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für Liel & Livni

Tarek Leitner

Berlin–Linz

Wie mein Vater
sein Glück
verbrauchte

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Hinweis auf die Schreibweise

Wörter der Nazi-Nomenklatur sind nicht unter Anführungszeichen gesetzt. Das soll sie mit einer größeren Selbstverständlichkeit in den Zeitkontext einweben. Daraus erschließt sich hoffentlich, dass ich mir die Konnotation der Wörter nicht zu eigen gemacht habe.

Inhalt

Davor.

Das Leben ist Reise genug.

Rückfahrt

Berlin – Linz 1938

Dazwischen.

Keine Pause.

Rückkehr

Berlin – Linz 1945

Danach.

Wie alles weiterwirkt.

Davor. Das Leben ist Reise genug.

Das ist die Geschichte zweier Reisen meines Vaters Alfred von Berlin nach Linz. Und es ist auch die Geschichte darüber, auf welche Art sie mir mein Vater erzählte. Natürlich hat sich dieses Buch dadurch nicht ganz von alleine geschrieben. Aber eine abenteuerliche Geschichte zu erfinden, das musste ich dann auch wieder nicht. Das überraschte mich. Denn mein Vater war kein Held. Er war auch kein Opfer – und ich behaupte, auch kein Täter. Mit anderen Worten, er war keine jener Figuren, die mir aus dem Geschichtsunterricht bekannt waren. Ich dachte, mein alter Vater – kaum ein Mitschüler hatte einen Vater mit so frühem Geburtsjahr, 1926 –, biete wenig Stoff für eine Geschichte. Ich dachte daher auch lange, der Gang der Geschichte suchte sich einen Weg weit weg von mir und meinem Vater. Aber so war das nicht.

Verstreute Anekdoten, die ich bei allerlei geselligen Anlässen über Begebenheiten auf den beiden Reisen hörte, nährten einen Verdacht. Ich glaubte offenbar nur deshalb, dass die Historie einen Bogen um sein vermeintlich so durchschnittliches und wohl unzählige Male anzutreffendes Leben im 20. Jahrhundert gemacht habe, weil er zuweilen einen kuriosen Blick auf die Welt und ihre Zeit hatte. Dieser Blick entsprang einem Jugendlichen, der in einer großen – heute würden wir sagen – Patchworkfamilie aufwuchs, weitgehend frei von wirtschaftlichem Mangel lebte, und sich einigermaßen viel um sich selber kümmern musste. So konnte er die Reichsautobahn gleichsam als Übungsrennbahn betrachten, das Essen von Salzburger Nockerln in Kriegszeiten als ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Blockwart, und den abgeschossenen Yankee-Piloten in der eleganten Ausgehuniform nicht als Feind oder Befreier wahrnehmen, sondern als Objekt der Bewunderung für einen erstrebenswerten Lifestyle.

Das war mir etwas zu unpolitisch, als ich diese verstreuten Erzählungen in der Zeit meiner eigenen Politisierung hörte. Konnte man in jener Zeit, bei einer Reise im Jahr 1938 durch das neue Deutschland, so unpolitisch sein? Und konnte man es sieben Jahre später, bei einer Reise durch das in Trümmern liegende Deutschland, immer noch sein? War das vermeintlich Unpolitische Schutz vor den Unwägbarkeiten, die vielfach doch rasch in Ungemach abglitten? Und war mein Vater vielleicht zwar weder Held, noch Täter, noch Opfer, aber doch Zuschauer?

Die Nationalsozialisten hatten für die politische Einstellung eines Menschen den Ausdruck Weltanschauung geprägt. Das war ein vielgebrauchtes Wort. Wer die Welt nur anschaut, wer ihrem Gang nur zuschaut, der braucht keine Idee von ihr zu haben, der braucht keine Ideologie. Dieser Zugang hält sich bis heute. Wer heute einer Ideologie anhängt, riecht bereits nach Extremismus. Und wenn die Ideenwelt eines Menschen damals auch noch System hatte, war die verabscheuungswürdige – und nunmehr zurückliegende – sogenannte Systemzeit perfekt. Das waren die Reste der Demokratie in Österreich.

Ich glaube allerdings, sein Vater, also mein Großvater Rudolf, war auf eine merkwürdig unpolitische Art höchst politisch. Ob sich das in diesen Zeitwenden hätte anders manifestieren müssen, weiß ich nicht. Darum wird es in diesem Buch aber nicht gehen. Es ist vielmehr der Blick auf die Geschichte aus der Perspektive des Noch-nicht-Geschehenen. Im Nachhinein scheint uns jeder Verlauf der Dinge schlüssig. Und selbst wenn wir heute sagen, wir wissen schon, wohin etwas führt, dann gründet sich unsere Prognose doch auf das Wissen um Umstände, die in der Zeit spielen, die hier beschrieben wird.

Erst seit dieser Zeit, die zwischen 1938 und 1945 und damit zwischen den beiden Reisen meines Vaters von Berlin nach Linz liegt, wissen wir wirklich sicher, dass am Anfang das Wort steht. Das hat uns die Bibel in dieser Deutlichkeit offenbar nicht gelehrt. Dazu brauchte es die Nationalsozialisten. Das Wort wird zu einer Tat, die gleich sehr viel harmloser anmutet, wenn sie zuvor schon tausende Male sprachlich vorweggenommen wurde. Das ist schon ganz schön viel Lehre aus der Geschichte. Aber was noch?

Die großen historischen Tangenten taugen zuweilen nicht, wenn es darum geht, Ableitungen für das eigene Leben zu treffen. Die Geschichte in ihrer Gesamtheit mag vielfach zu groß sein, um immer die richtigen Schritte für das eigene Leben abzuleiten. Mit dem Leben der unmittelbar vorangegangenen Generation – damit klappt es vielleicht. Allerdings: Es war doch schon alles einmal da; wenn auch vielleicht nicht genau in derselben Art. Gewiss aber in dem Sinn, als dass sich der Stoff wiederholt, der Stoff, aus dem die großen Dramen sind.

Wer im Drama mitspielt, sieht oft das Besondere nicht. Und selbst wenn, hätte mein Vater die Ereignisse wohl eher als die Normalität der Zeit interpretiert als sich Fragen dieserart stellen zu lassen: Und glauben Sie denn, dass Sie so Besonderes erleben? Wissen Sie nicht, dass abertausend andere tausendmal Schlimmeres durchmachen? Und glauben Sie nicht, dass sich für all dies Geschichtsschreiber in Menge finden werden? Leute mit besserem Material und besserem Überblick als dem Ihrigen? Gewiss. Selbst Victor Klemperer, Verfasser von Tagebüchern über seinen Alltag als Jude im Dritten Reich, wurde das entgegengehalten. Betrachten wir die Beschreibung der beiden Reisen daher als Kennenlernen des Panoramas der Zeit, als Roadmovie in zwei Teilen. Es speist sich aus Stationen, die auf verstreuten Zetteln und Dokumenten und Fotos und Briefen zu finden waren. Ihre Inhalte führte ich nicht zuletzt in mehreren Interviews mit meinem Vater zusammen. Aber da verzettelte er sich dann auch wieder. Insofern blicken wir auf den beiden Reisen über die damalige Reichsautobahn gleichsam immer wieder in abzweigende Seitenstraßen.

Die Erzählungen meines Vaters sind gewiss keine Annäherungen an die objektive Wahrheit. Die Vergangenheit ist ein Land, in das man nicht so leicht zurückkehren kann. Wir versuchten gewissermaßen gemeinsam, zweimal nach Berlin zurückzukehren, in jene Zeit, in der ihn die Reisen als knapp Zwölf- und als knapp Neunzehnjährigen zurück nach Linz führten. Aber Erinnerungen sind unzuverlässig, selbst dann, wenn sie sich auf ganz schlichte Ereignisse beziehen. Hinzu kommt, dass sich über den langen Zeitraum, der zwischen der Erzählung und den Ereignissen liegt, die Ansichten eines Menschen ändern, Taten in eine andere Zeit datiert werden, und das Erlebte von später erworbenen Kenntnissen und Bewertungen der Geschichte überlagert wird. Auch wenn mein Vater, und noch vielmehr sein Vater, mit Uhren zu tun hatte; so einfach lässt sich die Zeit dann doch nicht zurückdrehen – und das später erworbene Wissen ausblenden. Uns hat das Ticken der Uhr, die mein Vater als Abschlussarbeit in der Uhrmacherschule anfertigte, bei den Gesprächen begleitet. Und das Zurückversetzen in jene Zeit war manchmal nicht mehr als ein Haschen nach dem Wind.

Bei einem dieser Interviews, für die ich ihn in seiner Wohnung aufsuchte, wiederholte er den Satz, der mich beschäftigt, seit ich ihn das erste Mal aus seinem Munde gehört hatte. Er sagte, ich habe mein ganzes Glück im Krieg verbraucht. Es muss Mitte der Achtzigerjahre gewesen sein.

Ich war noch in der Schule und hatte vielfach mehr Glück als Verstand. Schon damals fragte ich mich: Ist auch mein Lebensglück begrenzt? Habe ich in Latein schon viel davon verbraucht? Hat jeder eine bestimmte Menge? Und ist die bei allen gleich groß? Oder gehört den Tüchtigen nicht nur die Welt, sondern sucht auch das Glück nur die Fleißigen, wie ein Sprichwort sagt? Und wie ist das mit den Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts zu bewältigen hatten – konnte man da nur mit einer Portion Glück durchkommen, die danach fehlte? Und brauchte man zum anständigen Durchkommen eine noch größere Portion Glück?

Mein Vater hat sich diese Fragen nie gestellt. Für ihn waren sie beantwortet. Für ihn war in dieser Hinsicht schon damals die Geschichte zu Ende. Zwei Mal ist er von Berlin nach Linz gereist. 1938 und 1945, auf höchst unterschiedliche Weise. Dann war sein Glück verbraucht. Dann waren große Reisen seine Sache nicht mehr. Das Leben ist Reise genug, sagte mein Vater.

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Mein Vater Alfred mit meinem Großvater Rudolf. Die Aufnahme entstand 1938, jenem Jahr, in dem sie im neuen DKW von Berlin nach Linz gefahren sind.

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Der DKW Sonderklasse, auf diesem Foto bereits erfolgreich nach Hause überstellt.

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Die Häuserzeile der Linzer Bischofstraße, lange Jahre Heimat meiner Familie. Links der Biergarten des Klosterhofs.

Rück fahrt

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Geschwindigkeit = Analyse geballten Mutes in Aktion. Kriegerische Aggressivität.

Filippo Tommaso Marinetti

Berlin Linz 1938

Das also ist unsere neue Hauptstadt, sagte Rudolf, mehr zu sich als zu meinem Vater. Sie hatten eine lange Fahrt hinter sich. Der Zug fuhr bereits langsam. Er ratterte und rumpelte über die vielen Weichen vor dem Bahnhof, ein riesiger Gleiskörper, auf dem ein Kopfbahnhof saß. Den Empfang begleitete ein Gemisch aus Rauch und Ruß, aus dem Geruch von Öl und Hausbrand, die Geräusche von Zischen und Hämmern. Mein Vater liebte diese Atmosphäre. In Linz, erzählte er, stand er gerne auf der Brücke über den Bahngleisen und ließ sich von den Zügen, die darunter passierten, in dicken Rauch einhüllen. Dann näherten sie sich den drei großen Backsteinbögen des Anhalter Bahnhofs, die alle Gleise aufnahmen. Berlin nahm vieles in sich auf, auch die Funktion der alten Hauptstadt. Jetzt also Berlin, dachte mein Vater, nicht mehr Wien. Aber das war Schulwissen.

Es war ein Junimorgen im Jahr 1938, kurz vor acht, als der Zug in Berlin einfuhr.

Im Juni 1938 holte die deutsche Geschichte kurz Atem. Es war keine Atempause, mehr ein kurzes und flüchtiges Einatmen. Kurz zuvor, im Frühjahr, hatte sich die Welt verwandelt. Zuerst durch rhetorischen Druck Hitlers gegen die österreichischen Machthaber, dann durch den Druck der Wehrmacht, die die Waffen nur zu zeigen brauchte, dann war Österreich von der Landkarte verschwunden. Wir weichen der Gewalt, hallten Kanzler Schuschniggs Worte in den Ohren Rudolfs nach. Das war im März. Nicht, dass es dann ruhig war. Die Unterwelt, wie Carl Zuckmayer schrieb, hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Aber ihr Tun war die neue Normalität. Und im Herbst blies die Geschichte den heißen Atem der Hetze wieder aus, in die Menschen hinein. Sie waren empfänglich dafür, und das entlud sich in Pogromen. Auch in Linz wurde die Synagoge niedergebrannt.

Im Juni allerdings erreignete sich innerhalb der neuen Reichsgrenzen nichts, was den Geschichtsbüchern Struktur gibt. Es ist die Zeit einer ersten geringfügigen Ernüchterung nach dem Taumel der Anschlussund Abstimmungstage im März und April. Der Juni 1938 gibt keinen Stoff für Kapitelüberschriften.

Nur dem Leben meines Vaters gab dieser Juni eine Kapitelüberschrift. Er bildete den Rahmen für den Lebensabschnitt zwischen den beiden Reisen Berlin – Linz. Aber das wusste er damals natürlich nicht.

Rudolf, sein Vater, spürte, dass etwas ins Rutschen gekommen war, dass die Stabilität seiner bürgerlichen Welt nun endgültig der Zerbrechlichkeit gewichen war. Nicht wie um 1900, der Zeit des Fin de Siècle, als das Bürgertum zwischen Endzeit und Aufbruchstimmung schwankte. Jetzt war es ein Stück weit klarer, wenn auch nicht gewiss. Obwohl, Rudolf war nicht politisch, sagte er von sich, und sagte mein Vater über ihn. Aber wer 1938 nicht politisch war, konnte trotzdem so tief im christlich-sozialen Milieu verwurzelt sein, dass diese unverrückbare Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Kleinunternehmers, meines Großvaters also, tatsächlich als unpolitisch durchging.

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Filmstills aus Amateurfilmaufnahmen Rudolfs: er und mein Vater an der Tür der Bischofstraße 3.

Die Nationalsozialisten lehnte er nur insofern ab, als er sie nicht ernst nahm. Und da reihte er sich unter die vielen Bürgerlichen ein, die Hitler schlicht für einen Trottel hielten, und schwiegen, bis es zu spät war. Jetzt regierte Hitler sein Land. Als vier Jahre zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Wohnung in Linz auf den Straßen geschossen wurde, und seinen Sohn, meinen Vater also, die Geschichte im engsten Sinn des Wortes streifte, waren es schließlich die Sozialdemokraten, die das angezettelt hatten. Die neue Hauptstadt war nur eine von vielen Wendungen auf diesem unruhigen Kontinent, seit Rudolf den Weltenlauf bewusst mitverfolgte. Das war ab etwa der Jahrhundertwende. Er war damals sechzehn.

Mein Vater lehnte sich aus dem offenen Coupéfenster, um endlich die Reichshauptstadt zu sehen. Rauch zog herein. Rudolf zog seine Taschenuhr aus der Weste. Auch wenn Armbanduhren seit dem Großen Krieg durchaus gängig waren, und Rudolf sein Geschäft darauf aufbaute; er selbst trug selten eine. Er pflegte sich für Reisen ein günstiges Fabrikat einer Taschenuhr einzustecken. Eine Omega mit Stoppfunktion war es. Er hatte sie aus seinen Lagerbeständen genommen. Sie war noch in einem kleinen Stoffsäckchen verpackt. Mein Vater erinnerte sich genau daran, wie Rudolf damals ausrief: Auf die Minute! Rudolf war fasziniert von technischer Präzision. Weltrekord der Präzision sollte es am besten sein. Das schrieb er in ein Inserat, das er einst in der Vorweihnachtszeit in der Linzer Tagespost schaltete. Er entwarf es in groben Zügen selbst. Das Portrait eines Rennfahrers mit Lederhaube und Brille musste darauf zu sehen sein. Es war die Verbindung zu seiner zweiten Leidenschaft. Nicht nur die kleinen Rädchen in den Uhren, mit denen er handelte und die er reparierte, faszinierten ihn. Ihn faszinierte moderne Mobilität, die Möglichkeit der genauen Zeitmessung, und dass die stundenlange Reise von Linz nach Berlin so pünktlich zu Ende ging. Fahrpläne und Hinweistafeln führten die Ankunft noch unter Fernverbindung-Ausland. Das entsprach nicht dem Schulwissen meines Vaters. Ihn belustigte das. Er war damals knapp zwölf.

Mein Vater hatte eine Vorstellung von Berlin. An der Schwelle zum Erwachsenwerden braucht es nur ein paar Bilder im Kopf, um einen ganzen Kosmos klar und deutlich entstehen zu lassen. Onkel Thomas war es, der ihn seinem Neffen gezeichnet hat. Er war ein Opernnarr und galt seinem Bruder Rudolf, dem Geschwindigkeitsnarren, als Träumer. Die Oper hatte am Linzer Landestheater seit den Dreißigerjahren Konjunktur, und Thomas eine Sopranistin zur Geliebten. Die beiden träumten von Berlin in einer Zeit, in der diese Stadt noch ein Parvenü war. So wie Onkel Thomas noch zehn Jahre später einer war. Er war ein Lebemann. Und er hatte nicht nur einen Hang zur Exzentrik, sondern auch zum Exzess, wie es einmal unter Polizeiliches im lokalen Blatt hieß. Aber mehr noch als sich zuweilen zu berauschen, sagte mein Vater, hatte Onkel Thomas eine Vorliebe für Zuckerl*. Und da traf es sich gut, wenn er gelegentlich seinen Bruder Rudolf in dessen Wohnung in der Bischofstraße Nummer 3 besuchte.

Mein Vater war nicht nur in der Bischofstraße zu Hause. Er war, auch wenn er das so nicht ausdrückte, auf der Bischofstraße zu Hause. Es ist eine kurze Gasse, die von der Hauptachse der Stadt, der Linzer Landstraße, wegführt. Sie bildet eine nur etwa zweihundert Meter lange Verbindung zum großen neugotischen Dom. Sie war Kulisse seines Lebens. Eine lange Fassade in Neorenaissanceform prägte die kurze Gasse. Die Wohnung lag in der historischen Anlage mit Blick in den Innenhof, auf der gegenüberliegenden Seite mit Blick in den Gastgarten des Bräugasthofs Klosterhof, gebaut Anfang der Achtzehnachtzigerjahre, in der Zeit von Rudolfs Geburt. Eine Umgebung, die nicht nur Hintergrund auf so vielen Filmen und Fotos ist, die meinen Vater und andere Familienmitglieder auf der Straße zeigen, sondern Kulisse und Bühne seines Lebens: Aufenthaltsort und Spielplatz, Lebensraum einer behüteten Kindheit und Heimat. An diese stattliche Fassadenfront schlossen sich biedermeierliche Hauser an. Einstöckig. Damals das alte Linz.

Eines davon, Bischofstraße Nummer 7, suchte Onkel Thomas oft auf, um sein silbernes Zigarettenetui mit Lutschpastillen vom Zuckerl-Schwager aufzufüllen. Thomas konnte sich minutenlang in der Expertise über Seidenzuckerl, Rahmblockmalz und Ingwer nach englischer Art ergehen. Zuckerl-Schwager war die erste Adresse für diese Ware in Linz. Erste Ware, pflegte Onkel Thomas zu sagen, sagte mein Vater. Und der geriet mehr nach seinem Onkel Thomas als nach seinem Vater Rudolf. Dieser Onkel wollte Gegenkultur zu den fleißigen, Trachtenhut tragenden Linzer Provinzstädtern sein. Als Großstadt galt sie ihm nicht. Sie wird in absehbarer Zeit ein neues Opernhaus besitzen, meinten sie. Konnte auch nicht anders sein, schließlich war sie die Heimatstadt des Führers, wie es in einem Buch über die Heimatstadt des Führers hieß. Es kam im Jahr 2013; die Prognose, nur eine von vielen unzutreffenden in jener Zeit. Thomas scheute sich später übrigens nicht, mit einer eleganten Wehrmachtsuniform aufzufallen. Er war in dem Sinne unpolitisch, wie es sein Bruder Rudolf war. Die unpolitischen Österreicher wurden Beute der jeweils Herrschenden.

Rudolf war ein säkularer Mensch im christlich-sozialen Lager, das den Katholizismus als Defensivideologie gegen die Moderne führte. Als er im Dezember 1918 ein Stellengesuch in einer Zeitung aufgab, charakterisierte er sich nicht nur als tüchtiger Uhrmacher, sondern auch explizit als katholisch.

Er war gefangen in einem Paradox, das er nicht auflösen konnte. Sein Freizeitleben war auf die atemlose Moderne ausgerichtet. Wenn Beten die Kommunikation mit einem göttlichen Wesen bedeutet, postulierte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, dann ist das Fahren bei erhöhter Geschwindigkeit ein Gebet: Der Verbrennungsmotor und die Reifen eines Automobils sind göttlich. Die Fahrräder und die Motorräder sind göttlich. Aber Rudolf taumelte nicht, wie viele andere, mit diesen Verwerfungen und Umkehrungen in das neue Jahrhundert. Er war weit weg von der Erschöpfung der Nerven, die so viele beklagten, und die in den neu errichteten psychiatrischen Sanatorien Heilung suchten. Er war weit weg von der rätselhaften Jahrhundertwendekrankheit, die sie Neurasthenie nannten. Als Kaufmann wäre er statistisch gesehen in der größten Patientengruppe gewesen. Wer mit den neuen Technologien zu tun hatte, war am anfälligsten. Aber Rudolf ging mit festem Schritt in die neue Zeit und in das neue Österreich.

Es begann fast gleichzeitig mit seiner neuen privaten Lebenssituation. Im Jahr 1918 übersiedelte er mit seinen beiden Brüdern von Kärnten nach Linz. Es war ihm nichts zu schnell und zu unübersichtlich und zu laut. Er war erpicht auf die neuesten Rennradmodelle und Motorrad-Wertungsfahrten und die letzten Entwicklungen im Wettlauf um Geschwindigkeitsrekorde. Das Neue euphorisierte ihn. Und das barg natürlich Gefahr. Denn im Angebot waren nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Ideologien, die unterschiedlichsten neuen Ideen für das gesellschaftliche Zusammenleben – oder zumindest ihre Ausdehnung in breitere Bereiche der Gesellschaft hinein. Rudolfs Privatleben war in den Dreißigerjahren darauf ausgerichtet, endlich seine dritte Frau, meine Großmutter, heiraten zu können. Anna arbeitete bereits seit einigen Jahren bei ihm im Geschäft. Unter dem Einfluss der katholischen Kirche in der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur war an Heirat aber nicht zu denken. Jetzt, unter den Nationalsozialisten, war es mit einem Schlag möglich. Und das christlich-soziale Milieu war gespalten, in ländliche Bauernsöhne und städtische Gewerbetreibende.

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Szenen aus Filmaufnahmen in Berlin: am Brandenburger Tor.

Onkel Thomas pflegte die beiden Lager kurzerhand mit einem launigen Spruch zu einen: Linz reimt sich auf Provinz, sagte er. Meinen Vater kränkte das. Er wollte kein Landkind sein. Die wenigen Erzählungen Thomas’ über Berlin formten in seinem Neffen das Bild einer Stadt, in der er leben wollte. Für ihn hatte Berlin vermeintlich alle Voraussetzungen dafür. Dass dies seit 1933 nicht mehr stimmte, verstand mein Vater noch nicht. Er hatte sie im Kopf, wie sie auch in ihrer Glanzzeit niemals war: hell erleuchtet bis spät in die Nacht, überall Vergnügen, Vergnügen, Vergnügen. Was Vergnügen bedeutet, hätte er nicht recht benennen können. Aber das waren ohnedies mehr Gefühle und Gedanken, die er bei sich behielt.

Er dachte, gleich einiges davon zu sehen, wenn sie den dunkelgrünen Eisenbahnwaggon verlassen würden, in dem sie seit Regensburg die nächtliche Reise verbrachten. Doch nur wenige Orte vermögen die üblichen Städte-Klischees auch in der Realität zu erfüllen. Außerdem hatte Rudolf gar nicht vor, sich mit seinem Sohn lange in Berlin aufzuhalten. Er kam ja nur, um sein neues Auto abzuholen. Und da sollte ihm mein Vater behilflich sein.

Und doch blieb er gleich vor dem prächtigen Portal des Anhalter Bahnhofs stehen. Das Gebäude war eine Kathedrale der neuen Religion des Fortschritts, der Geschwindigkeit und Mobilität, mit einer von den beiden aus Linz kommenden Reisenden nie zuvor gesehenen riesigen Ankunftshalle. Alles war größer hier. Berlin war größer als Linz, aber es war nicht nur in jenem Sinne größer, wie man es beim Aussteigen aus dem Zug nicht gleich erkennen konnte, also an Fläche und Einwohnerzahl. Es war größer in dem Sinne, als es zwar wie Linz aussah, aber so, wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Die Stuckaturen an den ähnlich anmutenden Häusern waren gewaltiger, die Toreingänge höher, die Laternen wuchsen wie überdimensionale Maiglöckchen am Straßenrand, und selbst die Sockel der Häuser, auf denen das Erdgeschoß saß, reichten viel weiter hinauf.

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Impression vom Sechstagerennen am Kaiserdamm 1926, mit Rudolfs Beschriftung.

Mein Vater erinnerte sich erst viel später wieder an die bürgerliche Attitüde des gebildeten Erklärens, die sein Vater unmittelbar nach Ankunft in Berlin an den Tag legte. Er wusste, sein Vater konnte rasch wechseln zwischen einem geradezu uninteressierten Laissez-Faire, Erziehung war schließlich Sache der Mutter und des Kindermädchens – wenn es nicht fast gleich alt gewesen wäre –, und einer professoralen Strenge, mit der er seinem Sohn die Welt erklärte. Hier am Askanischen Platz erklärte er Tag und Nacht, zwei allegorische Figuren über der Bahnhofsfassade. Sie flankierten die riesige Bahnhofsuhr. Es muss kurz nach acht Uhr Morgen gewesen sein.

Ich erinnerte mich erst sieben Jahre später wieder an diesen Moment, sagte mein Vater. Und es schien mir, als hätte mich an diesem Tag im Jahr 1938 die Figur Tag durch die Stadt begleitet. Ich brauchte damals noch nicht mein Wissen aus Karl May, ich genoss die flirrende Atmosphäre, wie sie Erich Kästner beschrieben hatte.

Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin.

Auf ihrem Weg nach Spandau, zum Auto-Union-Werk, kamen auch noch Hakenkreuzfahnen und antisemitische Parolen dazu. Kästners Emil und die Detektive, aus der die Beschreibung Berlins stammt, war zwei Jahre zuvor von den Nazis verboten und seine Bücher waren verbrannt worden.

Wir lassen uns ein Land durch seine Regierenden nicht schlecht machen, sagte mein Vater Jahrzehnte später, als US-Präsident George W. Bush den Irak angreifen ließ. Der Amerikabegeisterung, die in ihm zwischen 1945 und 1955 entstanden ist, konnte kaum etwas Abbruch tun. Vielleicht würde er das heute auch noch so halten und sagen, dieser Präsident vermiest mir mein Amerika nicht. Ich weiß es nicht.

Er sagte, Amerika ist ein großartiges Land, auch wenn es jetzt einen unnötigen Krieg im Irak führt. Und so war das auch damals, 1938, als wir in Berlin waren. Es war eine großartige Stadt, die uns die Nazis nicht nehmen konnten.

Wahrscheinlich sprach aus ihm ein wenig das, was sein Vater damals erzählte. In Rudolfs Wahrnehmung der großen Stadt hallten die Zwanzigerjahre nach, das Sechstagerennen. Er hatte es aus der Entfernung immer verfolgt. Und einmal auch persönlich. 1926, im Geburtsjahr meines Vaters, gab es gleich drei dieser Radrennen, unter anderem im Berliner Sportpalast, dort, wo ein paar Jahre später Joseph Goebbels die Massen zum Totalen Krieg aufpeitschen sollte.

Im Juni 1926 fand auch eines der großen Radrennen in der Kaiserdamm-Arena statt. Da war Rudolf dabei, bei einem Teil der mehr als viertausend Kilometer langen Strecke, die im Kreis zurückgelegt wurde. Es war eine Sportveranstaltung, sagte er zu meinem Vater, und doch um nichts weniger eine Varietéveranstaltung mit Musik, reichlich Getränken, einer verrauchten Arena, in die die Deckenleuchten Lichtpyramiden schnitten, und aufgeregten Platzsprechern.

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Linz 1924: Rudolf auf seiner Speedwaymaschine.

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Die Patchworkfamilie im Jahr 1944.

Das Thema Doping wurde damals noch nicht so eng gesehen. Um die durchzufahrenden Nächte, oft bei 60 Stundenkilometern, körperlich durchzuhalten, griff manch Fahrer zu Cocktails aus Kokain, Strychnin und Opium. Egon Erwin Kisch bezeichnete die Rennen in einer berühmt gewordenen Reportage als todernstes mörderisches Ringelspiel. Rudolfs Interesse galt vor allem dem technischen Fortschritt rund um die Fahrräder. Während der sechs Tage, sagte Rudolf auf dem Weg nach Spandau, durchqueren die Rennfahrer den ganzen Kontinent. Und doch bekommen sie davon nichts zu sehen. Mein Vater bekam von Berlin nichts zu sehen. Jedenfalls, fast nichts.

Die einst legendären Radspektakel gab es nicht mehr. Den Nationalsozialisten war der schichtverbindende Rummel mit Champagner und Bier suspekt. Links oder Rechts war bei dieser Volksbewegung einerlei. 1934 fand das letzte Rennen vor dem Krieg statt. Zuerst, pflegte Rudolf zu sagen, waren die Fahrräder Luxus und die Rennen proletarisch. Dann kommt ein deutscher Kronprinz zum Sechstagerennen in den Sportpalast: Und plötzlich sind die Rennen hoffähig und die Fahrräder proletarisch. Rudolfs kleine Fahrradsoziologie rührte aus der Zeit, als er Fahrradfabrikant gewesen war.

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Großvater an seinem Altar der Geschwindigkeit.

Das war in Kärnten, bis zum ersten Großen Krieg. Räder waren seine Leidenschaft. Kleine, von einer Feder angetriebene, verbaut in den Taschen- und Armbanduhren, die man nur mit der ins Auge geklemmten Lupe bearbeiten kann; und große, mit Ketten und Schmiere, schmutzige und schnellaufende, die nur mit Handschuhen und Kraft gewartet werden können. Er brauchte das Feingliedrige und das Grobschlachtige, die Unruh und das Speedwayrennen. Nach dem Krieg, 1918, widmeten sich Rudolf und seine beiden Brüder in St. Veit an der Glan nicht mehr der Herstellung von Fahrrädern. Das letzte Inserat bewirbt die neuesten Modelle 1914/15, mit glänzender Anerkennung aus allen Kreisen. Vorzeigemodell ist die Marke B.L., mit bestem Torpedo-Freilauf, Doppelglockenlagern, Gebirgsmänteln, Werkzeug, Glocke, Azetylenlaterne, Fußpumpe und Kotschützer, zusammen um nur Kronen 120.

Die Cyclisation, wie die Ausbreitung des Fahrrades genannt wurde, war um diese Zeit schon weit fortgeschritten. Mehr als 150.000 Pedalisten gab es vor dem Krieg. Das war selbst für das große Land, die Habsburgische Monarchie, eine ganze Menge. Kaiser Franz Joseph bezeichnete die Entwicklung als Epidemie. Das Fahrrad verwandelte sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vom exklusiven Fortbewegungsmittel zum Massenfahrzeug. Und diese Massen organisierten sich in Vereinen und nach Weltanschauungen. In diesem Jahrzehnt entstehen die ersten Arbeiterfahrradvereine in Wien und Graz. Anfangs prägte die Befassung mit Radfahrordnungen und Straßenverkehrsregeln die Vereinsarbeit. Sehr rasch war sie sehr politisch. Es gab Allianzen mit den Deutschnationalen, bei Aufmärschen wurden die Fahrräder zu Propagandazwecken rot geschmückt.

Rudolf hingegen war vor allem Rennfahrer. Auf einem Bild ist er im Alter von etwa Mitte Zwanzig zu sehen. Vom offenen Fenster am linken Bildrand, das die Szenerie beleuchtet, trennt ihn der Altar seiner Geschwindigkeitsrekorde. Er repräsentiert die Generation, in der sich die Ikonen häuslicher Dekoration verwandeln. Es gibt keinen Betschemel zum Hinknien, kein Kruzifix an der Wand. Es sind Pokale in Regalen, Streckenkarten an den Wänden, Medaillen auf Samtpölsterchen, und Abzeichen an der Brust. Vom Kragen bis zum Gürtel bedecken sie, als er für dieses Bild posiert, sein hochgeschlossenes Jackett wie einen Panzer. Sie scheinen ein Gewicht zu haben, das den Stoff herunterzureißen droht. So bildet sich die neue Freizeitgesellschaft in den Haushalten der alten Bürgerlichkeit ab, Erinnerungen an die Erregungen der Geschwindigkeit. Es ist Geschwindigkeit, nicht weil sie nötig ist, sondern weil sie möglich ist.

Mit der Beschleunigung der Fortbewegung und des Lebens geht die neue Vermessung der eigenen Leistungsfähigkeit einher. Nach der Vermessung der Welt beginnt nun die Vermessung des Individuums. Erstmals werden Unmengen an persönlichen Daten gesammelt, eine Explosion von Zahlen, generiert aus akribischer Selbstbeobachtung. Startzeit, Zielzeit, Durchschnittstempo, Fahrzeit, Höchstgeschwindigkeit; deren Messung braucht massenweise Uhren. Seit der Jahrhundertwende sind Stoppuhren auf dem Markt. Viele lassen bereits Messungen in Zehntelsekundenbruchteilen zu. Rudolfs Fahrt zum Meisterfahrer von Kärnten, wie der Titel für die Fünfzigkilometerstrecke Maria Saal – Mölbling und zurück hieß, wurde immerhin in Fünftelsekundenbruchteilen gemessen. Im Jahr 1904 verteidigte er diesen Titel in 1 St. 39 Min. 38 Sekunden. Er trat für den Brucker Bicykl-Klub an, bei reger Teilnahme von Sportsfreunden und bester Witterung, wenngleich die Teilnehmer mit Gegenwind zu kämpfen hatten, wie das Klagenfurter Blatt Freie Stimmen festhielt. Die Fünftelsekundenbruchteile hätte es noch nicht gebraucht, um den Sieger zu ermitteln. Denn der hat sich auf der Rückfahrt von Mölbling von seinen Konkurrenten abgesetzt, und kam mit großem Vorsprung ins Ziel. Sogar in bester Haltung. Das zählte auch. Und dafür brauchte es gar keine Uhr mit Sekundenzeiger. Aber die präzise Zeitmessung brachte etwas anders: Die Unpünktlichkeit war erfunden. Auf die Minute genau brauchte bisher kaum jemand zu einer Verabredung zu erscheinen. Ab sofort war die Toleranz deutlich geringer.

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Zeitungsinserate der Brüder Leitner aus St. Veit an der Glan und des Linzer DKW-Händlers Glogar. Eines der Frühjahrsmodelle wurde angeschafft.

Der Termin zur Abholung des neuen Wagens in Berlin-Spandau war trotzdem noch ein ungefährer. Keine Minute war vereinbart, nicht einmal der Tag. Die Woche, in der Rudolf kommen wollte, war über die Firma Glogar in Linz ausgemacht. Dort hatte Rudolf einen neuen Wagen gekauft, und vereinbart, ihn gleichsam ab Hof zu beziehen. Das sparte Lieferzeit und Geld. Das Geschäft des Kaufmanns Ernst Glogar lag an der Landstraße. Er war in geringem Umfang Rudolfs Mitbewerber, was den Verkauf von Motorrädern betrifft, aber mittlerweile vielmehr das, was Rudolf einst auch war: Händler mit Motor- und Fahrrädern, und nun auch mit Autos. Die beiden Männer waren aufgrund ihrer Interessen für die neue Technik befreundet. Rudolf gab bei Glogar seine Frühjahrsbestellung auf.

Mein Vater erinnerte sich, er habe es kaum erwarten können, endlich in Spandau zu sein. Er wollte die Farbe Stahlblau sehen. Die sollte das Auto haben. Es klang nach einer starken Farbe. Er dachte später, es sei ein nicht enden wollender langer Fußmarsch durch die Straßen Berlins gewesen bis zum DKW-Werk im Westen der Stadt. Aber das kann nicht stimmen. Vom Anhalter Bahnhof hätten sie fast drei Stunden gebraucht. Ich habe das später mit meinem Vater anhand einer historischen Karte rekonstruiert. Sie haben öffentliche Verkehrsmittel benützt. Mein Vater hat das vielleicht vergessen, weil sie ihm bereits als Selbstverständlichkeit galten. Die Verkürzung des Weges mit den durch die Straßen brausenden Tramways und Doppeldeckeromnibusse war ihm die selbstverständliche Geschwindigkeit seiner Zeit. Rudolf hingegen erfährt die Moderne als Beschleunigung.

Und Rudolf wollte an dieser Beschleunigung der Zeit teilhaben – und daran verdienen. Bis zum Ersten Weltkrieg mit der Herstellung von Fahrrädern und der Bereitstellung von Fahrzeugen, dann mit der Herstellung von Uhren. Alles Gewerbe für eine schnellere Welt und für die Schrumpfung des Raums. Das hat sich offenbar auch für das kleine St. Veit an der Glan in Kärnten ausgezahlt. Im Frühjahr 1912 haben Rudolf und sein Bruder Thomas, die unternehmungslustigen Brüder, wie die lokale Zeitung sie nennt, einen Puch 16/18 HP angeschafft und einen sogenannten Automobilverkehr eingerichtet.

Im Anfange schüttelten wohl viele darüber den Kopf und bezeichneten unsere Stadt als zu klein hierfür. Trotz der kurzen Zeit des Bestandes hat sich das Automobil schon recht eingebürgert und sind die Bewohner den wagelustigen Unternehmern hierfür recht dankbar. Für Vergnügungs- und Geschäftsfahrten wird es recht oft in Anspruch genommen.

So sehr, dass die Brüder daran dachten, ein zweites Automobil zu kaufen. Nach dem Puch 16/18 Viersitzer mit Vierzylinder-Motor und Prinz-Heinrich-Karosserie kam ein Laurin & Klement 35/40 HP, Tourenkarosserie, 4-sitzig mit zwei Notsitzen.

Diese Verdoppelung der Autodichte war auch die Geburtsstunde der Kritik am Autozeitalter, jedenfalls in St. Veit. Vorerst beschränkte sie sich darauf, dass die Fiaker das Nachsehen hatten. An ihr Ende wurde noch gar nicht gedacht, und auch nicht an deren Verkommen zur überall gleichen innerstädtischen Touristenbelustigung. Die Fiaker wurden damit beruhigt, dass die kleine Stadt St. Veit, sie hatte damals etwas mehr als siebentausend Einwohner, nun einen neuen Bahnhof bekomme. Die per Bahn eintreffenden Reisenden sollten den Abgang jener Fahrgäste ausgleichen, die Rudolf ihnen mit seinem Automobil abspenstig machte. Es war kein Taxiunternehmen oder ein Fahrtendienst. Am Anfang der Verbreitung des Automobils und seiner Entwicklung zum Massenfortbewegungsmittel stand schon die Idee der Sharing Economy. Es galt abseits der Schlossbesitzer, Barone und Industriellen als wenig ökonomisch, ein solches Gefährt ausschließlich zum eigenen Gebrauch zu besitzen. Aber es könnte auch sein, dass Rudolf nur das verfolgte, was man heute PR-Strategie nennen würde.

Unentgeltlich brachte er Feuerwehrleute zum Einsatzort. Vielleicht war es eine Selbstverständlichkeit, vielleicht wollte er aufkeimender Kritik an der Automobilisation entgegenwirken. Jedenfalls hatte er Presse, und keine schlechte. Er nahm auch Krankentransporte vor. In die Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt für zwanzig Kreuzer, und das in weniger als einer viertel Stunde. Selbst solche Fahrten brachten Presse, jedenfalls, wenn es hochwohlgeborene Opfer waren. Baron Auer war ein solches.

Carl Freiherr Auer von Welsbach, wie dieser Baron Auer mit vollem Namen hieß, war ein Miterfinder der Moderne. Er hatte die Osmiumlampe, die erste praktikable Metallfadenlampe, entwickelt. Zudem war er Schöpfer der Marke Osram. Der Firmenname war in der Berliner Reklamewelt allgegenwärtig. Und selbst am Linzer Taubenmarkt und ganz in der Nähe der Wohnung in der Bischofstraße konnte ihn mein Vater lesen.

In Linz war es nachts nicht so hell wie in Berlin. Es gab mancherorts noch die Finsternis. Ihr Verschwinden gehört zu den Entwicklungen, die wir im 20. Jahrhundert am allerwenigsten bemerkten. Das Licht leuchtete ab jener Zeit zunehmend jeden Winkel aus.

Zu Beginn stand die Beleuchtung als Garant für Ordnung und Moral. Aber als die Finsternis ihre Funktion verlor, dem Leben Struktur zu geben, änderte sich das wieder. Das Licht schützt nicht nur vor nächtlichen Unwägbarkeiten, es zieht diese auch an. Darunter die Sünde, die davon auch auf die nächtlichen Straßen der Reichshauptstadt gelockt wird. Das ist die Ambivalenz jeden Fortschritts in der Moderne.

Dorthin kommt die Siegessäule, sagte Rudolf, als eine Straßenflucht den Blick zum Großen Stern freigab. Für meinen Vater bot der Blick den Eindruck einer Baustelle. Bis 1950 hätte Albert Speer die Reichshauptstadt zur Welthauptstadt umbauen sollen. Die Siegessäule, so meinte man, passe besser zum Großen Stern als der Lichtturm, der Berlin nur zur Hauptstadt des Lichts machte – und nicht zur Hauptstadt der ganzen Welt.

Aber der Lichtturm war es, der die Nacht über Berlin auch im Jahr 1938 noch zu einer Attraktion machte. Licht ist Leben stand darauf in großen Lettern zu lesen. Gleichzeitig war der Turm eine kolossale Werbung für den Glühlampenhersteller Osram, den Carl Freiherr Auer von Welsbach begründetet hatte. Für Rudolf hingegen war der Blaublüter schlicht der Baron Auer. Schließlich war er ihm einst während seiner Kärntner Zeit zu Hilfe geeilt, nachdem der begeisterte Automobilist nahe seines Schlosses in Mölbling einen schweren Unfall hatte.

Auers Automobil touchierte am Hunnenbrunner Hügel so heftig drei Grenzsteine, dass es umstürzte und stark beschädigt wurde. Baron Auer erlitt mindere Verletzungen, indes die mitfahrende Frau Baronin sehr schwere erlitt, heißt es in der lokalen Zeitung, und sie soll sich beim Herausfallen auch die Hand zweimal gebrochen haben. Sofort nach der Katastrophe wurde die Automobilunternehmung um Hilfe ersucht, und Rudolf brachte die beiden nach Klagenfurt ins Sanatorium, was in fünfundzwanzig Minuten geschehen war. Die Baronin musste dort verbleiben, indes Baron Auer nach dessen Schlosse in Rastenfeld überführt wurde.

Wie viel weniger Aufregung als der Betrieb der Automobilunternehmung brachte Rudolf die Arbeit an den Uhren. Deren Herstellung und Reparatur waren eine sehr ruhige, zuweilen notwendigerweise langsame Arbeit, unter dem Vergrößerungsglas, an kleinsten Zahnrädern. Auf Dauer zu ruhig, zu langsam für Rudolf. Das erschließt sich aus einem Pamphlet, vier Jahre vor der Reise nach Berlin zu Rudolfs fünfzigstem Geburtstag vorgetragen. Er bewahrte eine Abschrift auf. Darin heißt es in einer der zahlreichen Strophen: Wohl nicht mit Uhren, nicht mit Ringe (sic) / das Gewerbe war zu still / er burrte längst wieder am Rad / ihn kümmerte Zeit, Start und Ziel.

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Rudolf, zweiter von links, im Trikot seines Radsportvereins Anfang der 1920er.

* Zuckerl: Bonbons

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Bericht über ein Meisterschaftsrennen Mitte der 1930er, links Rudolf.

Zwischen Start und Ziel lag plötzlich immer weniger Zeit, lagen immer höhere Spitzengeschwindigkeiten. Schienenfahrzeuge erreichten in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts bereits ein Tempo von etwa zweihundert Stundenkilometern, auch Automobile schafften zuweilen solche Rekorde. Aber, sagte Rudolf (und weil es auf dem Weg durch Berlin war, könnte es in der Tramway gewesen sein), das Bemerkenswerte sind nicht die Rekorde. Interessant ist, wie die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der wir uns durch unsere Städte, durch die Landschaft bewegen, ansteigt.

Bis vor kurzem war Schritttempo für die allermeisten Menschen die durchschnittliche Fortbewegungs-Geschwindigkeit. Das hatte sich in den Dreißigerjahren, sagte er, rasant geändert. Heute ist es wieder ähnlich. Einer Studie zufolge fahren Motorisierte in Berliner Stoßzeiten wieder Schritttempo. Sie verlieren jährlich 154 Stunden Lebenszeit. Das ist fast eine Woche.

Der Anstieg der Durchschnittsgeschwindigkeit im alltäglichen Leben ließ die Welt sich schneller drehen, die Gesellschaft beschleunigte sich. Aus dem Ticken der Uhr wurde ein Strom, der sich ständig auf und ab bewegte, und der stabilisierende Normen und Ordnungen auflöste, den Einzelnen hin- und herschleuderte. Die Gesellschaft entwickelte Zentrifugalkräfte. Partikuläre Gruppen formten sich. Freizeit und ihre Gestaltung waren nicht mehr nur Sache der obersten Gesellschaftsschicht mit arbeitslosem Einkommen und verfügbarer Zeit. Es gab erstmals Interessen, abseits pragmatischer Lebens- und Überlebensfragen. Interessen-Gruppen entstanden, Rudolf trug mit Vereinsgründungen dazu bei. Die Motor- und Fahrradvereine waren so unpolitisch wie er selbst. In der Zeitschrift Der Radfahrer formulierte er allerdings einen überraschenden Aufruf: Radfahrer aller Länder! Vereinigt Euch! Mit den Ländern meinte er natürlich die österreichischen Bundesländer, und mit der Vereinigung, die Gründung eines Dachverbands samt Zweigstellen. Die lokalen Blätter berichteten ganz ausführlich und vor allem juristisch genau über den neuen, wie es hieß, rührigen Sportklub. Ein Verein nach dem anderen entstand, in einer Mischung aus Weltanschauung und Fortbewegungsmittel.

Es waren die Ausläufer der fortschreitenden Diversifikation der Gesellschaft seit der Jahrhundertwende. Sie reichten noch ein Stück weit in die Diktatur hinein.

Dann, nach dem März 1938, stand auf jenem Haus am Linzer Taubenmarkt in großen weißen Lettern nicht nur Osram, sondern – umrahmt von einem Dutzend Hakenkreuzfahnen: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Und bei den Radrennen stand am Schild der Rennleitung als Zusatz: Gau 17. Dann war tatsächlich alles nur noch eins, keine Diversifikation, nichts war mehr unpolitisch, schon gar nicht der Sport, nicht einmal in dem Sinne Rudolfs. Das neue Reich war bekanntlich auf eine lange Zeit angelegt. Aber auch die Weltanschauungen und die Haltbarkeit von Ideen beschleunigten sich. Was für ein Glück.

Mein Vater und sein Vater beschleunigten ihren Gang. Das letzte Stück ihres Wegs entlang der Spree gingen sie zu Fuß. Es war ein heller Junivormittag, ein wenig diesig, für die Jahreszeit sehr frisch. Hier draußen waren deutlich weniger Autos zu sehen, erinnerte sich mein Vater. Mit abnehmender Frequenz der Autos auf den Straßen, nahmen sie in den Gesprächen der beiden zu. Es war nicht nur die Neugierde auf den neuen Wagen. Es war die Vorfreude auf die lange Jungfernfahrt zurück nach Linz. Die wollte mein Vater nicht seinem Vater überlassen, sagte er. Natürlich durfte man auch damals nicht mit zwölf Jahren Auto fahren. Aber die Härte der Gesetze betraf zu dieser Zeit andere Lebensbereiche.

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Szenen aus dem DKW-Werk in Berlin-Spandau, entstanden bei der Abholung. (Filmstills)

Mein Vater erinnerte sich, wie aufgeregt er war, als sie zu einem Backsteingebäude nahe des Havelufers kamen. Es stand auf einer Halbinsel vor der Kulisse der Zitadelle Spandau, mit der großen Aufschrift Auto Union, Werk Spandau. Dort stand der in Linz bestellte Wagen bereit, dort war er zuvor per Hand zusammengebaut worden. Unzählige Monteure trugen Blechteile durch die Werkshallen und bauten Autos zusammen. Das war kein Pappendeckel-DKW mehr, sagte mein Vater, das war ein richtiges Auto, aus Stahlblech, stahlblau. Wie der Wanderer, sagte er, aber eben nicht solcher Luxus, sondern die DKW-Sonderklasse, Baujahr 1938, Hinterradantrieb. Tausendeinhundert Kubik, zweiunddreißig PS. Jeder fünfte neu zugelassene Wagen in diesem Jahr kam aus einem DKW-Werk. Mit Pappendeckel meinte er die kunstlederüberzogenen Sperrholzkarosserien. Die gab es noch.

Ich finde, stahlblau sieht gar nicht so schlecht aus. Mein Vater war enttäuscht, er hatte die Farbe als hellblau mit Grünstich in Erinnerung. Aber das konnte er Rudolf nicht mitteilen. Der war gerade in einem hinter Glaswänden abgetrennten Büro. Mein Vater eignete sich inzwischen den Wagen emotional an, mit den Augen, mit den Händen, mit der Nase. Er strich über den Gummi des Reserverads an der Heckklappe des Autos. Man sagte nicht mehr Friedensgummi, wie nach dem Großen Krieg, als damit eine spezielle Qualität bezeichnet wurde. Dafür war nun lange genug Frieden. Und doch hätte es, wie wir heute wissen, gepasst. Er strich über die ausgestellten Kotflügel, den großen, tief hinunterreichenden Kühlergrill mit den vier Ringen der Auto Union, heute das Audi-Firmenzeichen. Er ließ die über dem Frontscheibenfenster angebrachten Wischer gegen das Glas schnalzen, und setzte sich zur Probe hinter das große Lenkrad mit den vier dünnen Speichen, er wollte hören, wie die rückwärts angeschlagene Tür ins Schloss fällt. Der bringt vielleicht hundertvierzig Stundenkilometer auf die Straße, dachte ich, sagte er mir später beim Betrachten einer alten Schwarzweiß-Fotografie. Ich hielt diese Geschwindigkeit für etwas zu gewagt, als ich den filigranen Wagen darauf sah.

Die emotionale Aneignung des Automobils, wie sie mir mein Vater beschrieb, gab dem Ding eine Bedeutung, eine Aussage, die über das Materielle hinausging. Roland Barthes schreibt knapp zwanzig Jahre später, ein Ansprechen der Dinge in solcher Art macht das Objekt zum Mythos.

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