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Alexander Van der Bellen — DIE KUNST DER FREIHEIT

Alexander Van der Bellen

DIE KUNST DER FREIHEIT

In Zeiten zunehmender Unfreiheit

Mitarbeit: Bernhard Ecker

INHALT

EDITORISCHE NOTIZ

VORWORT

I.EIGENHEITEN

1Irritationen

2Die Freiheit, die aus den Büchern kam

3Erweckungserlebnisse

4Stadt- und Landluft

5Loyalität oder die Kunst der Freiheit

6Krawatten und andere Konventionen

7Herkunft …

8… und Bildung

II.POLITIK

91968: Gamsbart-Kultur ade

10Der lange Schatten des Proporzes

11Politische Anfänge

12Liberale in der Politik

13Puritanismus

14Sicherheit, Korruption, Grasser

15Diktatur à la FPÖ

16Fernseh- und Boulevarddemokratie

17Was Politiker außerdem können müssen

18Unklare Verhältnisse

19Verwaltung ohne Reform

20Produktivität in der Schule …

21… und in der Privatwirtschaft

III.EUROPA IN DER WELT

22Verstörende Signale

23Freiwillige Einengung

24Dauerbaustelle Europa

25Griechenlands Freiheitskampf

26Gekaufte und ererbte Freiheit

27Wird die Welt unfreier?

IV.ÜBERWACHUNG UND PERSöNLICHE FREIHEITEN

28Verspottungsfreiheit …

29… und die Folgen

30Digitale Zerrbilder

31Zwischen Transparenz und Lüge

32Privatsphäre und Politik

33Was wird

ANMERKUNGEN

EDITORISCHE NOTIZ

Die Gespräche, die diesem Buch zugrunde liegen, fanden im Café Ritter an der Mariahilfer Straße in Wien statt. Es saßen einander gegenüber ein Professor der Ökonomie, Politiker, Raucher und Hundeliebhaber auf der einen Seite; ein ausgebildeter Geisteswissenschaftler, Journalist, Ex-Raucher und Katzenfreund auf der anderen Seite. Aus den knapp 100 Stunden Kaffeehausgesprächen wurde schließlich der vorliegende Text destilliert.

Aktuelle, gemeinsame Lektüre war ein wichtiger Impulsgeber, vom Big Data–Sachbuch bis hin zu den neuesten Phantasien des Franzosen Michel Houellebecq. Eine Ausstellung über „Vertriebene Intelligenz“ an der Universität Wien kam wie gelegen, um über Hochschulen und ihre freiheitsfördernde wie auch freiheitsfeindliche Rolle in der österreichischen Geschichte zu reflektieren. Und wenn es schon einen großen amerikanischen Roman mit dem Titel Freiheit gibt – warum ihn nicht noch einmal lesen?

Herausgekommen ist ein politisches Buch: anekdotisch, räsonierend, persönlich. Der Titel ist auch Programm: „Die Kunst der Freiheit“.

VORWORT

Als der Brandstätter Verlag mir vorschlug, mit Hilfe von Bernhard Ecker etwas über „Freiheit“ zu schreiben, biss ich nach kurzem Zögern an. Über égalité und fraternité, über (Un-)Gleichheit und Solidarität debattieren wir täglich; es sind zentrale Fragen der Politik. Die liberté ist jedoch ebenso zentral, sie verdient wieder mehr Raum. Die Grenzen zwischen Schützen und Bevormunden sind fließend und stets umstritten. Im politischen Alltag berufen sich Mehrheiten wie Minderheiten auf ihre demokratischen Rechte. Aber wo endet das Recht der Mehrheit? Das ist eine der Fragen, die wir hier wälzen, neben Ausflügen in die österreichische Geschichte und Bemerkungen zu persönlichen Erfahrungen in der Politik. Denn die Politik setzt den Rahmen für die Freiheit, ihr sind die beiden mittleren Teile gewidmet. Im ersten und im vierten Teil des Buches geht es hingegen mehr darum, wo ich persönlich zu Themen stehe, die ich als freiheitsrelevant erachte.

Mehrere caveats sind angebracht. Ich bin kein Philosoph und werde nicht so tun, als wäre ich einer. Erwarten Sie daher keine Abhandlung über den Freiheitsbegriff von den Alten Griechen aufwärts. Der Text ist auch nicht das Programm eines allfälligen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten; vielmehr geht es um Fragen, mit denen jede Bürgerin, jeder Bürger hin und wieder konfrontiert ist. Und nach dem vorigen Satz werde ich mit dem Gendern großzügig umgehen und mal die weibliche, mal die männliche Form verwenden; man möge das jeweils andere Geschlecht mitdenken.

Vergnügliche, nicht zu anstrengende Lesestunden wünscht Ihnen

Alexander Van der Bellen
Wien, im August 2015

I.EIGENHEITEN

1Irritationen

Auf meinem iPad lese ich einen interessant argumentierten Kommentar zu einer innenpolitischen Frage. In den Online-Kommentaren darunter finden jedoch wahre Schimpftiraden statt, von „Sesselklebern“, „Machtmenschen“ und „Nieten“ ist die Rede, von „Versorgungsposten“ und „Geldgier“. Dabei ist hier nur das zu lesen, was davor von den Verwaltern der Internetforen noch nicht aussortiert worden ist. Wie viele Kommentare vorsorglich gelöscht worden sind und in welcher Tonlage sie verfasst gewesen sein müssen, darüber kann ich nur spekulieren.

Das Internet, ein Janusgesicht: Wunderbar, dass ich Texte, die ich im Café schreibe, sofort weiterschicken kann, mir steht ein ganzes Lexikon auf Knopfdruck zur Verfügung, und es wird noch dazu täglich, ja stündlich aktualisiert. Und auch wenn ich noch nie beim Internethändler Amazon eingekauft habe, stelle ich mir vor, dass die Bequemlichkeit und Schnelligkeit etwas Anziehendes hat. Aber der Umgangston ist in der Sphäre des Digitalen eindeutig rauer, menschenverachtender geworden. Was früher aus gutem Grund zurückgehalten oder höchstens im kleinen Kreis geäußert wurde, ist im globalen Ausstellungsgelände des Internets nun für jeden ungefiltert lesbar geworden. Es regiert die Häme. Unbeschwertheit und Ironie scheinen in dieser Welt nie angekommen zu sein. Das Internet hat nicht nur grenzenlosen Informationsaustausch gebracht, sondern auch die Freiheit, Bösartigkeit grenzenlos auszuleben.

Ich lese dann in der Zeitung, dass die deutschen Familien Quandt und Klatten, die zahlreiche Anteile an großen Industrieunternehmen besitzen, 815 Millionen Euro Dividende allein aus ihrem Anteil am Automobilbauer BMW erhalten – für ein einziges Geschäftsjahr, wohlgemerkt. Das ist, von welcher Seite man es auch immer betrachtet, eine obszön hohe Summe. Liege ich am Ende mit meiner optimistischen Annahme falsch, dass der Kapitalismus quasi automatisch die großen Privatvermögen innerhalb weniger Generationen umwälzt, diffundiert, von ihren Erwirtschaftern löst? Kann die Lücke zwischen jemandem, der mit Null oder weniger als Null startet, und jemandem, der mehrere hundert Millionen Euro leistungsloses Einkommen in einem einzigen Jahr bekommt, je geschlossen werden?

Darüber, so notiere ich mir, muss ich noch etwas gründlicher nachdenken.

Der Kellner, der mir meinen Espresso an den Tisch bringt, beklagt das eben im österreichischen Nationalrat beschlossene Rauchverbot. Ich erzähle ihm nichts von den politischen Ideen, in der EU nun auch Warnhinweise auf alkoholischen Getränken zu verordnen, obwohl ich versuche mir auszumalen, wie das in der Praxis aussehen könnte. Ein Aufkleber mit dem Text „Trinken kann Ihre Leber schädigen“ auf jeder Bierflasche, die man beim Greissler oder im Supermarkt kauft? Eine verpflichtende mündliche Belehrung durch den Kellner, der mir ein Glas Wein serviert? Und, wenn dies nicht zum gewünschten Erfolg führen sollte: allgegenwärtige Bilder von durch exzessiven Alkoholkonsum geschädigten Organen, Aufnahmen, die mir beim Einkauf und im Stammlokal die Anti-Alkohol-Botschaft mit dem Holzhammer einhämmern sollen?

Es gibt Momente, in denen mich der Gedanke beschleicht, dass puritanischer Eifer die Triebfeder der Gesundheitspolitik geworden ist und dass die Mündigkeit des Bürgers vom Zentrum an den Rand der politischen Programme gerückt ist.

Ich blättere zu den Außenpolitik-Seiten weiter, in der Hoffnung, etwas Anregendes und Vorwärtsweisendes zu erspähen. Doch ich werde stutzig, als ich die Leitartikel zum Ukraine-Konflikt in mehreren Zeitungen, österreichischen und internationalen, verfolge. Kaum wo wird da die Position vertreten, dass die Annexion der Krim im März 2014 auch eine Vorgeschichte hatte, nämlich verantwortungsloses Gerede von einem NATO-Beitritt der Ukraine, womit Russland vom Schwarzen Meer praktisch abgeschnitten gewesen wäre. Glaubte wirklich jemand, Wladimir Putin würde dem tatenlos zusehen? Wer Kritik an der ukrainischen Regierung übt, wird sofort als „Putin-Versteher“ abgestempelt. Gerät auch die Unabhängigkeit der Meinungsbildner ins Wanken? Ist aus der Pressefreiheit, die sich durch eine Vielfalt der Meinungen auszeichnen sollte, eine freiwillige Gleichschaltung der Medien geworden?

Doch während ich eine neue Stelle in meinem elektronischen Notizblock markiere, frage ich mich plötzlich: Und was ist, wenn das gerade jemand mitliest? Wenn meine kritischen Kommentare über die europäische oder US-Außenpolitik längst von meiner Festplatte und aus meiner Mailbox gesaugt worden sind? Schon als Jugendlicher war mir die Vorstellung eines allwissenden Gottes höchst unangenehm. Sollte Google jetzt diese Rolle von Gott eingenommen haben?

Freiheit ist häufig eine Fiktion, eine theoretische Option, die in der Praxis nicht leicht wahrzunehmen ist. Slavoj Žižek, der slowenische Philosoph, illustrierte die pseudolibertäre Demokratie bei einem Vortrag in Wien sarkastisch mit einem Beispiel aus dem Familienalltag: Früher, als die Gesellschaft noch autoritärer strukturiert war, sagte der Vater zum murrenden Kind, als am Sonntagnachmittag der ungeliebte Besuch bei der Großmutter am Programm stand: „Sei still, wir fahren!“ Heute darf das Kind erst einmal seine Wünsche vorbringen: Es würde natürlich lieber Computer oder Fußball spielen oder in den Park gehen. Die Eltern sagen: „Wir verstehen dich, und es ist natürlich deine freie Entscheidung, ob du da bleibst oder nicht. Aber du musst bedenken, dass sich die Oma auf unseren Besuch so freut, besonders auf deinen Besuch.“ Was macht das Kind? Es steigt natürlich ins Auto ein. Das ist subtiler als zuvor, aber man könnte es weiterhin als Autoritätsausübung verstehen – im Gewand der Freiheit. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich glaube, dass Kinder Grenzen brauchen. Insofern trägt Žižeks Beispiel nicht sehr weit.) Die Kurzformel dieses Pseudoliberalismus lautet: „Du hast jede Freiheit, die du willst – vorausgesetzt du nutzt sie nicht!“

Diese diffusen Beobachtungen und Tagesmeldungen verdichten sich schließlich zu der Frage: Wird unsere Freiheit, die ich politisch, aber auch persönlich als einen zentralen Wert unserer westlichen Gesellschaft erachte, schleichend ausgehöhlt? Gründet die Hoffnung auf eine Welt, in der sich die Freiheiten ihrer Bewohner ebenso ständig ausdehnen wie das Universum, auf einer Fehlannahme? Und: Was ist unter dem Begriff Freiheit überhaupt zu verstehen?

2Die Freiheit, die aus den Büchern kam

Es gibt diese umgangssprachliche Phrase „Ich nehme mir die Freiheit heraus“. Doch woraus soll ich die Freiheit nehmen? Gibt es einen Krug, aus dem man sie schöpfen kann? Und wer füllt diesen Krug?

Oder wie man früher sagte: „Ich bin so frei.“ Vielleicht geht dieser Spruch auf die Abenteuer eines Junggesellen von Wilhelm Busch zurück, wo sich jemand ohne Aufforderung die Wasserflasche des Protagonisten mit den Worten greift: „Mir ist alles einerlei / Mit Verlaub, ich bin so frei.“

Beide Wendungen stammen aus einer Zeit, in der Konventionen im gesellschaftlichen Leben viel wichtiger waren als heute. Jedem war seine Rolle zugeteilt, die wiederum mit der Erwartung an ein bestimmtes Verhalten verknüpft war. Sich „die Freiheit herauszunehmen“ oder „so frei“ zu sein, bedeutete kurz aus dieser Rolle zu fallen. An der Gesellschaftsordnung hat das nichts verändert.

Heute denken wir automatisch an die Französische Revolution, wenn wir von Freiheit im Sinne von „Freiheit für alle“ sprechen. 1789 wurden jene attackiert, die es geschafft hatten Sonderrechte und Macht anzuhäufen: der König, der Adel, und die Kleriker. Nicht wenige von ihnen endeten auf dem Schafott. Doch die Vorgeschichte begann wesentlich früher. Mit der Gleichheit vor dem Gesetz nahmen die Alten Römer die égalité vorweg. Die weltlichen Herrscher Europas bekamen im Lauf der folgenden Jahrhunderte mit der Kirche einen gewichtigen Gegenspieler; aus einem Machtmonopol wurde ein -duopol. Dass die römisch-katholische Kirche später ihrerseits durch Martin Luther herausgefordert wurde, war der Freiheit ebenso dienlich. Mit dem frühen Kapitalismus wiederum entstanden neue Eliten, die sich wirtschaftlich unabhängig machten und Rechte einforderten.1

Die liberté der Französischen Revolution, so faszinierend sie auch ist, sehe ich nicht ohne Vorbehalte. An ihr klebt viel Blut, sie kippte nach wenigen Jahren in den Großen Terror.2 Nach diesem Muster laufen viele, wenn nicht die meisten Revolutionen ab, auch wenn sie – zunächst – die Fahne der Freiheit vor sich hertragen.3 Dass es auch anders geht, zeigt die Entwicklung Polens in den zwanzig Jahren vor 1989.4

Mein Freiheitsbegriff ist angelsächsisch geprägt. Zentral sind das Recht und die Freiheit des Individuums, seine Persönlichkeit zu entfalten und sein Leben selbstbestimmt, frei von gesellschaftlichen Zwängen, zu führen. John Stuart Mill, der englische Philosoph, hat in seinem 1859 publizierten Essay On Liberty / Über die Freiheit Wesentliches dazu gesagt. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit sind Säulen dieser Freiheit, auch die Privatsphäre ist unantastbar. Mill hat festgehalten, dass Exzentrizität und Originalität nur in einer freien Atmosphäre möglich sind, und dass solche Eigenschaften unabdingbar für eine liberale Gesellschaft sind.5

Eine Ahnung davon, wie Freiheit riecht, habe ich erstmals beim Lesen von Literatur bekommen, und da waren es fast ausschließlich englische und amerikanische Autoren, jedenfalls in den prägenden Jahren im Alter zwischen 15 und 35. Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra war die deutsche Ausnahme, weiß der Kuckuck, wieso er mir mit 16 in die Finger kam. Ein Buch wie eine Explosion, unverständlich und erschreckend, aber großartig; eine wahre Bombe für meine jugendlichen Vorstellungen über Welt und Ethik, und daher befreiend – man kann alles, wirklich alles auch anders denken, ganz anders: Das war die Lektion.

Das Unbekannte, das Andere jenseits von Inn und Nordkette, jenseits von Gamsbärten und Kuhglocken – so sehr ich Letztere mochte –, jenseits der heilen Innsbrucker Welt, vielleicht war es auch das, was mich zu den amerikanischen Autoren hinzog. Unvergessen sind die Kriminalromane von Raymond Chandler, Mickey Spillane, Richard Stark, und vor allem von Dashiell Hammett und Patricia Highsmith. Die „Helden“ dieser Romane, die für mich keineswegs zur Trivialliteratur zählen, sind markante, abgebrühte, ausgeprägte Individuen; es sind Einzelgänger mit höchst unterschiedlichen Einstellungen.

Chandlers Philip Marlowe ist ein im Grunde hochmoralischer Privatdetektiv in einer durch und durch korrupten Umwelt. Hammetts Sam Spade (aus The Maltese Falcon) ist unsentimental, raffiniert und gerissen, glänzend verkörpert von Humphrey Bogart in der Verfilmung von John Huston. Ned Beaumont (aus Hammett’s The Glass Key) ist selbst ein Gangster, aber mit einem ausgeprägten Ehrenkodex. Spillanes Detektiv Mike Hammer fühlt sich als mieser Macho wohl. Schon gar nicht an gängige Normvorstellungen hält sich Richard Starks Parker (Vornamen hat er keinen), er ist Berufsverbrecher, raubt so viel er zum Leben braucht und kommt immer davon, allerdings nicht immer samt der Beute. Ähnlich geht es Alan Grofield in einer anderen Serie von Richard Stark. Und Tom Ripley schließlich, zu dem sich Patricia Highsmith fünf Bände einfallen ließ, ist ein amoralischer Betrüger und Mörder, aber wir kommen nicht umhin, Sympathie für ihn zu entwickeln. Sehenswert ist Wim Wenders Verfilmung von Ripley’s Game, dem dritten Band der Ripley-Serie, mit Bruno Ganz und Dennis Hopper, auch wenn sie von der Romanvorlage deutlich abweicht.

Selbstverständlich sind das keine „Vorbilder“ im landläufigen Sinn. Wir reden von Literatur, nicht von Betragensnoten in der Schule.

In meiner Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff war neben Nietzsche, aber auf ganz andere Weise, ein Philosoph besonders wichtig: Isaiah Berlin. Grundlage seines Buchs Freedom and its Betrayal 6 sind faszinierende Radiosendungen der britischen BBC Anfang der 1950er Jahre, in denen Berlin, Sohn einer jüdischen Holzhändlerfamilie aus Riga, sechs führende europäische Denker demaskierte, deren Denkansätze er für die Sache der Freiheit als extrem gefährlich einstufte: von Helvétius bis Hegel.7

Berlin war seinerseits geprägt von den Erfahrungen der russischen Februar- und Oktoberrevolution 1917. Laut seiner Analyse führte das Denken insbesondere der deutschen Philosophen wie Fichte und Hegel direkt zu den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts. Fichte vertrat etwa die Auffassung, dass sich das Selbst erst in der Gruppe entfalte, womit „Rasse“ und „Nation“ plötzlich als „größeres Selbst“ salonfähig wurden. Für Hegel war die Einsicht in die Notwendigkeit der Gesetze die Voraussetzung für Freiheit – Autorität, Macht, der Staat schienen ihm die höchsten rationalen Instanzen. Das war die Quelle, so Isaiah Berlin, für die Theoretiker des Faschismus ebenso wie für jene des Stalinismus.8

Der Freiheitsbegriff, den die FPÖ in Österreich vertritt, ist ein deutschnationaler und geht zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Dieser meinte in und nach den Napoleonischen Kriegen Freiheit von der Fremdherrschaft.9 Bei der FPÖ schwingt das heute noch immer stark mit, nicht zuletzt weil die nach dem Zweiten Weltkrieg gebildete Vorläuferorganisation VdU (Verband der Unabhängigen) ein Auffangbecken für Deutschnationale und Altnazis war.

Als abstraktes Konzept hat Freiheit trotz meiner Familiengeschichte in meiner Jugend jedoch keine größere Rolle gespielt als im Leben meiner Alterskollegen.

Verwandte meines Vaters hatten ab 1917 in der Weißen Armee gegen die Bolschewiken gekämpft, die Familie war aus Russland ins nun unabhängige Estland geflohen. 1939/40, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, besetzte die Sowjetunion Estland. Nach einigen nächtlichen Vorsprachen des sowjetischen NKWD, dem Vorläufer des KGB, ließ sich die Familie ins „Deutsche Reich“ aussiedeln. Zuvor war den deutschen Behörden ausreichende „Deutschstämmigkeit“ glaubhaft zu machen. Den Stammbaum der Familie väterlicherseits (etwa ab 1720), den einer meiner Onkel dafür konstruierte, besitze ich noch.

Die Flucht führte sie zunächst in ein Lager nahe Würzburg, später nach Wien; dorthin hatte mein Vater Geschäftsbeziehungen noch aus der estnischen Zeit. Mit dem Vorrücken der Roten Armee Richtung Westen hieß es erneut fliehen, diesmal bis ins Tiroler Kaunertal, wo wir im Winter 1944/45 in ein Zollhaus einquartiert wurden. Ich habe mich, obwohl Immigrantenkind, evangelisch und bis 1959 estnischer Staatsbürger, dort nie diskriminiert gefühlt. (Kurios: Die estnischen Exilpässe galten überall, nur nicht in Estland als sowjetischer Teilrepublik). Noch heute habe ich eine Zwei-Zimmer-Wohnung bei einem Bauern im 1500 Meter hoch gelegenen Dorf Kaunerberg. Ich fühle mich wohl dort. Das ist ein Stück Heimat.

In der Oberstufe des Innsbrucker Gymnasiums – Andreas Khol hat dort drei Jahre vor mir maturiert – war ich einige Jahre Klassensprecher; also auch hier keine Diskriminierung des Immigrantenkindes. Es gab zwar einige Lehrer, die mich nicht sehr mochten; wenn ich zwischen einem Einser und einem Zweier stand, bekam ich bei diesen Pädagogen eben einen Zweier. Das hatte keine politischen oder ethnischen Gründe, sondern beruhte auf einem Ressentiment aufmüpfigen Schülern gegenüber. Der damalige Direktor war ein autoritätsfixierter Kleinbürger. Wir konnten einander nicht ausstehen.

3Erweckungserlebnisse

Man sagt von Agnostikern, dass ihnen die Gnade des Glaubens abhanden gekommen ist. Diese Gnade habe ich als Kind wohl kurz erfahren, aber sie war zugleich eine Belastung. Denn der Gott, der alles über dich weiß, engt deine Freiheit ein; so oder so ähnlich dachte ich als Halbwüchsiger.

Meine Eltern waren beide evangelisch. Wir sind höchstens zu Weihnachten in die Kirche gegangen, und das auch nur, wenn wir am 24. Dezember in Innsbruck und nicht im Kaunertal waren. Evangelische Rituale sind vergleichsweise nüchtern, katholische wie das Fronleichnamsfest mit Baldachin, Monstranz und prunkvollen Messgewändern haben mich stets fasziniert. Und als junger naiver Mensch hatte ich den Eindruck, dass Katholiken ein leichteres Leben haben. Während die Evangelischen alles mit sich und ihrem Gott ausmachen müssen, beichten Katholiken ihre Sünden – und es wird ihnen vergeben. Das schien mir lebensfreundlicher.

Echter Glaube ist tatsächlich eine Gnade, zumindest in Extremsituationen. Jemand wie beispielsweise Franz Jägerstätter, ein tiefgläubiger katholischer Österreicher, weiß im Angesicht seiner Hinrichtung durch die NS-Henker, dass er demnächst ins ewige Leben eingehen wird. Wir anderen können nicht wissen, was uns in solchen Augenblicken Sicherheit geben wird.

Den Grund für meinen Kirchenaustritt Anfang der siebziger Jahre erachte ich heute nicht als hinreichend – nämlich Ärger über meinen Innsbrucker Pfarrer. Zwischen der Institution und den Personen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vertreten, muss man doch unterscheiden.Wenn jemand mit absolutem Wahrheitsanspruch auftritt wie Bischof Kurt Krenn bis zu seinem Rücktritt 2004, muss er damit rechnen, dass er als moralische Instanz bekämpft wird. Hätte Krenn die Macht eines Inquisitors gehabt, wäre das Schlimmste zu befürchten gewesen. Aber nur weil ein Spätentwickler aus dem 16. Jahrhundert Bischof von Sankt Pölten ist, muss man nicht gleich mit der gesamten Institution brechen.

Im Wesentlichen hatte ich meine antiklerikale Phase mit 26 Jahren überwunden. Aus heutiger Sicht bereue ich einiges, etwa mein Verhalten während der privaten Einladung eines Innsbrucker Uni-Kollegen, von dem ich wusste, dass er überaus katholisch war. Bei diesem Abendessen bin ich über die päpstliche Autorität hergezogen. Ich weiß nicht mehr, welcher Teufel mich damals geritten hat, aber das war wirklich taktlos.

Im Laufe meines Lebens habe ich viele wohltuende Kontakte mit Menschen aus dem kirchlichen Bereich geknüpft. Insbesondere schätze ich die Arbeit der Evangelischen Diakonie, ebenso wie die der Caritas. Dann und wann trage ich mich sogar mit dem Gedanken, wieder meiner Kirche beizutreten. Ich zögere aber immer noch, weil es nicht aus religiösen Gründen geschehen würde.

Besonders positive Erfahrungen machte ich in vielen Jahrzehnten Zusammenarbeit mit der Katholischen Sozialakademie (KSÖ). Lange Zeit hatte ich jeweils eine Woche im Jahr als Referent mit rund 25 jungen Leuten verbracht, die aus religiöser Motivation heraus in den unterschiedlichsten Berufen tätig gewesen waren. Der Kurs beinhaltete Rhetorik, politische Bildung, Gruppendynamik, Ökonomie; es war immer sehr anregend. Für mich war es eine hands-on-Erfahrung, diese Leute kennenzulernen und zu respektieren. Unter anderem habe ich dort Kaspanaze Simma getroffen, lange bevor er mit seiner Alternativen Liste die ersten Wahlerfolge in Vorarlberg gefeiert hat.

Die KSÖ war mit dem Orden der Jesuiten eng verbunden. Diese Intellektuellen fand ich immer hochinteressant. Einige von ihnen habe ich auch an der Universität Innsbruck kennen und schätzen gelernt. In Innsbruck betrieben die Jesuiten auch ein freies, aufgeklärtes und aufgeschlossenes Jugendzentrum – und hatten deshalb regelmäßig Konflikte mit dem damaligen Bischof. Und nicht alle Jesuiten sind Asketen, wie die Figur des Naphta aus Thomas Manns Zauberberg nahelegen könnte, es gibt auch ausgesprochene Lebenskünstler unter ihnen.

4Stadt- und Landluft

Dass Stadtluft frei macht, stimmt meiner Erfahrung nach so nicht – zumindest nicht im Tiroler Kontext. Meine Erfahrungen in Kaunertal waren durchwegs positive. Nach wie vor verbringe ich einige Wochen im Jahr mit meinen Hunden bei „meinem“ Bauern am Kaunerberg. Insgesamt bin ich im Lauf meines Lebens aber doch eher ein Städter geworden, einer allerdings, der immer wieder und unbedingt aufs Land muss. Ich möchte mich nicht für eines der beiden entscheiden müssen.

Erst müssen wir uns jedoch einmal darauf einigen, was unter „Stadt“ genau zu verstehen ist. Dörfer sind in der Regel sehr homogen, was die Lebensentwürfe und Werthaltungen ihrer Bewohner betrifft. Der ritualisierte Jahreskreislauf mit den immergleichen Festen und Veranstaltungen sorgt für einen stabilen Rahmen; die Unterschiede zum Nachbardorf sind für Außenstehende nur unter der Lupe erkennbar (für die Dörfler dagegen oft identitätsstiftend).

Städte zeichnen sich hingegen durch Heterogenität aus.10 Und durch die permanent sichtbare Diversität ist der Druck größer, sich aktiver mit dem bzw. den „Anderen“ auseinanderzusetzen. Es gibt diese wunderbare Stelle in Robert Musils vor fast hundert Jahren begonnenem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in der die Hauptfigur Ulrich bei einem Ausflug aufs Land das Konkrete des Dorflebens dem Abstrakten des Stadtlebens gegenüberstellt: „Ein alter Mann verliert seinen letzten Zahn: und dieses kleine Ereignis bedeutet einen Einschnitt im Leben aller seiner Nachbarn, woran sie ihre Erinnerungen knüpfen können! Und so singen die Vögel alle Abende um das Dorf und immer in der gleichen Weise, wenn hinter der sinkenden Sonne die Stille kommt, aber es ist jedesmal ein neues Ereignis, als wäre die Welt noch keine sieben Tage alt! Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen, […] man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.“11

Auf die Optionen, die einem die Stadt bietet, möchte ich nicht mehr verzichten, auch wenn ich diese Optionen viel zu selten nutze, etwa ins Akademietheater zu gehen oder eine Ausstellung im Museumsquartier zu besuchen. Es geht um die Möglichkeit: Wenn mir der Kollege aus dem Rathaus meinen Economist entwendet hat, kann ich ihn mir in Wien jederzeit rasch nachkaufen. Im Kaunertal kann ich das nicht. Ebenso wenig übrigens im australischen Perth – weshalb ich Perth, das schöne Strände am Meer hat und einwohnermäßig fast so groß wie Wien ist, für ein sehr provinzielles Städtchen halte.

Von der Stadt zur Metropole ist es dann noch einmal ein Sprung. Aber ist Wien auch eine Metropole? Knapp zwei Millionen Einwohner sind vielleicht dafür ausreichend. Entscheidend ist, dass die Zahl ausreichend differenzierter Gruppen in der Stadt groß genug ist. Denn dann kann sich auch die Nachfrage nach einem breit gefächerten Angebot entfalten. Vereinfacht gesagt: Es muss genügend Leute geben, die sich den Economist kaufen wollen, damit es ihn auch zu kaufen gibt.

Um 1900 war Wien als Hauptstadt der Donaumonarchie eine Metropole, in den Jahrzehnten darauf erlitt sie fortwährenden Bedeutungsverlust: Der natürliche Zustrom von Bewohnern der Kronländer riss 1918 schlagartig ab, und ab den 1930ern kam es zur massenweisen Emigration der durch den Faschismus „bedrohten Intelligenz“12, vornehmlich in die USA. Erst in den letzten Jahren hat die Bundeshauptstadt wieder internationale Anziehungskraft gewonnen, abzulesen am hohen Anteil ausländischer Studierender und der wachsenden Vielsprachigkeit. Entscheidend dazu beigetragen hat die Ostöffnung ab 1989 und der Beitritt zur EU 1995. Die Voraussetzungen sind in Wien also gegeben, und das universitäre ebenso wie das kulturelle Leben bieten eine gute geistige Infrastruktur. Sagen wir deshalb vorsichtig so: Unter den Metropolen hat Wien die absolute Mindestgröße.

Neben Wien ist Berlin die einzige große Stadt, in der ich länger gelebt habe. In den siebziger Jahren war das sicher noch keine Metropole, eher eine liebenswerte, provinzielle Stadt. Heute ist die deutsche Hauptstadt einwohnermäßig fast doppelt so groß wie Wien und strahlt großstädtische Weltoffenheit aus. Berlin hat jedoch einen erheblich niedrigeren Ausländeranteil und weniger Studentinnen und Studenten – das sind für mich entscheidende Merkmale von Metropolen.