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Elisabeth Waltz-Urbancic

VIER KINDER UND EIN ZEICHENTISCH

Elisabeth Waltz-Urbancic

VIER KINDER UND
EIN ZEICHENTISCH

Erinnerungen an Theater und Film

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Für
Martin
Nicola
Christoph
Johannes

Inhalt

I. Kindheit und Jugend in Grinzing

II. Das Forum Alpbach – „Ein Fenster zur Welt“ und erste Studienjahre

III. Ein Wunsch geht in Erfüllung: Paris

IV. München: Ich werde Bühnenbildnerin!

V. Heirat und erste selbstständige Arbeiten

Bilder I

VI. Ambesser, Kortner, Piscator und Noelte

VII. Vier Kinder und ein Zeichentisch

VIII. Vom Theater zu Film und Fernsehen

IX. Wichtige Jahre mit Rudolf Noelte

X. Die Kinder sind ausgeflogen

Bilder II

XI. Das Haus in Grinzing

Glossar

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I. Kindheit und Jugend in Grinzing

Ein Bühnenbildner steht nicht im Rampenlicht wie ein Schauspieler oder ein Sänger. Das von ihm geschaffene Bild, seine Arbeit ist es, die letztlich auf der Bühne steht – die Person des Bühnenbildners bleibt dabei im Hintergrund. Daher kennen auch die wenigsten diese Person und machen sich keine besonderen Gedanken über deren Tun. Wie wichtig es allerdings ist, ein Ambiente zu schaffen, das den Sinn und das Anliegen eines Stückes erfasst und diesem zum Ausdruck verhilft, überlegt sich kaum jemand. Nicht ein spektakuläres Bild auf die Bühne zu stellen, sondern einen dem Stück dienlichen Raum zu schaffen, ist die Aufgabe. Ich jedenfalls habe meine lebenslange Tätigkeit als Bühnenbildnerin in diesem Sinne verstanden.

Immer wieder wurde ich ermuntert, die unterschiedlichen Stationen meines Berufslebens aufzuschreiben und über die vielen Begegnungen aus der Theater- und Filmwelt zu erzählen. Nun berichte ich also über meine Arbeit, mein Leben mit vier Kindern und meinen Beruf, den ich eigentlich zuerst gar nicht ergreifen wollte, den ich dann aber mit großer Freude und Intensität ausgeübt und der mein ganzes Leben geprägt hat. Ich schreibe nicht, sondern ich erzähle:

Ich bin ein sogenanntes Einzelkind. Das war ich nicht gerne. Ich hätte viel lieber einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester gehabt. Als ich einmal meine Mutter gefragt habe, warum ich denn keine Geschwister hätte, hat sie zu weinen begonnen. Da habe ich natürlich nicht mehr weiter gefragt. Später hat sie mir einmal erzählt, dass sie zwei Fehlgeburten hatte, bevor sie mich zur Welt brachte. Obwohl ich meine Eltern nicht allzu oft zu sehen bekam, bin ich doch sehr behütet aufgewachsen. Meine Mutter, Maria Mayen, war eine sehr bekannte und beliebte Schauspielerin am Wiener Burgtheater, 1926 wurde sie sogar als erste Frau zur „Kammerschauspielerin“ ausgezeichnet. Vormittags ging sie auf die Probe, und an den Abenden hatte sie fast immer Vorstellung. Meist kam sie mittags gar nicht heim, sondern ruhte sich in ihrer Garderobe aus. Das Wiener Burgtheater gehörte wie die Comédie Francaise in Paris Anfang des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Häusern. Ein Engagement an der Burg war die Krönung einer Schauspielerkarriere – das ist bis heute wohl so geblieben. Meine Mutter war nur 14-jährig noch als halbes Kind früh von zuhause weg nach Berlin in die Schauspielschule Seebach gekommen. Danach spielte sie bei Otto Brahm am Lessingtheater in Berlin, anschießend hatte sie ein Engagement in Bonn. Von dort wurde sie von Direktor Hugo Thimig an die Burg geholt. Ihren ersten Vertrag musste noch ihr Vater unterschreiben, da sie noch nicht volljährig war. Die Rituale dort müssen überaus streng gewesen sein. Meine Mutter erzählte, dass sie sich im Konversationszimmer, wo die Schauspieler sich während der Proben aufhielten, vor jedem der großen Mimen verbeugen, sich vorstellen und Fragen beantworten musste. Geprobt wurde mit weißen Handschuhen. Jeder der berühmten Künstler hatte seine eigene Garderobe, nur die kleinen Nebenrollen und Komparsen saßen in einem Raum zusammen. Später, als meine Mutter bereits zu den ersten des Ensembles gehörte und in den Rollen der „jugendlichen Naiven“ brillierte, hatte sie natürlich ihre eigene Garderobe. Die Garderobe war ein kleines privates Appartement, in dem sie ihre privaten Möbel hatte und das nach ihrem Geschmack eingerichtet war. Niemand außer ihrer persönlichen Garderobiere hatte das Recht, dieses Refugium zu betreten, das ausschließlich ihr zur Verfügung stand. So blieb sie also nach Probenende bis zur Abendvorstellung fast immer im Theater und ruhte sich gerne dort auf dem Kanapee aus. Meine Mutter hat mich selten mit ins Burgtheater und in ihre Garderobe genommen, aber an die Atmosphäre und das Ambiente kann ich mich wohl erinnern. Das alles hat mich sehr beeindruckt.

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Als kleines Mädchen auf dem Arm der Mutter

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Maria Mayen als Hedvig in Ibsens „Die Wildente“

Mein Vater, Dr. Rudolf Urbantschitsch, war Psychoanalytiker und hatte seine Praxis in der Stadt, abends ging er meist in den Ärzteclub. Meine Eltern wohnten im Cottage-Sanatorium in der Sternwartestraße im 18. Bezirk. Mein Vater hatte es mit noch nicht einmal dreißig Jahren 1908 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits verheiratet und hatte zwei Kinder, er war 19-jährig mit einem gleichaltrigen Mädchen aus einem angesehenen jüdischen Haus „durchgebrannt“ und hatte mit 21 Jahren zum Entsetzen beider Familien geheiratet. Sein Sohn starb viel zu früh, noch bevor ich auf der Welt war und mit seiner Tochter, meiner Halbschwester Grete, die über 20 Jahre älter war als ich, hatte ich kaum Kontakt. Ich weiß nur, dass sie ihre jüdische Mutter während der ganzen Nazizeit unter Lebensgefahr außerhalb von Wien versteckt hielt und sie wirklich unbeschadet durchbrachte. 1910, als der Bau des Sanatoriums noch nicht ganz abgeschlossen war, trennte mein Vater sich von seiner Frau und bezog dort eine Wohnung. Bis 1920 war er Chefarzt und Direktor des Sanatoriums. Es war für die damalige Zeit ein außergewöhnlich luxuriös ausgestattetes Haus: ein Krankenhaus für Stoffwechsel- und Nervenerkrankungen. Es hatte Einbettzimmer mit Toiletten, Bad und Balkon. Tennisplätze, Wintergärten und eine Bibliothek sorgten für zusätzlichen Komfort. Bald war das Haus international angesehen und genoss einen hervorragenden Ruf. Unter den Patienten befanden sich berühmte Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, Hermann Broch, Adolf Loos, Albert Einstein und viele andere. Während des Ersten Weltkrieges war mein Vater als Militärarzt in Mazedonien und in der Türkei stationiert. Nach dem Krieg blieben dann viele internationale Gäste aus. Das Sanatorium geriet zusehends in Schwierigkeiten.

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Cottage-Sanatorium, 1913

In dieser Zeit lernten sich meine Eltern bei einer Abendgesellschaft kennen. Meine Mutter erzählte später immer, wie selbstbewusst mein Vater aufgetreten war. Als er sie das erste Mal sah, sagte er forsch: „In drei Monaten heiraten wir!“ Und so war es dann auch. 1920 heirateten meine Eltern, sie hatten aber noch weiterhin ihre Wohnung im Sanatorium, und die Räumlichkeiten sowie das Personal standen ihnen zur Verfügung. Es gab viele und große Abendgesellschaft en mit interessanten Gästen, der erfolgreiche und gutaussehende Arzt und die junge, schöne und beliebte Schauspielerin des Burgtheaters als Gastgeber – eine glamouröse Welt, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann.

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Meine Eltern im Jahr 1920

Ich muss noch sehr klein gewesen sein, drei oder vier Jahre alt vielleicht, als ich das erste Mal im Burgtheater war. Ich saß mit meiner Großmutter in einer Loge weit vorne an der Brüstung. Man spielte Peterchens Mondfahrt nach dem Kinderbuch von Gerdt von Bassewitz. Das Stück war mit großem Aufwand gemacht und alles, was Rang und Namen hatte, spielte mit. Damals wurden Kindermärchen noch hochgehalten und prominent besetzt. Auf der Bühne war das Kinderzimmer von Peterchen und Anneliese zu sehen. Meine Mutter spielte die Anneliese. Die beiden wurden von der Kinderfrau ins Bett gebracht, kaum war sie aus dem Zimmer gegangen, kam der Maikäfer herein, und die Kinder stiegen aus ihren Betten. Sie begannen mit ihm zu tanzen, und er brachte ihnen das Fliegen bei. Sie hüpften höher und höher, dann endlich flogen sie in die Luft. Das war einfallsreich und bezaubernd gemacht, die Schauspieler hingen an Flugapparaten und wurden in die Höhe gezogen. Gleichzeitig aber glitt die gesamte Dekoration in die Versenkung. Ich hatte wirklich das Gefühl, die Welt versinkt, und die drei fliegen hoch in die Lüfte. Das hat mich schrecklich aufgeregt und ich habe laut zu schreien begonnen: „Die Mami fliegt davon, die Mami fliegt davon.“ Meine Großmutter brachte mich schnell aus der Loge in den Vorraum und beruhigte mich. Ich sehe noch heute das rote Samtbänkchen vor mir, auf das sie mich gesetzt hat. Ich habe nach diesem aufregenden Abend noch oft und oft Peterchens Mondfahrt gesehen und die Geschichte sehr geliebt. Eines mochte ich allerdings ganz und gar nicht: Wenn Ferdinand Mayerhofer, der den Maikäfer spielte und wusste, dass ich im Theater war, an die Rampe kam, mit dem Finger auf mich zeigte und sagte: „Ja, da sitzt ja das Lieserl.“ Da wäre ich am liebsten in den Boden versunken.

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Das Haus in Grinzing. Hinter diesem Fenster steht heute mein Zeichentisch.

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Als Zweijährige mit meiner Lieblingspuppe

1927 kauft en meine Eltern ein Haus in Grinzing, ein altes, ebenerdiges Gebäude mit sechs Fenstern zur Straßenseite, drei rechts, drei links der Eingangstüre und einem kleinen Portikus über derselben. Hinter dem Haus, das wohl um 1850 erbaut worden war, befand sich ein Garten mit einer kleinen Kapelle, die die Vorbesitzer errichtet hatten. Zur Hofseite wurde der rückwärtige Teil aufgestockt, sodass ein großer Raum mit einem Vorzimmer entstand, in dem mein Vater später auch praktizieren konnte. Der Garten war ein Paradies für mich. Ganz hinten stand eine riesige uralte Esche und auf den Obstbäumen konnte man wunderbar herumklettern. Als wir ins Grinzinger Haus einzogen, war ich zwei Jahre alt. Wieder kamen interessante Gäste ins Haus: Sigmund Freud, der weiterhin mit meinem Vater durch die Mittwochsrunde der Psychoanalytischen Gesellschaft in Kontakt war, der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore, und Albert Einstein, der damals in der Grinzingerstraße nicht weit von uns gewohnt hatte. Ich selbst erinnere mich noch genau an Begegnungen mit dem Kritiker Ludwig Ullmann und an Felix Salten, den Autor von „Bambi“. Ullmann war ein strenger und allseits gefürchteter Theaterkritiker. Das Ehepaar Ullmann war bei uns öfter zum Mittagessen eingeladen. Ich muss schon ein Mädchen von sieben oder acht Jahren gewesen sein, als einmal bei Tisch Frau Ullmann zu mir sagte: „Nun Lieserl, willst Du auch Schauspielerin werden?“ „Vielleicht“, gab ich zur Antwort. „Und was machst Du dann, wenn Du schlechte Kritiken bekommst?“ „Ach, dann lade ich eben den Kritiker zum Mittagessen ein“, entgegnete ich. Herr Ullman sagte: „Ach so?“ – und meine Mutter lächelte gequält. Und Felix Salten hat mir einige Jahre zuvor einmal sein Kinderbuch „Bob und Baby“ geschenkt. Ich habe noch genau das Bild vor mir, wie er es mir freundlich nickend in die Hand gedrückt hat. Auf der letzten Seite des Buches war ein schmiedeeisernes Tor gezeichnet und darunter stand geschrieben: „Und dann schloss sich für Bob und Baby das Tor ihrer Kindheit.“ Dieser Satz und das Bild des mächtigen Tores haben mich auf besondere Weise – halb bitter, halb staunend – berührt. Später, als ich dann zehn Jahre alt wurde, dachte ich für mich: „Nun schließt sich also für mich das Tor meiner Kindheit“ und mit einer gewissen Wehmut ist mir die Unwiederbringlichkeit vergangener Zeit bewusst geworden.

Am Sonntag fuhren wir meistens zur Pa-Oma, das war die Mutter meines Vaters. Die Mutter meiner Mutter nannte ich Großmama. Sie lebte das halbe Jahr bei uns in Grinzing, die andere Jahreshälfte bei einer anderen Tochter in Hamburg. Wenn sie in Wien war, hat sie sich um den Haushalt gekümmert und mich abends zu Bett gebracht, sobald das Kinderfräulein gegangen war. Die Pa-Oma, die mir etwas fremder war, wohnte in der Colloredogasse im Cottage in einer großen, geräumigen Gründerzeitvilla, einem sogenannten großbürgerlichen Haus. Sonntags versammelte sich die ganze Familie um sie. Sie war eine gepflegte alte Dame, die in ihrem Fauteuil mit einem Plaid auf den Knien saß. Herumgehen habe ich sie nie gesehen, sie wurde von einer Pflegerin betreut. Mein Großvater Viktor Urbantschitsch war Laryngologe und Universitätsprofessor. Er starb, bevor ich geboren wurde. Der lustigste in dieser wohlgesetzten und wohlbestallten Verwandtschaft aber war Onkel Pero, er war Serbe und hatte einst als Offizier in der k.-u.-k.-Armee gedient. In der Jugend muss er auffallend fesch gewesen sein und fand wohl großen Anklang bei den Damen. Ich sehe ihn noch vor mir, schon weißhaarig mit einem aufgezwirbelten schwarzen Schnurbart. Zum Entsetzen der Familie lief er im Haus immer barfuß. Wenn er mich sah, hob er den Zeigefinger und sagte: „Lieserl, die linke Pohälfte gehört mir.“ Da habe ich mich natürlich schrecklich geniert und das amüsierte ihn umso mehr. Aber ich mochte ihn trotzdem, weil er immer so verschmitzt und lustig aussah.

Im Juli und im August ist das Burgtheater geschlossen, meine Mutter hatte eine Sondervereinbarung getroffen, sie konnte schon ein Monat eher weg. So fuhren wir viele Jahre schon im Juni nach Venedig auf den Lido. Immer mit dem Schlafwagen. Ich liebte das Schlafwagenfahren, konnte es kaum erwarten und fragte immer wieder: „Wann fahren wir, wann fahren wir?“ – „Wenn der erste Stern am Himmel steht“, sagte mein Vater. Alle zwei Minuten sauste ich in den Garten, um nach einem Stern Ausschau zu halten. Endlich war es soweit: Meine Großmutter brachte mich an die Bahn, bugsierte mich in den Schlafwagen und legte mich ins Bett. Der Vater kam immer erst ein paar Tage später nach und blieb auch nicht die ganze Zeit. Meine Mutter kam direkt nach der Vorstellung zur Bahn. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung – meine Mutter war noch nicht da. Ich fing entsetzt zu schreien an. Meine Großmama beruhigte mich – es war nur der Nachbarzug, der am Fenster vorbeirollte. Endlich kam meine Mutter, und die Großmama stieg aus. Die Schlafwagen Ende der zwanziger Jahre waren wunderbar ausgestattet – nicht wie heute alles aus Plastik. Das Abteil hatte eine braune geprägte Ledertapete und einen weichen roten Teppich. Im Eck beim Fenster stand ein Kästchen, wenn man den Deckel hob, befand sich darunter ein kleiner Waschtisch. Am Fuß des Kästchens gab es eine Klappe und wenn man diese öffnete, kam ein kleiner Nachttopf zum Vorschein, ein länglicher, schmaler, der ein bisschen wie eine Birne aussah, den konnte man herausnehmen und später wieder auf die Klappe stellen und zumachen. Dann ergoss sich der Inhalt auf das Geleise. Auch auf dem stillen Örtchen am Gang konnte man durch das Loch der Klomuschel die vorbeisausenden Kieselsteine des Bahndammes erkennen. Das hat mich alles immer sehr fasziniert. Ich genoss das gemütliche Abteil, das kuschelige Bett und das gleichmäßige Rattern des Zuges. Am Lido wohnten wir im Hotel Excelsior (Abb. 1) – an das Hotel selbst kann ich mich nicht mehr gut erinnern, nur noch an die riesigen Hallen und an die offene Terrasse, von der man über ein paar Stufen an den Strand kam, und an das Moskitonetz, das über jedem Bett montiert war. Man lag darunter wie in einem Himmelbett. Ich habe vermutlich das Zimmer mit dem Kindermädchen geteilt, sie war jedenfalls immer mit dabei und musste auf mich aufpassen, wenn meine Eltern am Abend mit dem Dampfer nach Venedig fuhren, um sich mit ihren Freunden in den Cafés am Markusplatz zu treffen. Das halbe Burgtheaterensemble war in Venedig versammelt, und auch am Strand gab es immer ein riesiges Hallo. Der breite Sandstrand lag ja direkt vor der Hotelterrasse. An der Längsseite, dem Hotel zugewandt, standen vier Reihen Cabanen, kleine Holzhütten mit einem Giebeldach, in denen die Badesachen, Liegestühle und Sonnenschirme aufbewahrt wurden. Ich glaube, es ist heute noch so. Jedes Hotelzimmer hatte seine eigene Cabane. Sie wurde morgens vom Strandwärter auf und abends wieder zugesperrt. Man ging im Strandanzug hinunter und zog sich dort zum Schwimmen um. Die Damen trugen die sogenannten Glockenhosen bis zum Oberschenkel schmal und ab dem Knie in weiten Glocken bis zum Boden. Am Kopf trug man runde Strohhüte mit breiten Krempen gegen die Sonne. Die Schwimmanzüge der Damen hatten meist ein kleines kurzes Röckchen, waren aber sonst ähnlich wie unsere heutigen. Nur die Herren waren anders gekleidet: Sie hatten Schwimmanzüge mit einem Oberteil mit Trägern, oft oben gestreift, unten uni und Hosenbeine, die den Oberschenkel bedeckten. Ansonsten waren die Gepflogenheiten wohl nicht viel anders als heute. Die Damen führen ihre neuesten Strandmodelle vor und beäugen kritisch die Konkurrenz, und die Männer ziehen den Bauch ein, sobald ein hübsches Mädchen vorbeischlendert. Dadurch, dass der Strand so direkt an die Hotelterrasse anschloss, konnte ich auch ohne Begleitung hinunterlaufen, was ich gerne tat. Ich hatte auch einen Verehrer. Er wohnte mit seiner Gouvernante im selben Hotel. Ein blondes Büberl mit einem Pagenschnitt, einem weißen Leinenhütchen und knielangen Shorts. Er hatte immer ein Eimerchen dabei, in dem er Krabben sammelte. Die warf er dann nach den anderen Kindern, die schreiend davonliefen. Mich hat er nie beworfen.

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Badefreuden mit meiner Mutter am Lido

Meinen ersten Schwimmunterricht bekam ich vom italienischen Strandmeister. Mit einer Hand hielt er mich unterm Kinn und mit der anderen an der Badehose fest. So lag ich dann flach auf dem Wasser und zappelte wie ein ertrinkender Frosch. Einmal rutschte seine Hand unter meinem Kinn weg, mein Kopf tauchte unter Wasser und in meiner Angst hielt ich mich krampfhaft an ihm fest – allerdings an einer etwas heiklen Stelle.

Anschließend an Venedig ging es nach Tirol ins Ausserfern nach Biberwier. Dort hatten die ältere Schwester meiner Mutter, Tante Jenny, und ihr Mann Gustav ein Sommerhaus. Ein Ritus für viele Jahre: erst ans Meer, dann ins Gebirge. Das kleine Haus stand mitten im Lärchenwald, die Zugspitze in ihrer ganzen Pracht vor uns. Im Wohnzimmer war der große gemauerte Tirolerofen mit der Ofenbank rundherum, und im Treppenhaus hingen Geweihe – allerdings keine Hirschgeweihe und Gamskrickerln, sondern Antilopengeweihe und Büffelhörner. Mein Onkel war Biochemiker und in seiner Jugend noch mit dem berühmten deutschen Mikrobiologen Robert Koch in Afrika gewesen. Er hatte die nach seinem Namen benannte Giemsafärbung entdeckt, an der man den Malariabazillus erkennen kann. Diese Methode wird noch heute angewendet. Er war Zeit seines Lebens etwas verschnupft, dass er keinen Nobelpreis dafür bekommen hat. Onkel Gustav war ein rundlicher, schon etwas älterer Herr, hatte immer eine Pfeife im Mund und konnte mit ihr herrliche Rauchringe blasen. Er sog den dichten Rauch durch die Nase ein und ließ ihn bei den Ohren wieder herausströmen. Wie er das gemacht hat, weiß ich nicht, aber es war großartig.

Im Sommer 1931 wurde ich sechs Jahre alt. Im September kam ich in Grinzing in die Schule. Das Gebäude, das noch immer in der Managettagasse steht, wurde von dem berühmten Architekten Heinrich von Ferstel, der unter anderem auch die Wiener Votivkirche entwarf, erbaut worden. Das war für mich als Kind nicht wichtig, doch noch heute kitzelt mich der spezielle Geruch der schwarzen, mit Öl eingelassenen Holzböden in der Nase. Im Winter, wenn es frühmorgens noch finster war, kam der Schulwart und zündete mit einer langen Stange die Gaslampen an. Elektrisches Licht in der Schule gab es erst, als ich in die dritte Klasse kam. Die Straßenlaternen wurden noch viele Jahre so angezündet. Die Schule veränderte mein Leben. Das Kinderfräulein wurde durch eine Mademoiselle ersetzt, sie sollte mir Französisch beibringen, was allerdings nicht so gut klappte. Ich bekam nämlich schnell heraus, dass sie bestens Deutsch konnte. So sprach ich mit ihr deutsch und sie mit mir französisch. Viel habe ich nicht gelernt, aber das sollte ich später in Paris nachholen.

Ich hatte viele Freundinnen und Freunde, und nachmittags war immer eine ganze Schar Kinder bei mir. Eine von ihnen war meine beste Freundin, sie hieß Julietta und wurde Puppe genannt. Julietta machte ihrem Spitznamen wirklich alle Ehre, sie war klein, zierlich und hatte einen blonden Lockenschopf. Puppe war ein quirliges Kind und sehr gut im Turnen. Beim Stangenklettern war sie immer als Erste oben, während ich noch wie ein bleierner Fisch unten herumhing.

Neben Französischunterricht bekam ich auch Klavierstunden. Mein Lehrer war der damals bekannte Musikpädagoge und Komponist Richard Maux. Ich mochte ihn nicht besonders, weil er immer so süßlich und in Babysprache mit mir redete. Maux schrieb unter anderem Melodrame und Lieder und bat meine Mutter für seinen jährlichen Kompositionsabend seine Melodrame zu rezitieren. Meine Mutter erfüllte ihm diese Bitte, möglicherweise war das der eigentlich Grund, dass er mir Klavierstunden gab. Wenn die beiden probten, kroch ich unter den Flügel und lauschte dem salbungsvollen Spiel. Ich hielt mir auch bei den ernsthaftesten Wildgans-Gedichten den Bauch vor Lachen, so komisch fand ich das.

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Mit meiner Freundin Puppe in Tirol, 1936

Wenn ich Klavierstunden hatte, stand er neben mir und klopfte mit der Stimmgabel den Rhythmus auf den Klavierdeckel. Das mochte ich schon gar nicht. So habe ich weder in Französisch noch in Klavier große Fortschritte gemacht. Die Schule selbst gefiel mir nicht schlecht, ich habe es einfach als ganz normal empfunden. Ansonsten spielten wir Indiander, kämpften uns mit hölzernen Buschmessern durch das Gestrüpp und waren alles andere als brave gesittete Mädchen. Puppe wohnte ganz in der Nähe in einem Haus mit Garten, der doppelt so groß war wie unserer. An einem Sonntag im Frühling kamen wir auf die Idee, Veilchen zu verkaufen. Die ganze Wiese war blau davon. Also pflückten wir sie, machten kleine Sträußchen und freuten uns über die vielen Spaziergänger. Wir machten ein ganz gutes Geschäft, obwohl wir nicht unbedingt wie arme Zigeunerkinder aussahen. Die Leute fragten uns doch etwas erstaunt, woher wir denn kämen. Stolz erzählte ich, dass mein Vater der Arzt Rudolf Urbantschitsch und meine Mutter die Schauspielerin Maria Mayen sei. Als ich dann am Abend heimkam und meine Einnahmen zeigte, wurden meine Eltern wirklich richtig böse – „Du hast doch hoffentlich niemandem erzählt, woher Du kommst?“ Natürlich hatte ich es, warum denn auch nicht. Das schwer verdiente Geld musste ich zur Strafe am Sonntag in den Klingelbeutel werfen. Meine Mutter konnte trotz aller Liebe auch durchaus streng sein. Ich entsinne mich an eine Rüge, der sich auch mein Vater anschloss, obwohl er sich sonst nicht allzu sehr um meine Erziehung kümmerte. In Grinzing gab es ein Delikatessengeschäft, bei dem wir Kunde waren. Dort wurde täglich eingekauft, angeschrieben und am Monatsende die Rechnung beglichen. Daran angeschlossen war ein kleiner Papierladen. Der hatte es mir angetan und war eine große Versuchung für mich. So wie andere Kinder kaum an einem Bonbongeschäft vorbeikommen, ohne etwas zu kaufen, so konnte ich dort nicht einfach an dem Papierladen vorübergehen. Mein Schulweg führte daran vorbei, und nur selten konnte ich es mit verkneifen, diesen Laden nicht zu betreten. Man kannte mich dort schon und meine Einkäufe kamen auf die Monatsrechnung. Als meine Mutter dann sah, wie viele Bleistifte, Buntstifte und Radiergummi ich konsumierte und schon gehortet hatte, wurde sie richtig ärgerlich. Auch mein Vater redete mir streng ins Gewissen, man könne doch nicht so einfach Schulden machen. Ich musste nach dem Zwischenfall einen anderen Schulweg nehmen, an dem es keine Versuchung für mich gab. Die Stifte und Radiergummi sammelte ich in einer Schublade und freute mich diebisch über meinen Schatz.

Mein Kinderzimmer lag neben dem Schlafzimmer meiner Mutter. Wenn ich nun nachts aufwachte und bemerkte, dass sie noch nicht von der Vorstellung zurück war, habe ich mich immer ein wenig gefürchtet. Das Dienstmädchen schlief auf der anderen Hofseite. Ich hätte ja läuten können, aber es war mir peinlich jemanden zu rufen. Also schlich ich ins Schlafzimmer meiner Mutter und kroch in ihr Bett. Ich wusste, dass ich das nicht durfte. In ihrem großen weichen Bett fühlte ich mich geborgen und schlief sofort wieder ein. Wenn meine Mutter dann heimkam, hat sie mich meist in mein eigenes Bett zurückgeschickt, das war schrecklich – dieses einsame, inzwischen kalt gewordene Bett. Manchmal erlaubte sie es mir aber auch, und ich durfte bei ihr bleiben. Noch heute erinnere ich mich an dieses ungeheure Glücksgefühl, neben ihr schlafen zu dürfen. Ich hatte eine sehr innige und liebevolle Beziehung zu meiner Mutter, obwohl mir ihre fast übertriebene Fürsorge auch manchmal auf die Nerven ging. Ich wurde während der gesamten Volksschulzeit hingebracht und abgeholt. Gewiss, der Schulweg führe über eine stark befahrene Straße, aber das hätte ich schon noch fertiggebracht, sie alleine zu überqueren. Wenn ich nach Schulschluss eine Abholperson auf mich warten sah, bin ich rasch in die entgegengesetzte Richtung ausgebüchst und schlenderte alleine nach Hause.

Auch bewunderte ich meine Mutter, wenn wir auf der Straße gingen und sich Passanten umdrehten und flüsterten „Das ist doch die Mayen“, hat mir das gefallen und ich war stolz an ihrer Seite zu gehen. Und sie gefiel mir in ihrem eleganten Abendkleid, wenn sie auf meinen Vater wartete, der fluchend sein Kragenknöpchen nicht ins Knopfloch bekam. Man trug damals steife Krägen zum Frack.

Im Februar 1934 kam es zum Aufstand der Sozialdemokraten gegen die Ständestaat-Diktatur von Kanzler Engelbert Dollfuß Das politische Ausmaß habe ich als Achtjährige nicht verstanden, ich weiß nur, dass man vom nahe gelegenen Karl-Marx-Hof einige Schüsse hörte und ich an diesem Tag nicht in die Schule gehen durfte. Im Juli darauf wurde Dollfuß dann beim sogenannten Juli-Putsch von den Nationalsozialisten ermordet. Mein Vater kam heim und erzählte, dass Dollfuß angeschossen in seinem Büro im Kanzleramt verblutet war. Der Ausdruck „verbluten“ hat mich enorm beeindruckt; ich habe ihn mir bis heute gemerkt.

Die politischen Ereignisse beschäftigen mich noch nicht allzu sehr, wesentlich interessanter waren für mich die alljährlich stattfindenden Umzüge und Kostümfeste. Ein für mich ähnlich spannendes Erlebnis war die Firmung der Kronenzeitung. Zu Beginn der dreißiger Jahre veranstaltete die Redaktion jedes Jahr eine große Firmung. Sie lud 24 Kinder aus armen Verhältnissen, 12 Buben und 12 Mädchen, zur Firmung. Die Kinder wurden ausgestattet, eingekleidet und bekamen Geschenke. Als Firmpaten wurden je ein bekannter Schauspieler für die Buben und eine Schauspielerin für die Mädchen gebeten. Auch meine Mutter war einmal Patin. Wochenlang wurde in der Zeitung über die Vorbereitungen berichtet: Wo der Bus steht, in den die Kinder steigen würden und welche Route er fahren sollte, um die Firmlinge in die Stephanskirche zu bringen. Es war eine unglaubliche Reklame für die Kronenzeitung, ganz Wien war auf den Beinen. Ich durfte mit dabei sein. Am Burgtheater begann die Fahrt und führte über den Ring und die Kärntnerstraße zum Dom. Die Leute standen links und rechts Spalier, winkten und jubelten, fast wie etliche Jahre später bei Hitler. Nach der Firmung wurden die Kinder in den Prater gefahren und bekamen im „Eisvogel“, einem bekannten Wiener Gasthaus, ein Mittagessen. Ich erinnere mich an den Speisesaal im ersten Stock mit einem Balkon, von dem aus man auf die vielen Menschen hinuntersehen konnte – ein richtiger Volksauflauf. Einige Jahre später bei meiner eigenen Firmung durfte auch ich in einem mit weißen Blumen geschmückten Fiaker in den Prater fahren, allerdings ohne Publikum, nachdem ich in der Stephanskirche den Backenstreich bekommen hatte.

Sehr wichtig war für mich auch die Fronleichnamsprozession im Frühling. Beim Aufwachen hörte ich schon aus der Ferne die Blasmusik. Viele Leute aus der Stadt kamen und standen am Straßenrand, um sich den Umzug anzusehen. Die Straßen waren mit Gras bestreut, und an den Häusern standen kleine Birken. Ich war schrecklich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, endlich zur Kirche zu kommen, wo sich die Prozession formierte. Einmal habe ich einen Polster tragen dürfen, auf dem ein Myrtenkränzchen lag. Ich hab mich regelrecht darum gerissen. Als dann allerdings der Umzug in der brütenden Hitze fast zwei Stunden dauerte, hätte ich am liebsten das Kissen samt Kränzchen in einen Gulli gestopft, um ihn loszuwerden. Wenn dann alles vorbei war, erholten sich Teilnehmer wie auch die Zuschauer bei den vielen umliegenden Heurigen. Die Blasmusik spielte noch den ganzen Festtag.

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Als Balletttänzerin beim Kostümfest (vorne rechts)

und langsamschloss sich das Tor meiner Kindheit