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Lotte Tobisch
Langweilig war mir nie

Lotte Tobisch

Langweilig war mir nie

Warum es sich lohnt, neugierig zu bleiben

Aufgezeichnet von
Marie-Theres Arnbom

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Inhalt

Meine überforderte Mutter

März 1938

Schulzeit

Mein Theaterstipendium

1945

Die Russen kommen

Eine unglaubliche Liebesgeschichte: Meine Eltern

Mein Stiefvater Gustl Lederer

Eine Todsünd’ wert: Heinrich Benedikt

Als Sexbombe ungeeignet

Erhard Buschbeck

Handwerkliches Geschick

Eine kolossale Erfindung

Geld, Zufriedenheit und die Russenerbsen

Gesellschaftliche Befindlichkeiten

Intoleranz und Vorurteile

Emanzipation

Verbote und Verantwortungsgefühl

Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Schönheit, Kitsch

Arbeit und Freizeit

Was bietest du der Welt?

Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit

Wien: Mischung aus New York und St. Pölten

Zwei Päpste

Alles geht: Raoul Aslan

Eine merkwürdige Beziehung: Theodor W. Adorno

Adlmüller und die Schönheit

Der leidige Opernball, mit dem ich berühmt geworden bin

Künstler helfen Künstlern

Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein

„Ich war ein freiheitsdurstiges achtzehnjähriges Mädchen, als ich aus meiner großbürgerlichen Familie mit großem Krach ausgebrochen bin und mein recht absurdes Leben begonnen habe – in Freiheit, ohne den Zwang, aber auch Schutz des goldenen Käfigs, in dem ich aufgewachsen bin.“

Lotte Tobisch

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Mutter und Tochter 1933

MEINE ÜBERFORDERTE MUTTER

Ich war ein schwieriges Kind, das sehr früh über alles nachgedacht und alles in Frage gestellt hat. Meine Mutter war eine schöne, zauberhafte Dame, die mit mir absolut nicht zurechtkam. Sie war von spontaner Intelligenz, aber viel einfacher gestrickt als ich. Und das war nicht nur für sie, sondern für uns beide wahnsinnig schwer. Ich war schon sehr früh ein sehr autarkes Kind. Man konnte mir nichts einreden, wenn ich es nicht begriffen habe. Brav sein, weil sich das so gehört, das war meine Sache nicht.

Meine Mutter hat immer erzählt, wie sie mit mir – ich war damals ungefähr vier Jahre alt – zum Demel auf ein Eis ging. Dort wurden wir von einer ihrer Freundinnen sehr herzlich begrüßt, aber gleichzeitig sagte die Dame zu mir: „Du hast aber eine böse Mama, die hat sich schon so lange nicht bei mir blicken lassen.“ Worauf ich einen roten Kopf bekommen und die Dame mit den Worten „Meine Mama ist die beste Mama!“ weggestoßen habe. „Du bist pfui!“, hab ich gerufen. Wie sich’s gehört, ganz ladylike, hat die besagte Freundin gefunden, dass ich ja ein reizendes Kind sei, halt sehr temperamentvoll, und gesagt: „Ach, das macht ja nichts, sie ist ein entzückendes Kind.“ Der Widerspruch zwischen meinem Temperament und meinem Äußeren muss frappant gewesen sein, denn ausgesehen habe ich wie ein Engerl. Blond und süß. Wenn man die Bilder sieht, kann man nur sagen: Gott, so was Liebes! Und das war ich nun wirklich nicht!

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Lotte, das Engerl, 1929

Ich muss schrecklich gewesen sein, meine arme Mutter hat mit mir viel mitgemacht. Ich war keine schlechte Schülerin, aber ich habe mit der Schule Probleme gehabt, weil ich immer etwas gefragt habe, was nicht gepasst hat, und nur gelernt habe, was mich auch wirklich interessiert hat.

Ich kam sehr früh in die Schule, war immer eine der Jüngsten und offenbar völlig unreif. Jedenfalls habe ich gern die Mitschüler zum Lachen gebracht, auch mithilfe der verbotenen Knallerbsen. Und so kam’s, dass man bereits nach zwei Jahren in der Volksschule des Sacre Coeur meiner Mutter nahegelegt hatte, sie soll doch eine andere Schule für mich suchen, weil ich für eine Klosterschule nicht gerade geeignet erscheine. Der unmittelbare Grund hiefür war ein sehr einfacher: Damals hat man noch mit Tinte und Feder geschrieben, und ich war schlampig und habe schreckliche Tintenpatzen gemacht. Da hat die Mère Supérieure eines Tages zu mir gesagt: „Wenn du so schreibst, wird sich das liebe Jesulein aber kränken.“ Worauf ich geantwortet habe: „Da kann man halt auch nix machen.“ Darauf hat man meiner Mutter, wohl zu Recht, mitgeteilt, dass ich nicht geschaffen sei für eine Klosterschule.

Unter den vielen Schulen, die ich besucht habe, gab’s eigentlich nur eine, die mir gewachsen war und die mich auch zum ernsthaften Lernen gebracht hat. Das war das Elite-Landerziehungsheim Schloss Marquartstein in Oberbayern. Warum meine Mutter mich schon nach einem Jahr aus dieser Schule nach Wien zurückgeholt hat, habe ich damals nicht verstanden und ihre Erklärung, dass sie mich näher bei sich haben wollte, habe ich nicht akzeptieren wollen. Heute bin ich mir sicher, dass es etwas mit Eifersucht zu tun hatte, mit einer Art Besitzanspruch am Kind, den man bei Müttern ja öfters finden kann. Wie dem auch sei, für mich war es schade, dass ich nur so kurz in Marquartstein sein konnte, denn dort wurden eigentlich alle Interessen geweckt, die mich mein ganzes Leben, bis heute, begleitet haben: Literatur, Theater, Geschichte, Politik, Kunstgeschichte und noch vieles mehr. Hätte mich meine Mutter länger in dieser wunderbaren Schule gelassen, vielleicht wäre dann doch noch etwas Vernünftiges aus mir geworden!

Meine Mutter war in brenzligen Situationen immer erstaunlich mutig, aber um mich hat sie viel Angst gehabt, denn sie hat mich ja sehr geliebt. Sie sagte oft: „Du wirst eines Tages noch erschlagen werden. Du forderst mit deiner unkontrollierbaren Offenherzigkeit, deiner leichtsinnigen Freigiebigkeit und deinem totalen Mangel an Misstrauen den Menschen gegenüber den Neid, die Missgunst und alle sonstigen schlechten Eigenschaften der Menschen geradezu heraus.“

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Im Sacre Coeur (4. von links) 1932

In manchem hat sie schon recht gehabt, aber ganz so dumm und leichtsinnig, wie sie dachte, war ich nicht. Ich habe sehr wohl gemerkt, was um mich vorgeht. Aber ich habe – im Unterschied zu ihr – schon sehr früh eine ganz andere Lebenseinstellung gehabt. Ich habe mich fast nie von jemandem oder durch jemanden zu etwas zwingen lassen, was ich nicht mehr oder minder gern gemacht habe. Und wenn man etwas gern macht, dann sind einem Anerkennung und Dankbarkeit nicht so wichtig, denn die Freude macht die Sache selbst und nicht so sehr der Erfolg. Wahrscheinlich ist diese Lebenseinstellung auch der Grund, warum ich selten wirklich enttäuscht wurde. Ich habe nie auf einen Gewinn spekuliert. Was natürlich nicht heißt, dass mich Anerkennung nicht sehr gefreut hätte.

MÄRZ 1938

Als Hitler im März 1938 in Österreich einmarschiert ist, war ich knapp zwölf Jahre alt. Und obwohl ich ein aufgewecktes Kind war, hatte ich eigentlich von nichts eine Ahnung. Denn trotz allem lebte ich doch in einer Art goldenem Käfig, in einer sehr geschlossenen Welt, abgeschirmt gegen alles, was längst zu sehen gewesen wäre; von Politik und Nazis wusste ich daher bis zum März 1938 nichts.

Wenn ich mich auch in meiner Ahnungslosigkeit nicht ausgekannt habe, so habe ich natürlich bald alles mitbekommen, denn ich war ja nicht blöd. Ich habe sehr rasch begriffen, was hier vorgeht. Schließlich habe ich gesehen, wie der Neffe meines Stiefvaters, der Jude war, abgeholt wurde und nie wieder zurückkam. Er hat mit seinen Eltern bei uns in der Villa im oberen Stockwerk gewohnt. Wie wir später erfahren haben, wurde er zuerst zur Gestapo gebracht, dort halbtot geprügelt, dann nach Dachau gebracht und dort letzten Endes umgebracht. Eines Tages kam die Nachricht, dass er an Lungenentzündung gestorben sei. Das war immer so: „Starb an Lungenentzündung.“

Die Gestapo war bei uns gewissermaßen Stammgast, sie kamen immer wieder entweder in den oberen Stock oder zu uns – irgendwas hatten sie immer, was sie wissen wollten oder uns leicht drohend mitteilen wollten. Obwohl man ja allen Grund hatte, sich vor der Gestapo zu fürchten, hat meine Mutter angesichts der Männer im schwarzen Ledermantel immer gesagt: „Bei denen weiß ich wenigstens, mit wem ich es zu tun habe, worauf ich mich einstellen muss. Vor der Frau X vis-à-vis fürchte ich mich mehr, das ist eine bösartige Person und mit der habe ich öfter Streit gehabt. Vielleicht zeigt sie mich aus Rache an wegen der Streitereien oder will unser Haus.“ Anonymes Anzeigen – ich muss es leider sagen – war in Wien eine Art Volkssport selbst dort, wo es keinen ersichtlichen Gewinn brachte. Mein alter Freund Friedrich Heer pflegte zu sagen: „Es gibt auch die uneigennützige Gemeinheit“, von der die Leute nichts anderes als das befriedigende Lebensgefühl haben, dem anderen geschadet zu haben.