieder aus der Welt zu schaffen, das Angehörige unserer Art – die ja zur Moral befähigt ist – begangen haben. Und zwar indem sie Tierwaisenkinder retteten, aufzogen und wieder in die Freiheit entlassen wollten.

Damit das aber gelingen kann, müssen diese Waisen rehabilitiert werden, also das lernen, was ihnen normalerweise ihre Mutter beigebracht hätte. Das ist schon bei stärker von Instinkten gesteuerten Tieren wie Katzen nicht einfach, aber bei lernbedürftigen, psychisch komplexen Menschenaffen muss man sich schon mit dem Lebenszyklus und der normalen Kindesentwicklung befassen, damit man versteht, was bei Waisen falsch laufen kann. Hier begegnen wie erneut dem Spiegelkabinett der Ähnlichkeiten unter den Menschenaffen und erfahren, wie wichtig es ist, dass wir unsere Vettern nicht auf einen falschen, einen zu menschlichen Weg locken, auf dem sie unweigerlich in eine Sackgasse geraten werden.

Welche Fortschritte im Laufe der Jahre mit den Rehabilitierungs- und Wiederauswilderungsprogrammen für Orang-Utans gemacht wurden, schildere ich im fünften Kapitel. Wenn vollkommen unabhängige Projekte die gleichen Probleme entwickeln, lohnt es sich, genauer hinzusehen und sich nicht mit Besserwisserei aufzuhalten. Ich beschreibe in diesem Abschnitt auch, wie bedrückend sich die Habitatzerstörung auf das Leben von einzelnen bereits geretteten Orang-Utans auswirkt und wie wir fortlaufend daran arbeiten, die Versorgung und Betreuung der Menschenaffen zu verbessern.

Die Diskrepanz zwischen der Situation in den Menschenaffenheimatländern mit der Anonymität des Genozids und der in den reichen Ländern, wo die Gefangenschaftsbedingungen von Einzelnen zunehmend thematisiert wird, ist Thema des sechsten Kapitels. Sind Menschenaffen Personen? Seit wann werden fremdartige Menschen als Personen betrachtet? Wenn Menschenaffen als Personen zu behandeln sind, was folgt dann daraus in der Praxis?

Im letzten Kapitel bemühe ich mich, den Begriff des „Vermenschlicht-Seins“ zu entwirren und versuche mich an einer Menschenaffen-Pädagogik. Ich führe Erkenntnisse aus der Gefangenschaftshaltung von Menschenaffen in Versuchslabors oder Zoos mit den Praktiken in Rehabilitierungsprogrammen zusammen und halte ein Plädoyer dafür, dass der Tiertherapeut im Einklang mit evolutionär entstandenen Neigungen weiter kommt, als wenn er – und sei es aus Versehen – gegen sie arbeitet.

Alle Kapitel sind von konkreten Beispielen eingerahmt, mit denen ich das Erklärte illustrieren und einfach auch einen Geschmack vermitteln möchte, wie sich diese Art Arbeit anfühlt und wer mir dabei so alles begegnet ist. Bewusst lasse ich den Leser dabei durch meine Augen sehen und bemühe mich nicht um eine vollkommen objektive Darstellung. Die Malerei, so sagte Picasso, ist eine Lüge, mit der man die Wahrheit erzählt. Ich bin bei der Wahrheit geblieben, bekenne mich aber klar zur Subjektivität. Insofern ist dieses Buch zwar in der Wissenschaft gegründet, zeigt aber eher dieses Wissen in Aktion, als Werkzeug in meiner Hand. Eine andere Hand wird dieses Werkzeug anders gebrauchen.

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BEGEGNUNG MIT DEM WALD

Drei Monate waren vergangen, als ich während der Fastenzeit Ramadan in den Wald zurückkehrte. Im Frühjahr 2012 hatten wir in Kehje Sewen, dem Auswilderungsgebiet der BOS Foundation, sechs Orang-Utans freigelassen: vier Weibchen – Lesan, Casey, Berlian und Abbie, und zwei Burschen – Mail und Hamzah. Ich war ungeheuer neugierig, wie die Orang-Utans und ihre Betreuer sich in der Wildnis eingerichtet hatten. Unsere Partnerorganisation BOSF hatte die Regeln für das Beobachten der Orang-Utans (PRM) geändert: Die frisch ausgewilderten Orang-Utans sollten nun nur noch alle zwei Wochen zwei bis drei Tage lang ganztägig beobachtet werden. Dazwischen sollten die Orang-Utan-Hüter nur von den in den Wald geschlagenen Pfaden aus versuchen, sie zu lokalisieren. Meine Sorge war, dass sich unsere Neuankömmlinge außerhalb dieses Gebiets herumtreiben und verlorengehen könnten, wenn wir ihnen nicht auf den Fersen blieben. Andererseits bestand die Gefahr, dass sie sich zu eng an die Beobachter anschließen würden, wenn sie diese jeden Tag um sich hätten. Die intensive Beobachtung ist natürlich teurer, aber hierfür hatte mein Arbeitgeber, die Tierschutzorganisation Vier Pfoten, bereits die Verantwortung übernommen – es lag also an uns, das in der Praxis bestmöglich zu organisieren.

Trotz des Fastens hatten die inzwischen schon etwas versierteren Orang-Utan-Hüter weiter Orang-Utans geortet und bis zu den Feiertagen am Ende des Ramadan hatte ich bereits Casey und Berlian beobachtet. Wir begingen Eid al-Fitr, das Fastenbrechen, im Urwald mit einem Festschmaus, sauberen Kleidern und einem Berg von Plätzchen, die wir geschenkt bekommen hatten. Am Tag danach waren, leicht verspätet, mit einen Mal Hamzah und Mail eingetroffen, als wollten auch sie die Feiertage im Kreise der Familie verbringen, obwohl sie nun schon „aus dem Haus“ waren und in der Ferne herumstreiften. Was mir nun noch fehlte, war eine Begegnung mit Abbie, die in den ersten Tagen direkt nach ihrer Auswilderung verschwunden war und nie wieder gefunden wurde, so wie Lesan.

Ich beschließe, die anderen nicht in ihrer Feiertagslaune zu stören und breche kurz nach neun Uhr morgens auf, allein, aber zuversichtlich. Nachdem ich das Empfangsgerät zusammengesetzt habe, lausche ich auf Telemetrie-Signale unserer Orang-Utans. Jeder hat seine eigene individuelle Frequenz. Aha. Mail ist wieder unten am Fluss, aber weiter entfernt als gestern. Hamzah ist noch auf dem Berg, wo Tyo ihn gestern verlassen hat. Es drängt mich, ihn noch einmal zu besuchen, aber ich möchte Lesan sehen. Kein Signal von Abbie. Ich lasse das Gerät im Empfangsmodus und gehe weiter. Nach einer Weile habe ich gar keine Signale mehr. Dann ein Signal von Berlian. In der kleinen Lichtung am Ufer des Flüsschens Belah empfange ich immer noch Berlians Signal und jetzt, ziemlich deutlich, das von Lesan. Es kommt von links, wo der Belah in den größeren Telen mündet. Ich kämpfe mich durch das Unterholz und finde mich an einem Steilhang wieder, dem linken Ufer des tief eingeschnittenen Flüsschens Belah. Das Gelände hier ist sehr felsig und extrem glitschig.

Wie soll ich bloß diesen steilen Abhang runterkommen? Schwierig, selbst wenn ich es schaffte, wie würde ich dann wieder hochkommen? Bei Regengüssen schwellen die Flüsse hier in kürzester Zeit enorm an. Umkehren? Ich finde eine Furt und versuche, am anderen Ufer aufzusteigen. Es ist ebenso steil und – wenn überhaupt möglich – noch dichter bewachsen. Also zurück auf die Kuppe. Heute bin ich müde. Ich setze mich auf eine einladend verzwirbelte Kletterfeige, hänge die Antenne über mir ins Gewirr und lasse den Empfänger an, um Lesans Signale hören zu können. Dann trinke ich fast mein gesamtes Wasser. Zum Essen habe ich etwas Knäckebrot mit Plastikkäse (den ich normalerweise nicht anrühre) und ein paar Datteln. Nach einer kurzen Pause nehme ich die Suche erneut auf. Ich bewege mich sparsam und nutze meine Sinne und mein Hirn mehr als früher. Immer wieder setze ich mich hin und lausche, achte auf verräterische Bewegungen in den Baumkronen oder herabfallendes Geäst. Am Boden suche ich nach Obstschalen oder massakrierten Rattan- und Ingwerpflanzen. Erst gestern waren wir gedankenlos an durchgekauten Ingwerfasern auf der Straße vorbeigegangen, bis wir die Signale von Hamzah und Mail empfingen. Aber von Lesan ist nichts zu hören oder zu sehen.

Ich bemerke Schnittspuren von Buschmessern. Baumstämme sind mit Lianen zusammengebunden. Jäger, befürchte ich. Ich halte an, drehe mich mit erhobener Antenne langsam und spitze die Ohren, um Unterschiede in der Signalstärke auszumachen. Ich kann mich kaum entscheiden, ob der Signalton voraus stärker ist oder eher der von rechts kommende. Am Ende des Hangrückens steige ich ein paar Meter ab, halte inne und lausche wieder. Doch wie ich so dasitze, entströmt dem Tal eine Freundlichkeit. Einladend. Ich entdecke einen toten Baum, über und über bedeckt von weißen und dunkelbraunen Pilzen, wunderschön! Und mit einem Mal öffnet sich mir das Tal, heißt mich willkommen und der Abstieg entrollt sich vor mir wie im Märchen. Das Gehen wird mir leicht und mühelos. Unten umschmeichelt der erdige Duft des sungai belah meine Nase.

Das Signal scheint von der anderen Bachseite zu kommen. Als ich den Bach überquert habe, scheint das Signal wiederum von der Gegenseite zu kommen. Ich bin verunsichert und blicke zurück. Moosbedeckte Felsen säumen den Fluss. Wie so oft, muss ich dem Fluss einfach folgen, wenigstens bis zur nächsten Biegung. Dort weitet sich das Bett zu einem stillen Becken, wie ein See. Ich klettere über Felsen und finde eine regelrechte Klamm, durch die das Wasser sich wild brodelnd ergießt. Aufregend. Von der Wand muss vor kurzem ein riesiger Felsbrocken abgebrochen sein, doch er ist nirgends zu sehen. Plötzlich kommt mir dieser Ort trotz des hellen Sonnenlichts unheimlich vor. Ein paar Schritte und ich sehe flussaufwärts die Felsen den Fluss einfangen wie ein Trichter und in die Klamm zwängen. Entzückt filme ich das wild durch die Schlucht sprudelnde Wasser, wie es flussab glitzernd in das Becken strömt und hüpfend in eine von Blättern beschattete sonnengesprenkelte Ferne enteilt.

Verzaubert drehe ich mich um und sehe hinter mir die kleine Rattanpalme. Sie hat einige Triebe an einen Orang-Utan verloren. Ha! Mein Herz schlägt schneller. Dann sehe ich die Blätter. Im Schoß des Ufers, geschützt durch einen Felsen, sind frische grüne Blätter ausgelegt. Zehn Zentimeter über dem Wasserspiegel des Beckens bilden sie einen kreisförmigen Platz. Was für ein zauberhaftes Plätzchen. Ich sehe die nackten Stängel, von denen ein Orang-Utan mit einer Handbewegung alle Blätter abgestreift hat. Mein Herz scheint zu schweben. Ich freue mich darauf, diejenige wieder zu treffen, die die Schönheit dieses Ortes zu genießen weiß. Haben Orang-Utans ein Empfinden für die Reize einer Landschaft? Ich wüsste wirklich keinen anderen Grund, warum jemand sonst an dieser Stelle einen Sitz zum gemütlichen Verweilen geschaffen haben sollte. Sicher nicht, nur um einen kleinen Rattanschössling zu ernten.

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ROTHAARIGE VETTERN

Schon immer haben mich Vergleiche zwischen Tierarten fasziniert. Wenn man nahe verwandte Arten vergleicht, erlebt man immer wieder ein gewisses belustigtes Staunen: Ah! Ja klar, so kann man das natürlich auch machen. Variationen über ein Thema. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie es kommt, dass wir manchmal lächeln, ohne das kleinste bisschen amüsiert zu sein? In „Taxi Driver“ gibt es diese Szene, wo Travis, grandios dargestellt von Robert de Niro, in seinem Taxi sitzend von Gangstern bedroht wird. Er grinst beschwichtigend und macht sich schnellstens davon.

Wenn Sie das Foto betrachten, wo ich mich mit dem Orang-Utan-Kind über Nasenformen austausche, dann sehen Sie Lächelfältchen um die Mundwinkel des Orang-Utans. Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich mich mit der Evolution von Lachen und Lächeln beschäftigt. Man wusste damals bereits, dass auch andere Affen als nur Menschenaffen diese Gesichtsausdrücke verwenden. Wichtig für unsere Überlegungen zur Aufzucht von Orang-Utan-Waisen durch Menschen ist zu wissen, dass, was denselben Ursprung hat, nicht zwangsläufig bei verschiedenen Affen auch dieselbe Bedeutung hat. Beispielsweise haben alle Makaken ein Lächeln in ihrem Verhaltensrepertoire, aber dieses homologe Signal hat bei verschiedenen Makaken-Arten unterschiedliche Bedeutung. Bei einigen ist es ein Ausdruck purer Höflichkeit und kann auch zur Beschwichtigung eingesetzt werden. Aber bei anderen Arten drückt es freundliche Gesinnung aus und wird zum Beispiel gern von Älteren gegenüber Kleinkindern und Babys verwendet. Makaken unterschiedlicher Arten, die miteinander in einer Gruppe aufwuchsen, können lernen, einander zu verstehen und zu mögen – wie Katzen und Hunde –, aber sie behalten ihre eigene „Sprache“ bei und lächeln nur in Situationen, in denen alle ihre Artgenossen ebenfalls lächeln, nicht in denen, in denen ihre artfremden Freunde lächeln. Wir müssen also vorsichtig sein, wenn wir Vertrautes, ja sogar gemeinsames stammesgeschichtliches Erbe in anderen Menschenaffen wiedererkennen. Es ist gleich, das stimmt – aber ist es in allen Einzelheiten dasselbe? Wenn es aber nicht dasselbe ist, kann das zu schlimmen Missverständnissen führen. In der Sprache der Stammesgeschichtler nennt man so etwas parallele Entwicklungen.

Warum Menschen zuweilen lächeln, obwohl sie total verschreckt sind, lässt sich aus der Evolutionsgeschichte verstehen: Das Lächeln begann seine Karriere als Signal vermutlich damit, dass es eine Vorbereitung aufs Schreien war. Man öffnet schon mal den Mund und zieht die Mundwinkel und Lippen zurück, gibt aber noch nicht Laut. In die Enge getrieben, schrie unser Vorfahre angstvoll und das zeigte seinem Feind, dass er es gut sein lassen konnte. Die Einschüchterung war gelungen. Über Generationen hat es gereicht, nur zum Schreien anzusetzen und der Gegner konnte sich gewiss sein, dass der, der eben die Zähne stumm entblößt hatte, klein beigeben würde. Von da ist es nicht mehr weit zu einer Geste der Unterwerfung, des höflichen „Bitte nach Ihnen“. Nur bei Arten, bei denen Hierarchie keine alles überragende Bedeutung hatte, emanzipierte sich das Lächeln von einem Zeichen sozialer Verbindlichkeit zu einem Ausdruck sozialer Verbundenheit. Solche Arten findet man auf unterschiedlichem stammesgeschichtlichem Niveau, unter den Sulawesi-Makaken zum Beispiel, und unsere Vorfahren haben offensichtlich auch dazugehört. Wir haben unseren Hang zum Despotismus wohl erst mit dem Übergang zur Vorratswirtschaft entwickelt, wohingegen die Jäger-Sammler-Völker noch sehr egalitär gelebt haben dürften.

Durch Artenvergleiche wird also verständlich, warum Robert de Niro Gangster anlächelt, obwohl er Furcht, nicht Belustigung empfindet. Man kann aus der Vergangenheit sehr viel Gegenwärtiges erklären. Zu wissen, wie es zu etwas gekommen ist, schafft neue Dimensionen von Verständnis und Einsicht. Anekdoten und Erlebnisberichte über das Leben aus dem Urwald sind vielleicht kurzweilig, für ein tieferes Verständnis jedoch, das über das oberflächlich Bizarre, Andersartige oder das Abenteuerliche hinausgeht, ist es hilfreich zu wissen, wie wir uns entwickelt haben. Ich möchte Sie daher zuerst auf eine Zeitreise mitnehmen und Sie dabei mit der Lebensweise unserer behaarten Vettern bekannt machen.

Die Stammeslinie der Menschenaffen (Hominide) lässt sich bis ins Miozän, also in die Epoche vor ca. 23–5 Millionen Jahren, zurückverfolgen. Mit dem Untergang der Saurier als beherrschender Ordnung begann die Auffächerung der Säugetiere. Insektenesser wie die heutigen Spitzhörnchen (Tupaia) waren vermutlich die Vorfahren der Affen, wissenschaftlich Primaten genannt. Die heute lebenden sogenannten Halbaffen stellen den urtümlichsten Typus von Primaten dar. Halbaffen haben einen feuchten Nasenspiegel, wie wir ihn von unsren Haustieren kennen. Diese unbehaarte, mit Schleimhaut überzogene Nasenspitze transportiert Geruchsstoffe auf direktem Wege vom Jacobsonschen Organ ins Gehirn. Geruch und Geschmack sind entsprechend wichtige Informationsquellen für Tiere mit feuchtem Nasenspiegel. Eine bemerkenswerte Stellung nehmen die Tarsier ein. Sie zählen zu den Halbaffen, haben aber eine normale, außen trockene Affennase. Wie wir.

Es ist ein weiter Weg von diesen altertümlichen Affenformen bis hin zu den heutigen Menschenaffen. Zeugnisse von deren Existenz finden wir vor allem in Form von Zähnen. Aus diesen kann man auf die Köpergröße dieser Menschenaffen und auf ihre Ernährungsgewohnheiten schließen. Die meisten Affenarten ernähren sich vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich, vegetarisch. Die Menschenaffen des Miozäns hatten überaus harten Zahnschmelz, der es ihnen ermöglichte, harte oder zähe Nahrung zu sich zu nehmen. Sie haben alle über 10 Kilo gewogen, waren also schon relativ groß, die meisten werden um die 30 Kilo geschätzt. Von der Körpergestalt her kann man aus wenigen Fragmenten ableiten, dass sie wohl eher noch wie normale „Tieraffen“ gebaut waren, also mit etwa gleich langen Armen und Beinen, wenn auch schon ohne Schwanz.

Evolution der Menschenaffen

Die Wiege der Menschenaffen stand zweifellos in Afrika, doch bereits vor 13–9 Millionen Jahren hatten sich verschiedene Menschenaffenarten im zunächst noch subtropischen Europa über den Mittelmeerraum bis hin nach Asien verbreitet. Allmählich setzte allerdings eine Abkühlung des europäischen Klimas ein, die subtropischen Wälder verschwanden und ein stärker durch Jahreszeiten bestimmtes Klima mit laubwerfenden Bäumen setzte ein. Viele dieser miozänen Menschenaffenarten, wie auch viele andere Tiere, konnten sich nicht anpassen. Eine Ausnahme war Ouranopithecus, den wir vielleicht lieber Urahnopithecus nennen sollten, denn er war wahrscheinlich einer unserer direkten Vorfahren, einer, den wir noch mit den heutigen afrikanischen Menschenaffen teilen, nicht aber mit den Orang-Utans.

Orang-Utans waren die ersten großen Menschenaffen, die eigene Wege gegangen sind. Ihre Stammeslinie, die der Pongiden, hat sich von der der afrikanischen Menschenaffen (Mensch, Schimpanse, Gorilla) vor etwa 14 Millionen Jahren getrennt, das bedeutet: Menschen sind Menschenaffen. Neuere genetische Untersuchungen deuten darauf hin, dass das auch weniger lange her sein könnte. Demnach hätten sich die Linien der heutigen Orang-Utans und der afrikanischen Menschenaffen erst vor 10 Millionen Jahren getrennt, Gorillas und Schimpansen-artige vor 5 Millionen und Menschen und Schimpansen vor etwa 3 Millionen Jahren. Fossilienfunde weisen darauf hin, dass sich die Stammeslinie der Schimpansenartigen vor nicht mehr als 5 Millionen Jahren in (Vor-)Menschen und die Vorfahren der heutigen Schimpansen (Bonobos und „gewöhnliche“ Schimpansen) aufgespalten hat. Man darf sich diese Früh-Menschen durchaus schimpansenhaft vorstellen. Zahlreiche Ähnlichkeiten, nicht nur in Hinblick auf die Körpergestalt, die Genetik und die Physiologie, sondern vor allem auch in Bezug auf Sozialverhalten und Psyche weisen auf diese enge Verwandtschaft hin.

Wenn wir nun Menschen, Schimpansen und Orang-Utans vergleichen, zeigen sich interessante Unterschiede, aber auch viele wichtige Gemeinsamkeiten. Besonderheiten aller Menschenaffen und Besonderheiten, die von Schimpansen und Orang-Utans gegenüber anderen Affenarten geteilt werden, sind sehr wahrscheinlich Merkmale, die bereits den gemeinsamen Vorfahren aller Menschenaffen kennzeichneten (homologe Merkmale, Synapomorphien).

Stammesgeschichtliche Gemeinsamkeiten der großen Menschenaffen: Schwerpunkt Verhalten

Alle nicht-menschlichen Menschenaffen haben, relativ zur Körperlänge und relativ zu ihren Beinen, sehr lange Arme. Hier sind also Menschen mit ihren überlangen Beinen die Ausnahme. Das hat natürlich mit der Spezialisierung auf zweibeiniges Gehen zu tun. Aber auch die anderen Menschenaffen, Gibbons eingeschlossen, gehen gern einmal zweibeinig, besonders wenn sie etwas tragen. Dazu benutzen sie ihre Hände. Sobald sie ruhen, halten sie den Oberkörper aufrecht: Sie sitzen und hantieren, sie mani-pulieren. Menschenaffen haben praktisch das gleiche Sehvermögen wie Menschen – nur besser. Ebenso verhält es sich mit den anderen Sinnen. Und wie bei uns ist auch bei ihnen das Sehen gegenüber dem Riechen klar dominant. In puncto Intelligenzleistungen scheinen Orang-Utans den Schimpansen eher überlegen zu sein. Aber das könnte auch an der größeren Gelassenheit der Orang-Utans liegen.

Wenn man einem Menschenaffen ins Gesicht schaut, so fällt vor allem der vorspringende Kiefer auf. Im Profil kann man sehen, dass ihr Ober- und Unterkiefer gegenüber den Augen vorragt – wissenschaftlich „prognath“. Die Schneidezähne eines Orang-Utans sind mindestens zweimal so groß wie unsere! Das ist eine direkte Auswirkung der Nahrungsqualität, denn die Menschenaffen sind auf sehr faserige Nahrung angewiesen, die hohe Beißkräfte erfordert. Menschen hingegen haben mit dem Garen der Nahrung über Feuer eine Möglichkeit geschaffen, auch extrem faserige Nahrung ohne viel Kauaufwand zu erschließen.

Was wir zunächst bemerken – die vorspringenden Kiefer –, scheint nicht dasselbe zu sein, was umgekehrt Affen an unseren Gesichtern auffällt. Immer wieder, wenn ich mit Affen eine gewisse Vertrautheit entwickelt hatte und Berührungen im Gesicht zugelassen habe, fanden sie zwei Aspekte untersuchenswert: meine Augenbrauen und meine Nase. Es war, als wollten sie genau feststellen, ob die wirklich zu meinem Gesicht gehören, oder ob man die irgendwie wegnehmen kann. Unsere vorspringenden Nasen und akzentuierenden Augenbrauen sind tatsächlich eigenartig. Ich finde das interessant, weil ihre Untersuchung meiner Nasenlöcher, Augen, Wimpern und Zähne keinen Zweifel daran gelassen hat, dass sie wissen, was sie da untersuchen – sie haben sie so berührt wie bei einem Artgenossen. Es scheint also, dass Affen – hier spreche ich von Makaken und Menschenaffen – auch „homologisieren“ und die abweichenden Körpermerkmale besonders faszinierend finden.

Wie Schimpansen sind Menschen männerbündlerisch. Die Männer sind standorttreu und verteidigen ein weiträumiges Streifgebiet („Vaterland“). Die soziale Zugehörigkeit bleibt stabil, auch wenn die Mitglieder der Gemeinschaft selten täglich von morgens bis abends zusammen sind. Kooperation auch unter Nicht-Verwandten ist möglich, aber Fremdenfeindlichkeit ausgeprägt. Schimpansen gehen gemeinsam auf die Jagd – und zwar keineswegs, um die Grundernährung sicherzustellen, sondern als Gruppenunternehmung mit Unterhaltungscharakter. Männerbanden durchstreifen die Gegend und es kann zu regelrechten Bandenkriegen kommen, die in Mord und Totschlag münden können. Nicht nur Angehörige anderer Gruppen werden von Männerbanden aufs Korn genommen, sondern auch Weibchen und Außenseiter. Sexuelle Zwangsmaßnahmen sind häufig und Kindsmorde keine Seltenheit.