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Michael Landau — SOLIDARITÄT

Mein besonderer Dank gilt Martin Gantner für die Begleitung und Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Buches.

Michael Landau

SOLIDARITÄT

Anstiftung zur Menschlichkeit

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INHALT

SOLIDARITÄT

… oder warum wir eine Renaissance der Zivilgesellschaft brauchen.

1. HABEN SIE WIEN SCHON BEI NACHT GESEHEN?

… oder warum wir uns mit dem Auseinanderdriften von Arm und Reich in Österreich nicht abfinden dürfen.

2. ZUHAUSE AUF DEN STRASSEN EUROPAS

… oder warum wir nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Solidaritätsunion brauchen.

3. LAMPEDUSA GRENZT AN ÖSTERREICH

… oder warum wir Verantwortung in einer zusammenwachsenden Welt nicht abschieben können.

4. DER BLICK AUF DEN TELLERRAND

… oder warum die Art und Weise, wie wir leben, dazu beitragen kann, den Hunger zu besiegen.

5. WENN DAS EIGENE LEBEN BRÜCHIG WIRD

… oder vom Sterben meiner Eltern, und warum sich Solidarität am Ende des Lebens als wichtig erweist.

6. WORAN ICH GLAUBE

… oder die Kirche, die ich meine.

VERÄNDERUNG ERWÄCHST AUS BEGEGNUNG – „DANKE!“

SOLIDARITÄT

… oder warum wir eine Renaissance der Zivilgesellschaft brauchen.

Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, fiel an einem Dienstag vor nicht allzu langer Zeit. Ich war in unserer Obdachloseneinrichtung Gruft in Wien, umgeben von knapp 200 Menschen, die für ein Abendessen anstanden. Auch wenn der Winter deutlich milder verlief als in den Jahren zuvor, reichte die Schlange vor der Essensausgabe bis in den Vorraum, den Gang entlang zurück bis zur Eingangstür. Menschen standen wie zuletzt an jedem Abend dicht an dicht, den Teller mit einer warmen Mahlzeit vor sich auf dem Fensterbrett. Einige saßen auf dem Boden, andere auf ihren mitgebrachten Taschen. Die Plätze an den Tischen waren längst vergeben. Eine, die seit Jahren immer wieder in die Gruft kommt, ist Johanna. Sie arbeitete lange als Reisebegleiterin und Stewardess. „Ich habe irgendwann den Halt verloren“, sagte die 54-Jährige einem unserer Mitarbeiter einmal. „Und wenn du einmal draußen bist, dann ist es irrsinnig schwer, wieder reinzukommen.“ Auch Johanna stand an diesem Abend in der Schlange um ein Essen an.

Ich durfte in den vergangenen 20 Jahren, seit ich für die Caritas tätig und im Einsatz bin, viele Menschen wie sie kennenlernen. Menschen, die ein Leben an den Rändern der Gesellschaft führen, oft auch an den Rändern des Lebens – in Mutter-Kind-Häusern in Linz, Graz oder in Wien. In Einrichtungen für drogenabhängige Menschen in Feldkirch oder Innsbruck. In Projekten für arbeitslose Jugendliche in Salzburg, aber auch in Wärmestuben und Suppenküchen in Bukarest oder in Chișinău. In Flüchtlingslagern im Libanon oder in Jordanien und in der Unterstützung für alte, pflegebedürftige Menschen hier in Österreich, oder in der Ukraine. Menschen auf der Suche nach Arbeit. Menschen in der Hoffnung auf einen Neuanfang. Und Menschen am Ende ihres Lebens. Mindestpensionisten. Kinder. Familien in Not. Dort, wo das Leben brüchig wird. Hier bei uns und an weit entfernten Orten.

Wer mit offenen Augen durch das Leben geht, weiß: Unsere Welt hat Risse bekommen. Sie dreht sich heute deutlich schneller als noch vor wenigen Jahren. Der Hunger, die Kriege, auch der Terror in Europa – all das ist uns heute näher als noch vor kurzer Zeit. In einer Welt, die wir gerne als globalisiertes Dorf bezeichnen, liegt Syrien im Vorgarten, die Ukraine in der Nachbarschaft und das eigene Wohnzimmer teilen wir uns mit 1,2 Millionen Österreicherinnen und Österreichern, die arm oder akut armutsgefährdet sind.

Diese Gleichzeitigkeit, das Unmittelbare – die Tatsache, dass Nachrichten in Echtzeit und wie das Wetter auf uns einprasseln – heute bewölkt, morgen stürmisch und nur noch selten windstill –, all das kann ein Gefühl der Überforderung und Ängste auslösen. Auch bei mir. Zwar nicht oft, aber doch von Zeit zu Zeit.

An diesem Dienstagabend in der Gruft waren es vermutlich eben diese Risse in der Fassade, diese Gleichzeitigkeit der Katastrophen, die mich verunsicherten. Ich war gerade von einer Reise aus dem Nordirak zurückgekehrt. Ein Land, in dem zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Million Menschen auf der Flucht vor der Terrormiliz Islamischer Staat waren. Männer, Frauen, Kinder. An eines von ihnen erinnere ich mich besonders gut: Sie hieß Fatima. Ein sechs Jahre altes Mädchen, das mit ihrer Mutter in einer mehrstöckigen Betonruine in Zakho, unweit der syrischen Grenze Zuflucht gefunden hatte. Während in Österreich zu diesem Zeitpunkt untergriffig über Obergrenzen für Flüchtlinge gestritten wurde, saß dieses Mädchen vor mir neben einer offenen Feuerstelle, in einem von der Kälte nur ungenügend geschützten Haus: Gezeichnet von den Folgen des Kriegs und ohne konkrete Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

In Momenten wie jenem in der Gruft oder jenem in der nordirakischen Betonruine wird mir deutlicher als sonst bewusst: Wir alle können in unserem Umfeld konkrete Zeichen der Solidarität und Nächstenliebe setzen. Denn in Zeiten, da die gesellschaftlichen Gräben tiefer werden, da die Polarisierung zunimmt und wir in vielen Bereichen des Lebens eine Krise des Vertrauens durchleben, sollten wir uns auf unsere Stärken fokussieren und uns nicht von unseren Ängsten treiben lassen. Nichts hemmt solidarisches Handeln mehr als Angst.

Ich war in den vergangenen zwei Jahrzehnten häufig an Orten in Österreich und darüber hinaus weltweit, an denen Not spürbar wird. Vieles war bedrückend. Aber – oft verborgen, manchmal ganz klar – ist an diesen Orten neben der Not vor allem auch sehr viel Mut, Hoffnung und Zuversicht erfahrbar. Hoffnung, weil ich darauf vertrauen darf, dass jene Hilfe, die hunderttausende Österreicherinnen und Österreicher leisten, wirkt. Weil ich sehe, wie viel die Hilfe verändert: Wenn Menschen wieder Arbeit haben, Wohnraum finden, Lebensperspektiven entwickeln. Zuversicht, weil ich weiß, dass auch heute Abend jemand da sein wird, der Johanna und all den anderen in der Gruft zu essen gibt. Weil ich weiß, dass ein Teil unserer Hilfe mittlerweile in Zakho und damit hoffentlich auch bei Fatima und ihrer Familie angekommen ist. Vor allem aber lebe ich in der Gewissheit, dass sehr viele Menschen in Österreich und in der ganzen Welt an einer besseren Zukunft mitarbeiten. Freiwillige, Ehren- und Hauptamtliche. Junge und alte Menschen. Lehrlinge, Studierende, Pensionisten und Berufstätige in ihrer Freizeit. Allein bei der Caritas sind es österreichweit Zehntausende, die sich engagieren. Sie verteilen Suppe an obdachlose Menschen. Sie organisieren Lebensmittelausgaben in den Pfarren. Sie geben Kindern aus schwierigeren Verhältnissen Nachhilfe, und sie stellen Menschen auf der Flucht ein Dach über dem Kopf zur Verfügung. Sie besuchen pflegebedürftige Menschen Zuhause, ermöglichen langzeitarbeitslosen Jugendlichen Chancen und helfen Menschen mit Behinderungen ihre Stärken zu entfalten.

All diese Menschen machen das Potenzial der Anständigkeit deutlich, das in uns steckt. Der Möglichkeit nach in jeder und jedem von uns. Sie helfen, weil sie intuitiv zu spüren scheinen: Es kommt auch auf mich an! Sie stärken das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie schenken Zuversicht und Hoffnung – und sie verändern dadurch auch ihr eigenes Leben ein Stück weit zum Positiven. Denn der Versuch, ein gutes, ein gelungenes Leben zu führen, ist auch Ausdruck der eigenen Würde und Entfaltung unseres Menschseins. Es ist der Versuch, mit den eigenen Wertvorstellungen im Einklang zu leben. Der Versuch, der inneren Gewissheit Rechnung zu tragen, dass der Schlüssel zu einem geglückten Leben eben nicht nur darin liegt, sich nur um das eigene Glück, sondern gerade auch um das Glück der anderen zu sorgen. Der Versuch, Solidarität und Gerechtigkeit auch im globalen Kontext zu buchstabieren.

Ich bin überzeugt: Wir werden diese Renaissance der Zivilgesellschaft, die wir in den vergangenen Monaten an den Grenzen, an den Bahnhöfen und in den Notquartieren so intensiv erfahren haben, auch in Zukunft brauchen. Vielleicht sogar noch dringender, noch kraftvoller und engagierter als heute. In dem Wissen, dass wir in diesem globalisierten Dorf selbst zu Hause sind, müssen wir uns die Frage stellen: Wie und welche Lösungen werden wir finden, um die Aufgaben, die anstehen, zu bewältigen? In Österreich, wenn es darum geht, den Sozialstaat zukunftstauglich für alle Menschen auszugestalten, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und das Auseinanderdriften von Arm und Reich in unserer Gesellschaft zu verhindern. In Europa, wenn wir vor der Aufgabe stehen, das unmenschliche Armutsgefälle innerhalb des Kontinents zu überwinden und aus einer Wirtschaftsunion so etwas wie eine echte Solidaritätsunion zu bauen. Und weltweit, wenn wir gefordert sind, Lösungen zu finden, um das bestehende Ungleichgewicht zwischen den reicheren Industrieländern und dem globalen Süden in eine vernünftige Balance zu bringen. Denn nur ein solcher Ausgleich kann letztlich verhindern, dass Menschen in großer Zahl ihre Heimat verlassen und auf dem Weg nach Europa zu Tausenden im Mittelmeer ihr Leben riskieren. All diese Fragen, aber auch das schwindende Vertrauen in die Wirtschaft und das wachsende Misstrauen gegenüber politischen Eliten verpflichten uns, und sie machen deutlich: In einer zusammenwachsenden Welt brauchen wir auch eine Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins und der Solidarität. Solidarität im Weltmaßstab, nicht nur für den Hausgebrauch. Denn ein geglücktes Leben gelingt nicht am anderen Menschen vorbei. Einfach schon deshalb, weil wir einander brauchen, weil wir unserem Wesen nach aufeinander verwiesen sind. Jede und jeder von uns. Von Geburt an. Bis hin zu unserem Tod. Auch wenn Briefkastenfirmen in Panama und in anderen Oasen dieser Welt einen gegenteiligen Schluss nahelegen mögen: Diese Welt ist für uns alle da, nicht nur für einige wenige. Hier wieder zu einer Sprache der Gerechtigkeit, zu einem Sensorium der Solidarität zu finden, scheint mir zentral. Denn gerade die vergangenen Jahre haben deutlich gemacht: In einem Meer von Armut sind Inseln des Wohlstands auf Dauer nicht stabil. Wir werden mehr teilen müssen. In Österreich. In Europa. Und im weltweiten Kontext.

Es geht also um Solidarität und theologisch gesprochen um Nächstenliebe ohne Wenn und Aber – um Nächstenliebe, die jene im Blick hat, die gerade in Not sind. Sie muss dem Fernen und Fremden ebenso wie unserem räumlich Nächsten und unserem unmittelbaren Gegenüber gelten. Da wie dort. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Dann, wenn es um hunderttausende Menschen geht, die in Österreich ohne Arbeit sind, die sich das Wohnen immer schwerer leisten können, die Sorgen haben, wie es in der Pflege ihrer Angehörigen weitergeht. Und ebenso dort, wo tausende Kinder in unseren nächsten Nachbarländern ein Leben in bitterer Armut führen müssen und wo Millionen Menschen etwa im Südsudan vom Hunger bedroht sind. Ich bin selbst Seelsorger in einem unserer Pflegewohnhäuser. Mein Glaube, vor allem aber die Gespräche mit den Menschen, die ich dort begleite, machen mich sicher: Wir werden am Ende unseres Lebens nicht vor der Frage stehen, was wir verdient haben. Auch nicht vor der Frage nach unseren Titeln, unserem Prestige in der Gesellschaft, so angenehm all das auch sein mag. Sondern wir werden vor der Frage stehen, ob wir aufeinander geachtet haben, füreinander da waren, ob wir als Menschen gelebt haben. Was zählen wird, sind die Taten, nicht die Theorien. Kriterium für die Taten aber sind die anderen.

Irgendwann wird der Tag kommen, da hoffentlich wieder weniger Menschen in unserem Land von Arbeitslosigkeit betroffen sein werden und da etwa auch die Zahl der Flüchtenden zurückgehen wird. Ich glaube, wir sollten an jenem Tag in naher oder ferner Zukunft auf das Hier und Heute in dem Wissen zurückblicken können, unser Bestes für Menschen in Not getan zu haben. Wir dürfen nicht schweigen, wo Menschen durch Menschen Unrecht geschieht. Darum geht es. Auch darum, dieses Land und diese Welt ein Stück schöner, gerechter, menschenfreundlicher zurückzulassen, als wir sie vorgefunden haben.

Ich vertraue fest darauf, dass wir den Weg bewältigen können, auch wenn er steiler und vielleicht steiniger wird. Dazu müssen wir jedoch zusammenstehen und dürfen keinesfalls auf die Schwächsten unter uns vergessen. Ich glaube an Gerechtigkeit, an eine faire Zukunft auch für Menschen, die in schlechtere Lebensbedingungen hineingeboren wurden. Vor allem aber glaube ich an all jene Menschen, denen diese Not nicht egal ist, die sie nicht kalt lässt. Auch dann nicht, wenn die Nachrichtenlage unübersichtlich ist, wenn der Terror inzwischen auch europäische Metropolen erreicht und die Guten von den Bösen nicht immer leicht zu trennen sind. Ganz einfach deshalb, weil es für sie und uns nur eine Maßeinheit gibt: die Maßeinheit Mensch. Kardinal König prägte schon vor vielen Jahren das Wort: „Wir leben auf einer Insel. Früher hieß diese Insel Österreich. Dann Europa. Heute umfasst sie die ganze Welt.“ Nein, wir können nicht die ganze Welt retten. Aber wir sollten nicht aufhören, es auf jeden Fall zu versuchen. Besonders in Zeiten wie diesen ist es wichtig, dass wir den Mut haben, solidarisch zu sein mit all jenen, die uns brauchen. Wir sind in eine Schicksalsgemeinschaft verwoben. Eine Schicksalsgemeinschaft, aus der niemand ausgeschlossen werden, aus der sich aber auch niemand davonstehlen darf. Solidarität meint dabei die Fähigkeit, sich selbst im Anderen und den Anderen in sich selbst zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Diesem Handeln Raum zu geben, scheint mir wichtig.

„Solidarität. Anstiftung zur Menschlichkeit.“ So lautet der Titel meines Buches. Und so lautet meine Bitte an Sie: Lassen Sie sich anstiften! Denn Veränderung – das habe ich in den vergangenen 20 Jahren immer wieder erlebt – fängt nicht nur im Kleinen und mit dem Hinsehen, sondern vor allem mit jeder und jedem von uns an. Das soll auf den nun folgenden Seiten deutlich werden. Begleiten Sie mich durch dieses Buch hindurch an Orte, wo das Leben brüchig werden kann: In die Gruft, in Flüchtlingsunterkünfte in Österreich und im Nordirak, hin zu Menschen im Senegal, die gegen den Hunger kämpfen. Ich werde ihnen von einer alleinerziehenden Mutter berichten, von Männern, Frauen und Kindern, die ihre Heimat verlassen mussten, von Bettlern auf den Straßen Wiens und davon, welche Rolle der Tod eines geliebten Menschen im je eigenen Leben spielt. Ich werde dabei an all diesen Orten die Frage stellen, warum uns die Not und das jeweilige Gegenüber etwas angehen. So viel sei an dieser Stelle schon verraten: Es sind längst nicht nur Orte der Krisen und der Katastrophen, sondern vor allem auch Orte, die im Kern bereits auf das Mögliche und auf Veränderung zum Positiven hin ausgerichtet sind. Diese Orte und Geschichten machen deutlich, wofür der gemeinsame Einsatz lohnt.

Oft wird behauptet: Die Krisen nehmen überhand, und sie sind ausweglos. An diese These glaube ich nicht. Sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten oft genug widerlegt. In Österreich, in Europa und darüber hinaus. In Österreich erlebten wir Jahrzehnte des Wohlstands und des wirtschaftlichen Aufschwungs, in Europa Jahrzehnte des friedvollen Miteinanders, und weltweit gelang es uns bereits erfolgreich, den Hunger maßgeblich zu reduzieren, Menschen Zugang zu Trinkwasser zu ermöglichen und die durchschnittliche Lebenserwartung zu erhöhen – vor allem von Kindern. Dabei stimmt: Die Vergangenheit kommt nicht wieder, ganz gleich, welche Zeit auch immer wir als „die glückliche“ abgespeichert haben. Aber der Blick zurück und die Erfahrungen, die wir heute machen, können uns lehren: Wir haben die Phantasie, den Mut und die Möglichkeiten, Gegenwart und Zukunft gut zu gestalten.

Ja, wir erleben Zeiten des heftigen Umbruchs. Doch wie wir diesen Umbruch gestalten, liegt auch ganz maßgeblich in unseren Händen. Es liegt am Engagement der Vielen und an der Solidarität, die Institutionen, Staaten und die vor allem Menschen einander zuteilwerden lassen. Nüchternheit und Optimismus in unübersichtlichen Zeiten. Darum geht es. Dieses Buch ist der Versuch, diesen Optimismus zu stärken und aufzuzeigen, wie jede und jeder von uns einen Beitrag leisten kann. Man muss dafür nicht an Wunder glauben. Es reicht der Glaube daran, dass das Gemeinsame letztlich stärker ist als das Trennende, dass das „Wir“ mehr bewirken kann als jede und jeder von uns alleine. Ich bin überzeugt, wir werden beides brauchen: Strukturelle und politische Lösungen, das Bemühen um Gerechtigkeit, lokal ebenso wie im Weltmaßstab, aber eben auch das konkrete Engagement der Vielen – eine Renaissance der Zivilgesellschaft in Österreich und darüber hinaus weltweit.

MICHAEL LANDAU, Wien, Sommer 2016

1. HABEN SIE WIEN SCHON BEI NACHT GESEHEN??

… oder warum wir uns mit dem Auseinanderdriften von Arm und Reich in Österreich nicht abfinden dürfen.

Bei einem meiner letzten Einsätze mit den Streetworkern der Gruft hat es wie aus Kübeln geregnet. Es war November, und es war kalt. Das Thermometer zeigte nur wenige Grad über Null. Ich habe mich gefragt, wie Menschen 365 Tage im Jahr auf der Straße leben können, wenn mir die Kälte bereits nach wenigen Stunden dermaßen in den Knochen sitzt. Wie ist es möglich, in dünne Decken oder einen Schlafsack gehüllt auf Zeitungspapier oder Packkarton zu übernachten? Wie ist es möglich, nicht an Verlassensein und Kälte zugrunde zu gehen? Ein Mann mittleren Alters, auf den wir bereits ganz in der Nähe unserer Obdachloseneinrichtung gestoßen sind, hat mir im Gespräch gesagt: „Das Schlimmste sind die Kälte und die Einsamkeit.“ Er habe so vieles im Leben falsch gemacht. Der Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft falle ihm unendlich schwer.

Bei den Einsätzen mit meinen Kolleginnen und Kollegen von der Gruft habe ich Menschen kennengelernt, Männer und Frauen, die in Kellern von Abbruchhäusern ebenso übernachteten wie auf öffentlichen Toilettenanlagen. Ein älterer Mann wohnte in einem dunklen Kellerraum, dürftig mit Karton ausgelegt. Er lag auf einer muffigen, schmutzigen Matratze. In Gesellschaft von ein paar Ratten und getröstet von eineinhalb Flaschen Wodka am Tag. Früher habe ich geglaubt, die Menschen sind obdachlos, weil sie trinken.

In der Zwischenzeit habe ich gelernt: Meistens ist es umgekehrt. Die Menschen trinken, um auszuhalten, Nacht für Nacht auf der Straße oder an Orten wie diesem übernachten zu müssen.

Der alte Mann, er hätte mein Großvater sein können, hatte ein Plastiktuch mit einer aufgedruckten Blume als Schmuck an der Wand befestigt. Die meisten seiner Schicksalsgefährten aber hatten nichts außer ein paar Erinnerungen an bessere Tage – einige Träume, die nicht in Erfüllung gegangen sind und das vage Gefühl, ihr Leben hätte nicht so verlaufen müssen und dass ihnen irgendetwas vorenthalten worden war. Nur was, das bleibt unklar.

Am Ende dieses Abends konnten wir zumindest drei Menschen in die Gruft in Mariahilf bzw. in die Zweite Gruft in Wien-Währing bringen. An Orte also, an denen sie nicht nur ein warmes Bett, sondern auch eine warme Mahlzeit erhalten, wo sie sich duschen und zur Ruhe kommen können. Im Warmen und im Trockenen. Orte, an denen sie nicht vertrieben werden.

Wer Streetworker einmal an Orte begleiten durfte, wo jene Menschen wohnen, die keine Wohnung mehr haben – und das war immer eine wichtige Erfahrung auch für mich selbst – der sieht die eigene Stadt mit einem Mal mit anderen Augen. Ein solcher Einsatz führt einen direkt an die Ränder der Gesellschaft – an Bahnhöfe, in Parks und in Hauseingänge. Er führt aber ganz grundsätzlich gesagt auch an Orte, an denen das Leben und die Gesellschaft insgesamt brüchig geworden sind. An Orte, an denen offenbar wird, dass unser Sozialstaat, das soziale Netz, das uns vor einem Absturz bewahren sollte, rissiger und dünner, ja dass es vermutlich auch grobmaschiger geworden ist. Diese Orte liegen nicht mehr nur auf der Straße und in Parkanlagen, sie sind längst auch bis in die Mitte der Gesellschaft hinein zu finden. Nach 20 Jahren Arbeit für die Caritas kann ich mit Sicherheit sagen: Der Einsatz mit den Streetworkern der Gruft führt lediglich hin an die Spitze des Eisbergs. Und diese Spitze ist wohl weithin und für alle, die sie sehen wollen, sichtbar. Gleichzeitig leben aber auch in Österreich heute sehr viele Menschen ein Leben im Abseits, Frauen und Männer, bei denen man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Konkret sind gegenwärtig 1,2 Millionen Österreicherinnen und Österreicher armutsgefährdet. Darunter knapp 300.000 Kinder und Jugendliche. Allesamt Menschen, die weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens in Österreich zur Verfügung haben. 405.000 gelten sogar als manifest arm. Es sind Menschen, die sich kein nahrhaftes Essen, keine neue Kleidung, keine warme Wohnung leisten können. Männer, Frauen und erschreckend oft auch Kinder, für die ein Arztbesuch nicht selbstverständlich, ein leerer Kühlschrank hingegen häufig Realität ist. Auch diese Zahl beruht auf keiner blinden Hochrechnung: Es sind die offiziellen Daten der Republik.

Ähnlich beunruhigend ist gegenwärtig der Blick auf Arbeitsmarktstatistiken. Auch hier ist die Situation dramatisch angespannt. Mehr als 400.000 Männer und Frauen – so viele wie noch nie in der Geschichte der Zweiten Republik – waren etwa im Sommer 2016 ohne Arbeit und damit auch oftmals ohne Hoffnung und Perspektive. Immer mehr Menschen stehen aufgrund sich ändernder Familien- und Gesellschaftsstrukturen vor der Frage, wer für sie da sein wird im Alter, wenn sie Pflege brauchen. Wer steht mir bei, wenn jetzt der Vater oder die Mutter dement werden und die Familie zerstreut ist, wenn der Zusammenhalt nachlässt, schwieriger wird – auch aufgrund sich ändernder sozialer Strukturen? Mütter und Väter sorgen sich um die Zukunftschancen ihrer Kinder, weil sie ahnen, was mittlerweile auch Studien bestätigen: Armut wird noch immer vielfach vererbt. Aus armen Kindern werden arme Eltern.

Aber auch die immateriellen Formen der Armut sind greifbarer geworden. Sie finden ihren Ausdruck in Einsamkeit, in sozialem Ausschluss, letztlich auch in einer Sehnsucht nach Sinn.

Diese materielle wie auch die immaterielle Armut zeigen sich in pfarrlichen Wärmestuben, in Familienzentren, dort, wo Menschen gepflegt oder mit psychischen Erkrankungen betreut werden, in Sozialberatungsstellen ebenso wie in Projekten für langzeitarbeitslose Menschen in ganz Österreich.

Orte, die zum einen für Engagement und solidarischen Einsatz für Menschen in Not stehen. Und Orte, die zum anderen deutlich machen, dass der Druck steigt – und zwar auf zunehmend mehr Menschen, die ihren Alltag bislang sicher bestritten haben; auf Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Milieus der Gesellschaft. Meine Kollegin aus der Gruft, Susanne Peter, kennt viele dieser brüchigen Orte in Wien – zumindest jene, die von wohnungs- und obdachlosen Menschen aufgesucht werden. Und die meisten dieser Menschen kennen Susi. Gabriel, der auf der Donauinsel lebt. Roman, der in einem Park unter einer Plastikplane wohnt. Andrea, die lange windgeschützt am Donaukanal gelebt hat, bis ihr Freund an den Folgen der Kälte und des Alkohols gestorben ist. Oder Herr Kolarik, der gemeinsam mit seinen Aufzeichnungen, seinen Sackerln und dem Rauschebart im Stadtpark gewohnt hat.

Winter für Winter wird das Leben auf der Straße für einige hundert Menschen in Wien zum täglichen Kampf. Auch in Graz, in Salzburg oder Linz gibt es Menschen, die das ganze Jahr und selbst dann in Parks und an windgeschützten Orten schlafen, wenn es genügend Betten in den Notquartieren gibt. Sei es, weil sie psychisch erkrankt sind, oder weil sie sich selbst oder der Gesellschaft nicht mehr trauen. Nichts, so hat es meine Kollegin Susi Peter einmal formuliert, ist so hart wie der Schlafplatz dieser Menschen. Nichts ist so hart, wie das Leben auf der Straße.

Die Gruft und ich sind seit mehr als 20 Jahren Teil der Caritas. Oder anders gesagt: Seit etwas mehr als 20 Jahren darf ich die Menschen, die hier ein- und ausgehen, auf ihrem Weg begleiten. Gleichzeitig ist klar: Trotz ihrer Einzigartigkeit kann und muss die Gruft heute stellvertretend für viele Einrichtungen und Angebote in ganz Österreich stehen. Für Angebote, die wie Seismographen und Spiegel der Gesellschaft im Kleinen sind. Mutter-Kind-Häuser, Obdachlosen-Einrichtungen, Sozialberatungsstellen, Familienzentren und die verschiedensten Entlastungsangebote – etwa für Angehörige von Menschen mit Demenz. Die Bilder, die diese Spiegel aufzeichnen, sind in mancherlei Hinsicht beunruhigend geworden. Sie zeigen eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet. Eine Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich zu wachsen scheint. Langsam, aber doch. Bilder, die deutlich machen, dass auch bei uns – in einem Land, das noch immer oft als eines der reichsten Länder der Welt bezeichnet wird – zunehmend mehr Menschen das Gefühl haben, von Wohlstand und Reichtum nicht mehr profitieren zu können, keinen Anteil daran zu haben, sondern in dem sie im Gegenteil mit der Wahrnehmung konfrontiert sind, es wird auch für sie schwieriger, enger, dass sie dem Druck des Alltags nicht mehr standhalten können. Arbeiter und Angestellte. Pensionisten und Alleinerzieher. Menschen, die schon lange einen Job suchen und keinen finden. Menschen, die zunehmend gereizt und verständnislos reagieren, wenn in der öffentlichen Debatte davon die Rede ist, Österreich müsse sich als eines der wohlhabendsten Länder Europas und der Welt ja wohl dieses oder jenes leisten können. Diese Menschen können es nicht. Ihre Wahrnehmung und Lebensrealität ist eine andere.

Ja, es ist schon richtig: In Österreich erfrieren und verhungern Menschen nicht, wenn sie von Armut betroffen sind – aber gehungert und gefroren wird auch bei uns. Innerlich, aber auch äußerlich und da wie dort real. Die gute Nachricht lautet zwar, dass wir das Beben der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise bislang deutlich besser überstanden haben als so manch anderes europäisches Land; die Jugendarbeitslosigkeit ist geringer als in Frankreich, die Staatsverschuldung niedriger als in Italien. Doch gleichzeitig gilt, dass auch hier bei uns die Spuren und die Nachbeben der Finanzkrise deutlich zu spüren sind.

Im Jahr 2014 haben wir in der Gruft in Wien erstmals mehr als 110.000 warme Mahlzeiten ausgegeben. Mittags und abends. Sieben Tage in der Woche. 365 Tage im Jahr. Es war ein absoluter Negativrekord und zum Vergleich: Zehn Jahre zuvor waren es noch 71.200 warme Mahlzeiten. Dabei haben ein Drittel der Klienten nach Schätzungen unserer Mitarbeiter zwar noch ein Dach über dem Kopf; aber sie kommen in die Wiener Barnabitengasse, weil sie spätestens zu Monatsende vor der Frage stehen, ob sie das verbliebene Geld für Essen oder Heizen ausgeben sollen. Für beides zusammen reichen die Mittel nicht aus. Eine, die eben seit Jahren immer wieder kommt, ist Johanna. „Ich habe irgendwann den Halt verloren“, sagt die 54-Jährige, die früher als Reisebegleiterin und Stewardess gearbeitet hat. „Und wenn du einmal draußen bist – wenn du keine Adresse mehr hast, die du angeben kannst, keine Freunde und keine Familie mehr hast, die dich auffängt, dann ist es irrsinnig schwer, wieder reinzukommen.“

Dass Armut in Österreich ein Teil der Realität ist, sehen wir nicht nur in der Bundeshauptstadt. Auch in Dornbirn oder Innsbruck. In Salzburg ebenso wie in Kirchdorf an der Krems oder in Knittelfeld. Ein Drittel der Menschen, die sich an unsere Sozialberatungsstellen wenden, hat nach Abzug der Fixkosten – im Wesentlichen rund ums Wohnen – weniger als acht Euro täglich pro Person zur Verfügung. Das heißt acht Euro müssen für Essen, Kleidung oder auch für Babynahrung und Windeln reichen. Die Menschen kommen nicht mehr, um vielleicht wie früher Unterstützung für den Schulschikurs der Kinder zu erhalten. Heute geht es um Existenzielleres. Sie suchen etwa Hilfe, weil sie ihre Mieten oder Energierechnungen nicht mehr begleichen können. Insgesamt sind es mehr als 58.200 Menschen pro Jahr, die in den Sozialberatungsstellen direkt oder indirekt Unterstützung bekommen. Und auch hier ist mir die Geschichte einer unserer Klientinnen in Erinnerung geblieben – jene von Barbara, einer Alleinerzieherin aus Niederösterreich. Ihre letzte Festanstellung liegt schon länger zurück. Wie so viele andere auch versucht sie, sich mit Teilzeitjobs über Wasser zu halten. Putzen. Kellnern. Befristet und in unregelmäßigen Abständen. Sie ist Mutter von zwei Kindern. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben ihr knapp 350 Euro im Monat für Essen, Heizen und Besorgungen des täglichen Bedarfs: 11,66 Euro pro Tag für drei Personen. Barbara kämpft mit Mietrückständen, Delogierungsandrohungen, Abschaltankündigungen ihres Energieversorgers und mit den Wünschen ihrer Kinder. Die Heizkörper bleiben meistens kalt. Und Barbaras Heizung ist nicht die einzige. Laut offiziellen Daten der Statistik Austria waren es im Jahr 2015 mehr als 220.000 Menschen in ganz Österreich, die nicht in der Lage waren, ihre Wohnung in angemessener Weise warmzuhalten. Es sind häufig Mindestpensionisten, Alleinerziehende oder auch Mehrkindfamilien, die in den eigenen vier Wänden frieren.