image

Roland Düringer — MEINE STIMME G!LT

Glauben Sie nichts! Glauben Sie nichts von dem, was Sie hören, lesen oder sehen. Glauben Sie auch nichts von dem, was in diesem Buch steht. Es ist nur das, was ich mir so denke – nicht mehr und nicht weniger …

… und: Glauben Sie nichts von dem, was Sie denken, es ist nur das, was Sie denken.

Roland Düringer

MEINE STIMME
G!LT

Und Deine …?

image

INHALT

Herr Düringer geht in die Politik

Die Gesichter

Eine Idee, viele Fragen, wenige Antworten und eine Möglichkeit von Abertausenden

Der Politikberater

Wie entkommt man einer eigenen Meinung

Ehrlich währt am längsten

Was ist „Gilt!“?

Herr Düringer ist unwählbar!

Der Provinzpolitiker mischt sich ein

Menschenversteher

Politik, eine Möglichkeit für alles Mögliche

Tatort Hypo

Herr Düringer war schon in der Politik

Wir sind das Fieber

In Wien 1963 als Lottosieger geboren

Rauben und Plündern war immer schon einfacher

Jetzt nur keine Panik

Die Treue der Wähler

Scheißt euch nicht so viel an!

Was ist da der Skandal?

Herr Düringer ist gefährlich!

Der Politiker und seine Presse oder die Presse und ihre Politiker?

Pressekonferenz ohne Presse

Herr Düringer ist nominiert

Verschwörungspraktiker

Wer ist Franzi Bote?

Haben sie Kinder?

Gute Gründe, eine Partei zu wählen

Rollen und Besetzung

Die anderen reden darüber, was geändert gehört – wir aber sind es!

Grün, Blau oder doch Türkis

Letzte Frage: Gibts noch Fragen?

Die Gesichter

Anmerkungen

HERR DÜRINGER GEHT IN DIE POLITIK

Warum macht er das? Weil er das macht, was er schon immer gemacht hat. Um auf der Bühne über die Zustände im Bundesheer berichten zu können, verweigerte er den bequemen Zivildienst und rückte als Wehrmann in Kaisersteinbruch ein. Um über die Leiden der heimischen Häuslbauer zu erzählen, renovierte er mit eigenen Händen ein Haus im Grünen und machte Baustelle und Baumärkte zu seiner zweiten Heimat. Um die selbstauferlegten Qualen der Freizeitsportler zu verstehen, stählte er seinen Körper zwei Jahre lang im Fitnessstudio und sorgte bei der Premiere für eine optische Überraschung. Um die Beziehung zwischen Mensch und Automobil zu durchleuchten, lebte er unter wilden Autos und lernte deren Sprache. Um eine Gartenserie zu moderieren, übersiedelte er in den Garten und produziert seitdem einen Teil seiner Lebensmittel selbst.

Ja und nun? Nun geht er einmal kurz in die Politik, um gemeinsam mit seinen Leserinnen und Lesern einen kritischen Blick auf die politische Kultur dieses Landes zu werfen. So hat er das eben immer gemacht, der Düringer: Entweder ganz oder gar nicht.

Sich damit zufrieden zu geben, von der Bühne herab über die unfähigen Politiker zu schimpfen, diese beim Namen zu nennen und persönlich lächerlich zu machen, dafür Applaus zu ernten, ohne jemals selbst dabei gewesen zu sein, ohne einmal das politische Tagesgeschäft am eigenen Leib erfahren zu haben, wäre ihm zu wenig. Darum hat er es dreißig Jahre vermieden, auf der Bühne Politiker namentlich in den Mund zu nehmen, zu zerkauen und wieder auszuspucken. 30 Jahre Gnade müssen aber reichen!

Herr Düringer geht aber nicht alleine in die Politik. Das wäre langweilig. Freilich könnte er es sich leicht machen, sich als prominenter Quereinsteiger einer Partei anschließen, um andere Parteien zu bekämpfen und auf einen Versorgungsposten im politischen Umfeld hoffen. Aber es sich leicht zu machen, wäre Herrn Düringer auch hier zu wenig. Das macht keinen wirklichen Spaß, dabei hätte er kein gutes Gefühl. Schöner wäre es doch, wenn man andere auf die Reise in die Politik mitnimmt und ihnen eine Möglichkeit anbietet, sich aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen, sich endlich wieder einzumischen und die Entscheidungen „derer da oben“ nicht einfach nur hinzunehmen. Ist es nicht eine sinnvolle Aufgabe, die Bürgerinnen und Bürger wieder zurück in das Selbstverständnis des Staates zu holen und den Versuch zu wagen, den ungültigen Stimmen der Weiß-, Nicht- und Protestwähler eine gültige Stimme zu geben?

DIE GESICHTER

Dort, wo der Wienerwald endet und das Mostviertel beginnt, sind wir daheim. Meine Frau, meine Tochter und ich. Auf einem Hügel, rund um uns Gegend. Ackerland, Wiesen, Weiden, Büsche, Wald. Es ist nicht der Ort, wo ich geboren wurde, es ist meine Wahlheimat und die meiner Frau. Meine Tochter hatte keine Wahl, aber eines Tages wird sie die Wahl haben. Eines Tages wird sie eine Wahlberechtigte sein. Als ich noch keine Wahl hatte, befand sich meine Heimat auf der anderen Seite des großen Waldes, der grünen Lunge einer großen Stadt. Stadtluft macht frei! Befreiung von den Mühen des Ackers, der uns nährt. Landluft schenkt uns die Freiheit zur Daseinsmächtigkeit und fordert aber auch Verantwortung. Meine Frau und ich wurden in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern in Wien-Favoriten sozialisiert; nur einige Gassen voneinander entfernt – ohne uns jemals begegnet zu sein. Zur selben Zeit am fast gleichen Ort, aber doch ganz woanders. Die Zeit auf der anderen Seite des großen Waldes existiert nur mehr in meinem Kopf und ich nenne sie „meine Vergangenheit“. Manchmal sehe ich sie mir an, gebe ihr aber keine Bedeutung. Bilder im Kopf sind real, aber sie haben keine Macht. Ich weine ihnen nicht nach.

„Früher da war sogar die Zukunft noch besser“, sagte Karl Valentin. Ich kann es nicht sagen, ich erinnere mich nicht daran. Was ich aber mit Gewissheit sagen kann: Meine Frau wird hungrig sein, wenn sie heute nach vollbrachtem Tagwerk nach Hause kommen wird. Also werde ich uns einen Hasen fangen. Das ist unsere interne Bezeichnung für „Einkaufen gehen“. „Einkaufen gehen“ ist ebenfalls ein Code und steht für „Einkaufen fahren“. Am Hügel umgeben von Äckern, Wiesen und Wäldern gibt es kein Lebensmittelgeschäft. Hasen gäbe es, viele nicht, aber sie werden von Jahr zu Jahr mehr. Heute muss kein Hase sterben. Als Jäger hat man immer eine Wahl. Man kann töten, muss aber nicht. Ich hätte auch die Wahl, zu Fuß, durch den Wald das nächstgelegene Geschäft zu erreichen. Knappe zwei Stunden hin und retour. Zeit dafür wäre da, ich nehme sie mir aber nicht. Stattdessen werde ich das Pferd satteln. Das ist wieder ein Code für „das Motorrad starten“. Honda SLR 650, achtzehn Jahre alt, aber erst knappe 30.000 km am Buckel. Ein richtiges „Schlapfenmotorrad“. Kann alles, aber nichts wirklich gut. Das passt zum Landleben, hier zählt das Universelle.

Eine kleine Landstraße führt ins Tal. Der luftgekühlte Einzylinder hämmert und klopft. Kühle Luft im Gesicht, warm ums Herz. Unten stehe ich an, nach rechts geht es über die nächste kleine Landstraße Richtung Westen. Hier leben Hühner auf der Straße – Mut kann man nicht kaufen. Knapp vor der kleinen Brücke schalte ich den Choke weg, auch ohne Gemischsanreicherung läuft der Motor nun rund und passt sich damit dem heutigen Tag an. Heute lief bis jetzt alles rund. Bis jetzt. Nach der Brücke wieder rechts. Die kleine Landstraße mündet in eine größere. Das ist der Fluss des Lebens, das Kleine mündet ins Größere, ohne massiven Widerstand hat es da keine Wahl. Dem Kleinen fehlt die Kraft zu kämpfen. Kraft ist abhängig von der Masse und von der Geschwindigkeit. Kraft ist Masse mal Beschleunigung. So gesehen, hätte die breite Masse relativ viel Kraft. Wenn sie nur nicht so träge wäre. Unser Nahversorger kämpft mutig ums Überleben. Ihm fehlt diese Kraft der Masse, denn die fährt zum Supermarkt und nährt damit die Konzerne, die Banken, die Investoren. Allesamt Eigentümer unserer Zukunft. Groß frisst Klein. Lkw frisst Motorrad. Darum ist Achtsamkeit und Wachheit beim Motorradfahren notwendig, um zu überleben. Nicht Geschwindigkeit bringt uns zum Fall, sondern die Unachtsamkeit. Die größere Landstraße hat eine Mittelleitlinie und in diesem Bereich eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h. Hier wird reglementiert. Je breiter die Straße, umso unfreier wird man. Die Besiedelung wird dichter. Ortsgebiet. Die Zivilisation spricht mit mir und zeigt mir ihr zorniges rotes Digitalgesicht: „Sie fahren 52!“ Punkti-Punkti-Strichi-Strichi-fertig-ist-das-Mondgesichti! Ich antworte still, mit einem freundlichen „Geh scheiß‘n.“ Gedanken sind frei. Gas weg und dann … der unvermutete Griff in die Bremse. Oh Gott. Sie sind wieder da: DIE GESICHTER. Das Mondgesichti war nur ein erster Warnschuss. Wohin ich blicke: Gesichter. Sie starren mich an. Freundlich, aber bestimmt. Das Lächeln dieser Gesichter ist nur eine Maske, dahinter verbirgt sich die Fratze der Macht. Die Gesichter sind gekommen, um etwas von mir einzufordern. Hinter dem gequälten Lächeln lauert die Gier. Die Gier nach meiner Stimme. Die Gesichter wollen mir persönlich nichts Böses, sie wollen meine Stimme. Aber nicht nur meine. Sie wollen die Stimmen der Masse. Sie brauchen die Kraft der Mehrheit, um mit unseren Stimmen über uns beStimmen zu können. Darum fördern die Gesichter auch die Supermärkte und vernichten die kleinen Nahversorger. Mehrheit frisst Minderheit. Auch das ist Demokratie.

Oben am Hügel verschwindet die Sonne langsam hinter den anderen fernen Hügeln. In der Küche duftet es nach gebratenen Erdäpfeln. „Hast du sie auch gesehen?“ frage ich meine Frau. „Die Gesichter?“ „Ja.“ „Und?“ „Was und?“ Sie hat die Frage schon verstanden. Und? bedeutet: Was werden wir tun? Die Stimme behalten? Die Stimme abgeben? Können wir unsere Stimme in eine Urne werfen und sie trotzdem behalten? Wollen wir Partei ergreifen? Teil des Wahlkampfes werden? Auf den Straßen herrscht Propagandakrieg. Wollen wir den Krieg in unser Haus lassen? Wollen wir am Muskelspiel der Interessen teilnehmen? Was wir auch tun werden, wir werden in den nächsten Wochen den Gesichtern nicht entkommen können, sie werden über viele Kanäle versuchen, in uns einzudringen, uns zu manipulieren, uns mit unhaltbaren Versprechen zu bestechen. Sie werden wie gefräßige Würmer in unseren Gehirnen sitzen. Umfragewerte, Elefantenrunden, Pressestunden, Kugelschreiber und Luftballons. Wahlkampf ist ein Virus, der ein Land befällt und das klare Denken verhindert: schwarz, weiß, links, rechts. Dazwischen intellektuelles Vakuum. „Demokratie ist immerhin ein Privileg, dafür sind unsere Großeltern gestorben“. „Deine Großeltern sind an Altersschwäche gestorben, mein Großvater jung an Herzversagen und meine verhasste Großmutter an einem Asthmaanfall,“ entgegnet sie lakonisch. „Du weißt genau, was ich meine. Menschen haben dafür gekämpft, dass wir wählen gehen können.“ „Die wussten aber nicht, was uns da heute zur Wahl angeboten wird. Für diese Gesichter hätte sich keiner erschießen lassen,“ meint meine Frau und schiebt sich ein besonders knuspriges Stück Erdäpfel in den Mund. „Nicht wählen? Weiß wählen? Oder geben wir den Gesichtern eine Chance?“ Meine liebe Frau zuckt nur mit den Schultern und genießt weiter die Frucht der Erde.

Heute Abend werden wieder zwei Spitzenkandidaten öffentlich übereinander herfallen. Die Moderatorin wird Fragen stellen, auf die sie keine Antworten bekommen wird. Die Gesichter sind hier, um in knapper Zeit nachzuplappern, was ihnen ihre Berater vorgekaut haben, nicht um Fragen zu beantworten. Sie sind hier, um sich gegenseitig schlecht zu machen. Warum wollen sie sich eigentlich nicht gemeinsam gut machen? Warum niedermachen und nicht gegenseitig emporheben? Weil das keine Quoten bringt – und keine Stimmen. Die Mehrheit möchte eine mediale Schlammschlacht. Die Mehrheit will kein Miteinander, die Mehrheit will ein Duell. Und der Sender, der will Quoten. Die Gesichter wollen uns ihre Ware verkaufen, der Sender buhlt um unsere Marktanteile. Die Parteihooligans sitzen auf den mickrigen Tribünen des Studios. Applaus stets zur rechten Zeit. Auch Gesichter haben Fans. Aber haben sie auch Freunde? Kann man sich mit verbalen Untergriffen und Respektlosigkeit Freunde machen. „Wollen wir das?“ frage ich. Sie schluckt ein Stück Schokolade hinunter: „Was?“ „Das. Das alles hier?“ Meine Tochter hat ihr Zimmer verlassen und wirft einen Blick zum Fernseher. „Was schauts ihr da?“ Meine Frau und ich, unisono, ohne uns anzusehen: „Nichts?“ „Cool!“ antwortet sie und verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Nichts! Ja, das ist es, was wir hier präsentiert bekommen, ein aufgeblasenes Nichts. Viel Lärm um Nichts. Abraham Lincoln und Thaddeus Stevens hielten stundenlange Reden auf Jahrmärkten. Sie lebten in einer Gesellschaft mit Märkten, wir leben in einer Marktgesellschaft. Die Politik ist der Jahrmarkt. Schausteller buhlen um unsere Stimme. Die Medien sind die Zeltverleiher. Und wir sind das Stimmvieh. Haben wir eine Wahl? Können wir das, was uns hier via TV vorgeführt wird, abwählen, einer mehrheitlichen Geisteshaltung eine Wahlschlappe bescheren? Kaum. Nach dem Werbeblock wird ein Politologe das Duell analysieren und selbst zum Teil des Nichts werden. Heiße Luft in einer großen Blase. Wo werde ich sein, wenn die großen Blasen platzen werden? Ach ja, die kleine Blase steht auch schon unter Druck. „Ich geh kurz mal austreten, soll ich dir aus der Küche etwas mitbringen? Nüsse, Pistazien?“ frage ich. „Nein, danke. Ich platze gleich. Du hast leider wieder zu gut gekocht.“

Das stille Örtchen ist ein Ort der Ruhe. Hier kann man Dinge draußen lassen, oft ist es der Rückzug vom Geschehen, ein Sammeln, ein In-sich-Gehen während man aus sich herausgeht. Sobald die Tür verriegelt ist, bleibt die Welt draußen, hier kommt nur herein, was man freiwillig mitnimmt. Ich lade die Politik zu mir aufs Scheißhaus ein, das Spektakel, die Show, das alles lassen wir draußen, hier sind wir unter uns und können unter vier Augen reden. Darf ich gleich mit der Tür ins Haus fallen? Ich habe das Vertrauen verloren. Was aus dir geworden ist, es schreckt mich richtig ab und damit bin ich nicht allein. Glaub mir, ganz viele sind von dir wirklich tief enttäuscht. Man redet schlecht über dich, so als wärst du unser Feind, so als wärst du etwas außerhalb von uns, etwas, das uns beherrschen möchte, auf unsere Kosten gut leben möchte. Dabei bist du ja ein Teil von uns, ein Werkzeug, das uns dienlich sein und uns vor den Mächtigen schützen sollte. Die Menschen, die nicht direkt von dir profitieren, sehnen sich nach einem Wandel der politischen Kultur in diesem Land. Versteh mich nicht falsch, ich möchte dich jetzt hier nicht schlecht machen oder dich an den Pranger stellen, anspucken und verspotten. Nein, ich möchte dich eigentlich nur etwas fragen: Wie kann ich dir helfen? Einfach meine Stimme abgeben, zähneknirschend mein Kreuz beim kleinsten Übel machen? Ist es das, was du willst? Was brauchts, damit du wieder zu einem brauchbaren Werkzeug für das Gemeinwohl werden kannst? Würde es dir besser gehen, wenn wir das Polit-Establishment, dem es ausschließlich um das Vertreten von Partikularinteressen und Wirtschaftsinteressen geht und das das Wohl aller komplett aus den Augen verloren hat, aus dem Parlament schmeißen würden, Fronten und Blöcke aufbrechen und als eine Koalition der Willigen die Menschen dieses Landes repräsentieren, die bislang in der politischen Arena kaum vertreten sind? Würde es dir gefallen, wenn wir alle wieder mehr Interesse an dir hätten und die Politik selbst in die Hand nehmen würden? Haben wir die Eliten zu lange gewähren lassen, ihnen zu wenig die Stirn geboten, zu selten die Stimme erhoben, weil es uns letztlich egal war, weil es uns ja eh noch ganz gut gegangen ist, haben wir dich nicht zu dem gemacht, was wir nun beklagen. Geht es uns allen wie dem Zauberlehrling, werden wir all die Geister, die wir riefen, nun nicht mehr los? Ist die Mehrheit eine Mehrheit von Gespenstern, sind wir nur ein Schatten von uns selbst. Durchsichtig und gläsern sind wir allemal geworden. Haben wir zu viel zugelassen, aus Bequemlichkeit? Sollen wir uns noch länger am Klo einsperren, um unsere Ruhe zu haben oder das Austreten beenden und dich zu unserer Sache machen! Aber wer ist uns? Manchmal macht mir uns Angst. Dir auch, stimmts? Schön, dass wir ein wenig geplaudert haben. Du bleibst noch? Gut. Dann bis später und sei vorsichtig, pass auf dich auf und lass dir nichts gefallen. Und plötzlich ist es, als würde ich eine Stimme hören: „Arschlöcher“. „Wie bitte?“ frage ich. „Schmeiß‘ die Arschlöcher raus!“ Das klingt schon lauter und deutlicher. „Welche Arschlöcher meinst du?“ „Alle! Ich möchte mit denen nichts mehr zu tun haben!“ „Okay. Ich kümmere mich drum.“ „Ist das ein Wahlversprechen?“ fragt die Politik. „Nein, ist es nicht. Ich meine es ernst.“ Mit der Betätigung der Spülung wird unser Pakt besiegelt und begossen. Mit entleerter Blase gehe ich an der Küche vorbei. Meine Frau hat sich etwas Rahm mit Nüssen und Honig vermischt und schleckt den Löffel ab. „Und. Hast du eine längere Sitzung gehabt?“ witzelt sie. „Nein, ein Vieraugengespräch,“ sage ich und nehme mir selbst einen Löffel Rahm mit Nüssen und Honig.

Wahlsonntag. Ich habe Brei gekocht. Hafer, Amaranth, Erdmandeln, Rosinen mit Wasser und ein wenig Schlagobers köcheln lassen. Rühren, mit Zimt und Ingwer verfeinern, ziehen lassen. Am Schluss einen Löffel Leinöl beifügen. Das wärmt, gibt Kraft und sättigt. „Uff, aus. Schluss jetzt. Ich bin voll,“ meint meine Frau und legt den Löffel zur Seite. „Wollen wir zu Fuß zum Gemeindeamt gehen, dann hätten wir die Bewegung auch gleich erledigt?“ Als ob Bewegung etwas wäre, das man erledigen kann. Bewegung ist Leben. Manche sind vom Leben so richtig erledigt. „Gute Idee!“ stimme ich zu. „Wir dürfen die Ausweise nicht vergessen“. „Brauchen wir die?“ „Ich denke schon, oder?“ Meine Tochter hat ihr Zimmer verlassen. „Morgen! Magst du Brei?“ „Igitt! Was macht ihr heute?“ „Wir spazieren ins Tal, magst mitgehen?“ „Scherzerl.“ Für meine Tochter findet Leben zurzeit ohne Bewegung statt. „Wieso brauchts ihr im Wald einen Ausweis?“ fragt sie. „Im Wald nicht, aber am Gemeindeamt,“ meint meine Frau und holt sich noch etwas Brei vom Herd. Ein bisschen geht immer noch. „Gehts ihr wählen?“ Das klingt so wie: „Gehts ihr zum McDonald’s? Ihr fliegts nach Indien zur Selbstfindung. Ihr kaufts euch eine Hochseeyacht?“ Jedenfalls klingt es wie: Das glaube ich nicht! „Und wen wählts ihr?“ „Uns!“ sage ich. Der Blick meiner Tochter stellt viele Fragen, sie wartet aber nicht auf eine Antwort: „Cool.“

Das Amtshaus unserer Gemeinde hat heute etwas scheinbar Festliches. Bürger und Bürgerinnen im Sonntagsgewand. Keine Hast und Eile. Über die Gemeinde hat sich ein Schleier der Ernsthaftigkeit gelegt. Heute werden auch hier die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Zukunft der Regierung, die Zukunft des Landes und natürlich nicht zu vergessen: die eigene Zukunft. Selbst die Frauen der Wahlhelfer, die Kaffee und Kuchen bringen, haben heute etwas Staatsmännisches an sich. Herr und Frau Düringer sind soeben vor dem Wahllokal eingetroffen. Schwitzend, dampfend. Unübersehbar für alle Anwesenden. Bewegung ist Leben. Schnelle Bewegung ist Sport. Hat man den Sport einmal erledigt, ist man zumeist selbst auch erledigt. Der Boden vom Hügel ins Tal, quer durch den Wald war nass und tief vom Regen der Nacht. Lehm speichert Wasser. Und feuchter Lehm klebt an den Schuhen. Sollen wir in Socken zur Urne schreiten? Für einen Moment lüftet sich der Schleier der Ernsthaftigkeit. Unser Auftritt erinnert mich an eine Szene aus einem Programm von Lukas Resetarits, die ich, anlässlich seines 65. Geburtstagsfestes gemeinsam mit Alfred Dorfer, Thomas Stipsits und Josef Hader inszenieren und zur Aufführung bringen durfte (Suchen sie auf Youtube: „Düringer im Wahllokal“). Das war wirklich ein Spaß. Schauen sie nur, wie der Dorfer Fredi auf der Bühne sich das Lachen verkneift.

Wir befreien die Schuhe so gut es geht mit Holzstöckchen und Gras vom Gatsch. Rund um uns Bürgerinnen und Bürger, die heute von ihrem persönlichen, freien, demokratischen, aktiven Wahlrecht Gebrauch machen. Großteils bekannte Gesichter. Lebendige Gesichter. Das unterscheidet sie von den Gesichtern auf den Plakaten. Hier sind Herr und Frau Düringer keine Sensation, hier sind wir Alltag. So ist das auf dem Land. Im Sonntagsgewand hat man uns hier noch nie gesehen, denn Sonntagsgewänder behindern die Bewegungsfreiheit. Manche werden uns das als Respektlosigkeit ankreiden. Bewerten, beurteilen, zuschreiben, verurteilen. So ist das auf dem Land. So ist das aber auch in der Stadt. So ist der Mensch. Heute haben wir uns alle, nach mehr oder weniger langen Überlegungen, Diskussionen und Beratungen, nach Abwiegen aller Für und Wider ein Urteil gebildet. Vielleicht haben die letzten von den Presseabteilungen der Parteien manipulierten, jedoch mit Überzeugung propagierten Umfrageergebnisse die Urteilskraft noch etwas getrübt, aber letztendlich werden wir alle eine Entscheidung treffen und gleich ein Urteil fällen. Dieses wird im Wahllokal geheim, still und heimlich verkündet. Man spricht nicht darüber. Man wartet auf die Urteilsvollstreckung nach den ersten Hochrechnungen. Irgendjemand wird heute sicher noch „hingerichtet“ werden. Politisch und medial. Das wird sich keiner der Sonntagsanzugsträgerinnen entgehen lassen, nichts wärmt so schön wie der Scheiterhaufen der Verlierer. Die Gewinner werden ein Freudenfeuer entzünden, das Wahlergebnis wie ein Lauffeuer durch das Land ziehen, ein wenig verbrannte Erde wird uns jedenfalls bleiben und ein kleines Brandmahl in der Geschichte der Republik wird uns an den heutigen Wahlsonntag erinnern. Vielleicht bleibt heute Abend kein Stein auf dem anderen, der Boden, auf dem die Steine sicher ruhen, wird trotzdem derselbe bleiben. Wir können heute, an diesem Sonntag, Steine umschichten, sie neuordnen, sie in den See des Vergessens schmeißen, wir können versuchen aus den Steinen etwas Neues, etwas Besseres zu bauen. Haben wir nicht schon in unserer Kindheit viel Freude mit unseren bunten Legosteinen gehabt, daran, mit ihnen etwas gestalten zu können, aus dem Nichts. Aus dem Nichts? Nein, nicht aus dem Nichts, sondern aus Legosteinen, die unsere Eltern uns vom schwer verdienten Geld gekauft haben. Legosteine sind nicht Nichts. Sie sind die Vorgabe, der Rahmen, in dem wir uns bewegen dürfen. Was kein Legostein ist, hat in diesem Spiel nichts verloren, weil es nicht passt. Surviving of the Fittest. Nicht die Starken und Klugen überleben, sondern die Fitten. Wie hieß es früher im TV: „Fit mach mit!“ Die Angepassten haben unter Angepassten das Sagen. Da fällt mir ein Satz von Helmut Schmidt, dem ehemaligen deutschen Kanzler ein: „Der Jammer ist: Die Dummen sind sich ihrer Sache so sicher, die Klugen aber sind voller Zweifel.“ Auch so mancher Zweifler wird heute zähneknirschend mit zitternder Hand sein Kreuz machen. Heute werden in diesem Land möglicherweise Steine bewegt, aber sie werden sich dadurch nicht verändern und den Boden, auf dem sie sicher liegen, können wir hier nicht bearbeiten. Ein anderer deutscher Politiker, der bayerische CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer, plauderte bei einem Fernsehinterview aus der Schule: „Jene, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden, und jene, die was zu entscheiden haben, kann man nicht wählen.“

„Wollen wir?“ fragt meine Frau und bietet mir ein kleines Stück von ihrem Rohkostriegel an. Das größere Stück hat sie bereits in ihrem Mund. „Jederzeit!“ sag ich und stecke mir ein unglaublich kleines Stück Riegel in den Mund. Wir betreten genüsslich kauend das Wahllokal. „Mahlzeit!“ „Mahlzeit!“ „Mahlzeit!“ Auch die Wahlhelfer haben den Mund voll, sie bieten uns Kuchen an. So ist das auf dem Land. Hier wird noch geteilt und auch den Ausweis brauchen wir nicht herzuzeigen. „Stadtbekannt“ sagt unser Vizebürgermeister und nickt uns zu. Eigentlich ist er der Michl, unser Nachbar oben am Hügel. Früher war er Landwirt, heute bietet er Pferdebesitzern Einstellplätze an. Von der Landwirtschaft kann man nicht mehr gut leben. So ist das auch auf dem Land. Unsere Nachbarn sind großteils noch Bauern. Noch. Wir haben unsere Nachbarn alle gern, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, sind wir oben am Hügel eine Gemeinschaft. Kein Bund, keine Partei, kein Verein, keine Gruppierung, keine Bewegung. Eine lose, unstrukturierte Gemeinschaft. Wir sind so gut wie möglich für uns da. So ist das. Nicht nur bei uns, so ist das überall. Menschen sind füreinander da. Wenn man sie lässt, wenn man sie nicht gegeneinander aufhetzt, in ihnen keine Feindbilder erzeugt. Auch der Michl hat heute etwas Staatsmännisches, trotz Trachtensakko. Meine Frau und ich werden als Nummer in eine Liste eingetragen. Michl überreicht uns unsere amtlichen Stimmzettel. Er tut das mit einem spitzbübischen Grinsen. Bei uns am Hügel gibts keine Geheimnisse, zumindest keine Wahlgeheimnisse. Ich schenke meiner Frau noch ein Lächeln, sie lächelt zurück. „Bis gleich, Schatz.“ „Hoffentlich,“ sage ich und verschwinde in der Wahlkabine.

Damit endet die Feierlichkeit. Wahlkabine? Sagt man nicht auch Wahlzelle? Endet hier also nicht nur die Feierlichkeit, endet hier auch unsere Freiheit. Bedeutet Freiheit eine Wahl zu haben? Freiheit ist es für mich, stundenlang durch ein Einkaufszentrum zu schlendern und nichts zu finden, was ich brauche. Manches will ich vielleicht, aber auch nur, weil ich es wollen soll. Der Satellitenspiegel bietet uns eine große Auswahl an TV-Sendungen, aber haben wir dabei eine Wahl. Jede Auswahl, so groß sie auch sein mag, bedeutet in Wirklichkeit eine Begrenzung. Sie beschneidet die Möglichkeiten und die Wahl haben letztlich jene, die über die Auswahl entscheiden. Innerhalb der Auswahl hat man nur das Gefühl eine Wahl zu haben. So denke ich es mir. Vielleicht ist aber alles auch ganz anders. Ich schaue auf den Stimmzettel. Jetzt bin ich mit mir und meiner Entscheidung alleine. In letzter Zeit haben ich und meine Frau einige Entscheidungen getroffen. Sie ist selbstständig und hat ihre Arbeitszeit stark reduziert, ihren Betrieb verkleinert. 30 Stunden die Woche sollten reichen. Fernseher hat meine Frau schon lange keinen mehr, ihr Bankkonto hat sie erst kürzlich geschlossen. Nur Bares ist Wahres, auch wenn man es uns eines Tages sicher wegnehmen wird. Beide verzichten wir auf Fleisch aus Massentierhaltung. Meine Frau isst gar kein Fleisch und ich esse nur Fleisch von Tieren, die ich selbst getötet habe. Mein Konto habe ich noch, weils für mich gar nicht ohne ginge. Gut geht es für mich ohne Auto, ohne Bankomatkarte, ohne Supermärkte. Wir heizen mit Holz, haben uns von den Netzen unabhängig gemacht, versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten die Konzerne links liegen zu lassen. Was ich nicht nachfrage, wird eines Tages nicht mehr produziert. Wir suchen uns gut aus, welche Informationen wir in uns hineinlassen und welche nicht. Wir lesen viel, hören, was andere so denken und tauschen uns darüber aus. „Daseinsmächtigkeit“ ist die Überschrift zu unserer Lebensgeschichte. Und ich erhebe, wann immer ich die Möglichkeit dazu habe, in der Öffentlichkeit meine Stimme. Manchen bin ich zu radikal, für andere ein Spinner, für manche sogar ein Vorbild. Das sind alles keine großen Dinge, es sind kleine Veränderungen, die uns selbst und vielleicht anderen guttun. Jeder Moment fordert eine Entscheidung, doch manchmal kann man getrost innehalten. Jetzt zum Beispiel. Ich genieße die Ruhe in meiner Wahlzelle. Manche, so hört man, entscheiden sich erst in der Stille der Wahlzelle, wem sie ihre Stimme geben werden. Ich habe meine Wahl schon lange zuvor getroffen. Meine Stimme bekommt ihr nicht. Meine Frau und ich werden sie dieses Mal behalten, aber wir werden euch eine Nachricht hinterlassen.

„Ich bin eine gültige Stimme!“ So steht es nun quer über den Stimmzettel geschrieben, dick und fett und unterstrichen. Den dicken Filzstift haben wir mitgebracht. Meiner ist blau, der meiner Frau rot. Die Farbe ist bedeutungslos, was zählt, ist die Unübersehbarkeit. Den Stimmzettel zurück ins Kuvert gesteckt. Hätte ich meinen Namen darauf schreiben sollen? Wozu, hier im Dorf bin ich ohnehin stadtbekannt. Das Kuvert verschwindet in der Urne, meine Stimme aber habe ich behalten. Meine liebe Frau war schneller. „Hast du noch überlegen müssen?“ scherzt sie. „Nicht wirklich. Aber ich wollte es ganz einfach genießen und nicht nur erledigen.“ Eine kleine Spitze unter Eheleuten darf sein. Wir verabschieden uns von den Anwesenden und bevor wir das Wahllokal verlassen, schiebt sich meine Frau noch eine Schaumrolle in ihren Mund. Die Oma vom Heinzenhof oben am Hügel macht die besten Schaumrollen der Welt. Der Josef vom Mooseck liefert uns das Holz für den Ofen. Franz und Michaela haben Schafe und einen Bagger. Der Karl und die Marianne sind uns auch schon ans Herz gewachsen. Die Eva hat unseren Kater einschläfern müssen und die Sau besamt, ihr Mann, der Christoph, ist auch Tierarzt und hört – wie meine Frau – gerne David Bowie. Wir schauen manchmal gemeinsam Filme in unserem Heimkino. Der Hemsch, der Fredi und der Sepp haben gemeinsam einen Traktor gekauft. Das Geld dafür habe ich ihnen vor vielen Jahren geborgt, heute ist er längst abbezahlt. Von der Kerstin bekommen wir die Eier und nächstes Jahr vielleicht einen halben Truthahn vom Andreas. Die Romana hat früher oft auf meine damals noch kleine Tochter aufgepasst, heute passt meine Tochter auf ihre Töchter auf. Und dem Chrisi habe ich als Kind das Motorradfahren beigebracht. Heuer möchte er endlich Moto-Cross-Staatsmeister werden. So ist das auf dem Land. Alle waren sie heute wahlberechtigt.

ZIB 20.00 Wahlspezial ´13. Das klingt wie Mini 850 Monte Carlo Special ´72. Dinge brauchen einen Namen, um sich verkaufen zu können. Meine Frau und ich wir haben es uns vor unserem Patschenkino gemütlich gemacht. Meine Frau hat eine Schüssel Popcorn auf ihrem Schoß. Ich habe mir zur Feier des Tages ein kaltes Bier aufgemacht. Manchmal machen wir das. Fußball-WM-Finale, Olympische Herrenabfahrt (zuletzt 1976. Was für ein Höllenritt vom Klammer Franz!), Moto-GP jeden zweiten Sonntag und heute das große Finale der Nationalratswahl 2013. Die Schlacht ist geschlagen, auf Wahlkartenwähler wird noch verwiesen. Die Gesichter geben brav den eingelernten Text wieder: „Ich bedanke mich für das Vertrauen der Wähler.“ „Das Ergebnis ist ein klarer Auftrag.“ „Das werden wir in den Gremien besprechen.“ „Es ist uns leider nicht gelungen, unsere Wähler zu mobilisieren.“ Sieger, Verlierer, Parteihooligans applaudieren in den Parteizentralen und im Studio. Manche aus Siegeslaune, manche inszenieren ihre Niederlage zur Party. Mögliche Koalitionen, Wählerstromanalysen und immer wieder, einem Mantra gleich, wird das vorläufige Endergebnis wiederholt: SPÖ 26 %, ÖVP 24 %, FPÖ 21 %, Die Grünen 12 %, Team Stronach 6 %, Neos 4 %. Ohne Berücksichtigung der Wahlkarten natürlich. Und: ohne Berücksichtigung von zwei „Gültigen Stimmen“. Herr und Frau Düringer werden nicht berücksichtigt! So als wären wir niemals durch den Wald ins Gemeindeamt gewandert. Unsere beiden gültigen Stimmen werden als ungültig gewertet. Offenbar ein Lesefehler. Deutlicher, dick, in Blau und Rot kann man es wohl kaum aufschreiben. „Die haben unsere Botschaft nicht verstanden,“ meint meine Frau und greift dabei tief in die Popcornschüssel. Ich frage mich: Wie viele müssten wir sein, dass sie uns nicht übergehen können? Im TV wird soeben die noch nicht endgültige Mandatsverteilung grafisch dargestellt Das, was uns wichtig erscheint, wird dabei elegant übergangen. Nur in einem Nebensatz wurde das Wesentliche gerade einmal erwähnt: „Bei einer Wahlbeteiligung von 75 % ergibt sich das folgende vorläufige Endergebnis: SPÖ 26 %, ÖVP 24 %, FPÖ 21 % …“ Hier endet die Mathematik und hier beginnt zugleich die Magie. Zumindest offenbart sich für den Hausverstand die Kraft der Illusion. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 74 % erreichte mathematisch die SPÖ 20 %, die ÖVP 18 %, die FPÖ 15 %, die Grünen 9 %, das Team Stronach 5 % und die Neos brachten es trotzdem auf 4 % der Stimmen. Die Kleinen haben im Verhältnis etwas gewonnen, die Großen hingegen deutlich verloren. Und die Wahlsieger sind mit 25 % der möglichen Stimmen die Unerwähnten. Das sieht dann schon etwas anders aus? Politik und Mathematik sind unterschiedliche Wissenschaften. 1,6 Millionen blieben heute zu Hause. 90.000, darunter auch meine Frau und ich, haben am Spiel teilgenommen, aber die Spielregeln missachtet. Das erinnert mich an das Finale der Fußball-WM 2006. Trotzdem die Augen der Welt auf ihn gerichtet waren, sich alles scheinbar nur mehr um König Fußball drehte, entschied sich der französische Ausnahmekicker Zinédine Zidane, ein Held der Nation, den italienischen Spieler Marco Materazzi nach dessen Beschimpfungen und Beleidigungen während des Spiels mit einem Kopfstoß gegen die Brust in die Schranken zu weisen. Sozialisierung ohne Worte. Das große Spiel war für ihn plötzlich nicht mehr wichtig, seine Tat für ihn eine Frage der Ehre. Er erntete die Rote Karte und den Spott der Welt. Vielleicht hat er es später bereut, vielleicht aber auch nicht. Damals trank ich auch Bier und meine Frau hatte eine Familienpackung Popcorn am Schoß.

Jetzt ist mein Bier leer, meine Frau schleckt die Popcornschüssel aus und die Wahl ist geschlagen, natürlich, damit ich es nicht vergesse, können die Wahlkarten noch den einen oder anderen Prozentpunkt bringen – oder kosten. Oder, wie neu gelernt, die Wahl für null und nichtig erklären. Macht nichts! Wahlkampf ist ja etwas Unterhaltsames. Und das ist es, was wir wollen: Unterhalten werden, auch wenn wir dabei intellektuell unten gehalten werden. Aber unten, da fühlt man sich sicher, von unten kann man nicht mehr fallen, von unten kann es nur mehr bergauf gehen. Bringen oder kosten. Darum geht es letztendlich. Nicht nur in der Politik, auch bei uns daheim. Meine Frau und ich, wir bringen das Leergut in die Küche und kosten Kartoffelchips mit Rosmarin. Wenn alles nach Plan läuft, wird 2018 wieder ein neuer Nationalrat gewählt und wir werden den Gesichtern wieder nicht entkommen können. Aber manchmal laufen die Dinge nicht nach Plan. Und immer, wenn es nicht nach Plan läuft, beginnen die Dinge lebendig zu werden.

Wenn meine Tochter lebendig wird, also nicht mehr online ist, verlässt sie ihr Zimmer, um sich ein Butterbrot zu streichen. „Und wer hat gewonnen?“ „Wir. Wir gewinnen immer“ sage ich. „Und wer hat wirklich gewonnen?“ „Keiner. In diesem Spiel gibt es keine Gewinner,“ sagt meine Frau und beißt vom Butterbrot meiner Tochter ab. „Wirklich verloren hat die Demokratie in diesem Spiel,“ sage ich und klinge dabei sicher wie ein Oberlehrer. „Warum spielt man eigentlich bei einem Spiel mit, das man gar nicht gewinnen kann?“ Sie rettet ihr Butterbrot durch einen taktischen Rückzug in ihr Zimmer. Diesmal konnte meine Tochter sich noch von den Gesichtern fernhalten, in fünf Jahren ist sie selbst eine Wahlberechtigte. Meine Frau schaltet den Geschirrspüler ein und ich frage sie: „Was wäre, wenn man den ungültigen Stimmen eine Gültigkeit geben könnte? Oder wenn man es schaffen würde, den Nichtwählern den Weg zur Urne schmackhaft zu machen?“ „Du willst jetzt aber keine Partei gründen, oder?“ Der Blick meiner Frau hat etwas Strafendes, zugleich aber auch etwas Flehendes. „Nein, ich glaub, das will ich nicht.“ Dann wäre ich plötzlich Teil eines Spiels, das ich in dieser Form ablehne. Wozu braucht es heute noch Parteien? Wäre es nicht schön, wenn endlich wieder Menschen das Sagen hätten und nicht Interessengruppen. Wenn Politik dem Gemeinwohl dienen würde und Abgeordnete wieder Menschen mit Ansehen werden. Wenn es im politischen Diskurs um das gemeinsame Lösen von Sachfragen ginge und nicht um ideologische Grabenkämpfe? „Eigentlich möchte ich nur bei der nächsten Wahl eine Wahl haben. Verstehst du? Ich möchte mit einem guten Gefühl mein Kreuzerl machen, ich möchte den Gesichtern eine Nachricht hinterlassen, die sie nicht negieren können. Was, wenn wir die Möglichkeit hätten, uns selbst zu wählen? Stell dir vor, was passieren würde, wenn deine gültige Stimme gelten würde. In welcher Form auch immer.“ „Also ich bin jetzt müde und mir raucht schon der Kopf,“ sagt meine Frau und lässt sich die letzten Brösel der Kartoffelchips aus der Packung in den Mund rieseln. „Es ist ja nur so eine Idee, mein Schatz.“ „Wenn du eine Idee hast … na schaun ma einmal.“ Die leere Packung verschwindet im Restmüllbehälter und ich drehe das Licht ab.

EINE IDEE, VIELE FRAGEN, WENIGE ANTWORTEN UND EINE MÖGLICHKEIT VON ABERTAUSENDEN

Wenn ich einmal eine Idee habe, dann ziehe ich das meistens durch. Das ist es, was meine Frau mir sagen wollte. Zeit meines Lebens bin ich ein Ideenumsetzer gewesen, es hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Meine Ideen schreiben meine Lebensgeschichte, und das nicht nur beruflich. Auch abseits der Schauspielerei spiele ich mit Ideen und versuche diese – oft radikal und ohne Kompromisse – umzusetzen. Manchmal auch schlechte. So bin ich Gestalter meines Lebens. Es ist eine Privileg, seine eigenen Ideen umsetzen zu können und es zu dürfen. Dieses Privileg ist zugleich eine Verpflichtung.