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KLAUS DÜRRSCHMID

ZUNGENBEKENNTNISSE

Warum der Wein im Urlaub besser schmeckt
und andere Fakten und Wunder aus der
Welt der Sinne

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INHALT

Einleitung

Sensorische Wahrnehmungen

Schmecken

Angenehme Schmerzen

Riechen

Sehen

Textur und Mundgefühl

Hören

Sinnliche Teamarbeit

Genuss

Psychophysik

Die Zukunft des Geschmacks

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EXPERIMENTE

Literatur

Danksagung

VORWORT

Als ich einmal müde über einem Sensorik-Lehrbuch eingeschlafen war, hatte ich einen seltsamen Traum, in dem mir meine eigene Zunge folgende Bekenntnisse zugeflüstert hat:

„Ich bin es. Deine Zunge. Wenige Wochen nachdem Du gezeugt worden bist, hab ich mich schon in Dir entwickelt. Seitdem arbeite ich meistens verborgen und unbemerkt in Deiner finsteren Mundhöhle. Dabei bin ich ein starker Muskel mit sagenhaften Fähigkeiten! Ich helfe Dir beim Essen und Trinken, Schlucken, Reden und beim Schmecken. Ich bin ein Biosensor für chemische Stoffe, aber auch für die Temperatur, für Schmerzen, Reizstoffe und für mechanische Eigenschaften zuständig. Mit meinen Fähigkeiten helfe ich Dir zu überleben auf dieser Welt und verschaffe Dir Deine Geschmackserlebnisse – mal gute und mal nicht so gute, dafür kann ich aber nichts. Ich finde, Du solltest einmal würdigen, was ich alles für Dich mache! Allerdings muss ich ein Geständnis machen. Ich bin nicht allein für den Geschmack zuständig. Ich brauche Deinen Geruchssinn und viele andere Sinne, von denen Du manche gar nicht kennst, obwohl Du sie tagtäglich verwendest. Was ich auch ganz dringend brauche, ist Dein Nervensystem. Vor allem Dein Gehirn. Ohne Gehirn kein Geschmack. Gut, ich muss also gestehen, dass ich nur ein Zahnrad im Uhrwerk Deiner Wahrnehmungsfähigkeit bin. Aber ein überaus wichtiges! Daher bin ich der Meinung, dass Du ein Buch schreiben solltest, in dem Du mich und das Netzwerk der Sinne, in dem ich arbeite, ins rechte Licht rückst, und Dir auch überlegst, wie man mich pfleglich behandeln und meine Fähigkeiten üben und trainieren könnte. Ach ja und bitte vergiss nicht, diese unsägliche Zungenlandkarte zu korrigieren. Ich werde mich mit herrlichen Geschmacksempfindungen revanchieren – versprochen. Viel Glück!“

Soweit der Traum, aber vielleicht hat mir meine Zunge schon als kleines Kind unhörbar ins Unbewusste geflüstert und mich dazu veranlasst, zur Überraschung meiner Eltern spontan Vanillekipferl zu backen … mitten im Sommer, oder als Frühaufsteher morgens ein Steak oder ein Omelett zuzubereiten. Neben den rätsel-, ja, fast zauberhaften Verwandlungsvorgängen haben mich beim Kochen vor allem die dabei wahrnehmbaren verschiedenen Geschmäcker, Gerüche und Texturen interessiert. Mit meiner Volksschullehrerin habe ich damals um 20 Schilling gewettet, dass ich einmal Koch werden würde. OK, die 20 Schilling habe ich verloren, doch die Lust am Kochen, einer Tätigkeit, bei der man intensiv mit sensorischen Reizen konfrontiert ist, war eine wesentliche Triebkraft, mich mit der sensorischen Wahrnehmung von Lebensmitteln zu beschäftigen. Seit vielen Jahren arbeite ich bereits im Bereich der Lebensmittelsensorik, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften von Lebensmitteln befasst und wie man sie erfassen, verändern und steuern kann. An der Universität für Bodenkultur Wien halte ich seit mehr als 20 Jahren Vorlesungen und Übungen zu diesem Thema, häufig auch Seminare, Vorträge und Workshops für außeruniversitäre Organisationen und Unternehmen. Durch diese berufliche Tätigkeit habe ich Erfahrungen und Einsichten in die sinnliche Wahrnehmung des Essens und Trinkens erworben, die ich auf Veranlassung meiner Zunge versucht habe, in diesem Buch niederzuschreiben, um möglichst viele Menschen für die kulinarischen Sinne zu begeistern. Ich bin davon überzeugt, dass man ein glücklicherer Mensch wird, wenn man seine Sinne schärft und sich der Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungen beim Essen und Trinken bewusst wird. Die Welt wird lebendiger und lustvoller über ihre Wahrnehmung mit Hilfe unserer Sinne. Durch alltägliches, bewusst gemachtes Schmecken und Riechen und auch durch spezielle Übungen und Trainingseinheiten, wie sie in diesem Buch beschrieben werden, können wir uns auf eine aufregende Reise durch die sinnliche Vielfalt der kulinarischen Umwelt machen. Mit Hilfe unserer Sinne bilden wir uns eine Vorstellung von der Welt, und so tragen Essen und Trinken über die sinnliche Wahrnehmung einen großen und wichtigen Teil zu unserem Lebensglück bei.

Der Nobelpreisträger David Kahneman hat herausgefunden, dass von all den Tätigkeiten, denen man im Alltag nachgeht, intime Beziehungen die höchste positive Bewertung erhalten, aber erstaunlich knapp dahinter liegt bereits das Essen. Wenn man in Betracht zieht, dass intime Beziehungen – bei den untersuchten amerikanischen Personen – im Durchschnitt täglich 12 Minuten beanspruchen (immerhin!), das Essen aber 132 Minuten, also das Elffache an Zeit, dann wird klar, dass Essen und die damit verbundenen sinnlichen Wahrnehmungen ein ganz wesentlicher Faktor bei der Entstehung von alltäglichem Wohlbefinden und Glück sind. Wir essen etwa 9 Prozent der gesamten Zeit eines Tages und etwa 14 Prozent unserer wachen Lebenszeit. Bei einem Alter von 80 Jahren haben wir in Summe 5 Jahre nur gegessen! Den Wahrnehmungen, die man während dieser langen Lebenszeit hat, kann man meiner Meinung nach kaum zu große Aufmerksamkeit widmen. Grund genug, der Bitte meiner Zunge nachzugeben und das vorliegende Buch zu schreiben, das Ihnen als Kompass und Wegbegleiter durch die wunderbare Welt des Schmeckens dienen soll.

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EINLEITUNG

Über Geschmäcker und Farben kann man nicht streiten. „De gustibus et coloribus non est disputandum“ haben die mittelalterlichen Philosophen der Scholastik behauptet und damit wohl gemeint, dass es kein objektiv richtiges Geschmacksempfinden, kein Richtig oder Falsch in Geschmacksfragen gibt. Dem kann die moderne Wissenschaftsdisziplin Sensorik, die sich vor allem ab den 1930er Jahren entwickelt hat, durchaus zustimmen, aber sie würde ergänzen, dass man den Geschmack wissenschaftlich untersuchen muss, weil er enormen Einfluss auf unser Verhalten und auch auf unsere Lebensqualität ausübt. Der Leitsatz der Sensorik könnte – wenn mein Küchenlatein etwas taugt – lauten: „Gustus sunt pernoscendum.“ Geschmäcker müssen erforscht werden, denn dann braucht man auch nicht darüber zu streiten.

So jung die Sensorik als Wissenschaft ist, so lange existiert sie allerdings schon als allen Lebewesen innewohnendes Bewertungs- und Navigationssystem. Alle Lebewesen bedienen sich sensorischer Systeme, um zu überleben, sich fortzupflanzen und um sich zu ernähren. Das Schmecken ist sogar in der menschlichen Gattungsbezeichnung enthalten, denn wir sind der Homo sapiens sapiens. Sapiens kommt aus dem Lateinischen sapor, dem Geschmack, oder dem Verb sapio, schmecken, verständig sein. Wir sind also der schmeckende und verständige Mensch. Die Fähigkeit zum Schmecken erscheint so als grundlegendes Element der menschlichen Identität. Schon Adam und Eva schmecken den Apfel vom Baum der Erkenntnis und haben anschließend die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wenn man der biblischen Geschichte Glauben schenkt, steht am Anfang der Sensorik die Vertreibung aus dem Paradies, das klingt nicht nach einem allzu guten Omen für eine wissenschaftliche Disziplin, aber sie hat sich in den letzten Jahrzehnten dennoch sehr gut entwickelt und hilft vielleicht, uns wieder ins zumindest kulinarische Paradies zurückzuführen.

Beim umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „Geschmack“ ist nicht nur die Wahrnehmung von Grundgeschmacksarten wie süß, sauer, salzig oder bitter gemeint, sondern vielmehr eine sehr umfassende Wahrnehmung vieler Merkmale eines Lebensmittels im Mund. Und in diesem umfassenden Sinn will dieses Buch den Geschmack auch verstanden wissen. Im Englischen wird dafür meist das Wort Flavour verwendet, im deutschsprachigen Raum gibt es keine analoge Wortbildung. Jedenfalls bezeichnet der Geschmack alle Wahrnehmungen, die entstehen, wenn wir etwas im Mund haben, egal von welchem Sinnessystem sie stammen. Daher beschäftigt sich das Buch nicht nur mit dem gustatorischen Sinn in der engeren Bedeutung vom Wahrnehmen der Grundgeschmacksarten, sondern ebenfalls mit dem Riechsinn, der eine enorme Bedeutung bei der Identifikation und Wertschätzung von Lebensmitteln hat, sowie mit den Sinnessystemen für die mechanischen, akustischen, visuellen und trigeminalen Eigenschaften, denn all diese Sinnessysteme beeinflussen den eigentlichen gustatorischen Sinn und den gesamtheitlichen Geschmack maßgeblich und ohne die anderen Sinnessystem ist auch der gustatorische Sinn nicht zu begreifen.

Wir alle wissen, wie schlecht es um unsere Schmeck-Fähigkeiten steht, wenn wir Schnupfen haben. Das weist schon darauf hin, dass wir die Nase für das umgangssprachliche, gesamtheitliche „Schmecken“ brauchen. Interessanterweise gibt es in manchen lokalen Dialekten noch das Wort Schmecken im Sinne von Riechen. „Hinschmecken“ bedeutet dort „hinriechen“ und nicht etwa den Geschmack mit der Zunge wahrzunehmen. Offensichtlich gibt es im Alltag eine beträchtliche Verwirrung über unsere sinnlichen Wahrnehmungen. Die sprichwörtlichen „fünf Sinne“, die uns zu Wahrnehmungen verhelfen, sind zwar in aller Munde, trotzdem sind sie aus naturwissenschaftlicher Sicht ein irreführendes Klischee. Daher stehen nicht nur die „fünf Sinne“ im Fokus dieses Buchs, sondern unsere gesamte sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit als Ergebnis eines Netzwerkes von Sinnessystemen.

Zunächst wollen wir uns mit sensorischer Wahrnehmung im Allgemeinen beschäftigen (Kapitel 2), dann die einzelnen Sinnessysteme näher betrachten (Kapitel 3 bis 8), um später zu untersuchen, wie diese Sinnessysteme im Team zusammenarbeiten (Kapitel 9). Kapitel 10 beschäftigt sich dann mit einem sehr wichtigen Aspekt der Wahrnehmung von Lebensmitteln, dem Genuss sowie seinem Gegenspieler dem Ekel. Hier erfahren Sie unter anderem, warum der Wein im Urlaub meist besser schmeckt als zuhause. Im 11. Kapitel werden psychophysikalische Gesetzmäßigkeiten geschildert, die Sie im Alltag beobachten können. Kapitel 12 wagt schließlich einen spekulativen Blick in die Zukunft des Schmeckens und der sensorischen Wahrnehmung. Sie können diese 12 Kapitel in einem Schwung lesen, aber ebenso gut einzeln „genießen“.

Sie finden außerdem, ganz hinten im Buch, noch die Anleitung zu zwölf leicht durchzuführenden Experimenten, die Ihnen sinnliche Gewissheit geben werden, wie vielfältig und groß die Welt des Schmeckens und der sensorischen Wahrnehmung ist. Viel Spaß!

SENSORISCHE WAHRNEHMUNGEN

Wozu essen wir und wozu nehmen wir das Essen sensorisch wahr?

Den meisten von uns ist nicht verborgen geblieben, dass Menschen neben dem Atmen auch essen und trinken müssen, um leben zu können. Manche leben vielleicht eher, um zu essen und zu trinken, aber das ist eher eine problematische Fehlentwicklung unserer Überflussgesellschaft. Die triviale Wahrheit, dass wir essen und trinken müssen, basiert auf der nicht mehr so trivialen Tatsache, dass wir als biologische Lebewesen sogenannte offene Systeme sind, die Energie und Materie mit der Umwelt austauschen müssen, um die Ordnung im Körperinneren zu optimieren und ein inneres Gleichgewicht herzustellen, das es erlaubt, unsere biologischen Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten. Wir befinden uns mit der Umwelt in einem dynamischen Fließgleichgewicht, denn wir verbrauchen bei all unseren Aktivitäten Energie, die von außen über energiereiche Nährstoffe wie Kohlenhydrate oder Fett wieder zugeführt werden muss. Außerdem müssen wir viele chemische Bauelemente zu uns nehmen, die der Körper benötigt, um Zellbestandteile umzubauen oder neu aufzubauen. Essentielle Aminosäuren, Fettsäuren, Vitamine, Mikronährstoffe müssen dem Körper zugeführt werden, da er sie nicht selbst aus anderen chemischen Stoffen herstellen kann. Unser Körper verliert auch dauernd Wasser über Haut, Lungen, Kot und Urin und braucht daher regelmäßig Wasser-Nachschub.

Essen und Trinken sind daher existenziell wichtige Tätigkeiten, für die sich in der Evolution sehr komplexe Steuerungsmechanismen entwickeln mussten. Hier kommen unsere Sinne ins Spiel, denn eine sehr wichtige Aufgabe in der Steuerung der Nahrungsaufnahme nehmen unsere kulinarischen Sinnessysteme ein. Sie haben eine regelrechte Torwächterfunktion, denn sie sitzen am Beginn des Verdauungskanals im und um den Mund und helfen uns bei der Entscheidung, ob und auch wie viel wir von einem Lebensmittel essen sollen. Verdorbenes oder sonst wie verdächtig Riechendes oder Schmeckendes nehmen wir nicht in den Mund oder spucken es wieder aus und schützen so unseren Körper vor gesundheitlichen Problemen oder Vergiftungen. Dagegen werden Lebensmittel, die angenehm riechen und schmecken, im Mund zerkaut, getrunken und geschluckt, sodass sie verdaut und in ihre chemischen Bausteine zerlegt und resorbiert werden können. Man kann die sensorisch wahrgenommenen Merkmale von Lebensmitteln also regelrecht als Qualitätsindikatoren auffassen, die darüber informieren, was uns erwartet, wenn wir das Lebensmittel in uns aufnehmen. Die Empfindung des Mögens oder Nicht-Mögens eines Lebensmittels ist absolut intuitiv, außerordentlich rasch und unwillkürlich auftauchend. Wir müssen nicht lange überlegen, ob uns das Tiramisu zusagt oder uns vor den gegrillten Rattenembryos graut, und wir wissen sofort, was wir zu tun haben – weiteressen oder ausspucken. Die Information des kulinarischen Genuss-Aspekts ist eindeutig appellativ, das bedeutet: zu einem speziellen Verhalten auffordernd.

So einfach die Wahrnehmung des Genusses fürs Erste erscheint, so schwierig ist es dagegen, die wahrgenommenen sensorischen Eindrücke mit Worten konkret und analytisch zu beschreiben. Häufig fehlen uns schlicht die Worte, um unsere sinnlichen Eindrücke zu beschreiben und wir behelfen uns dann mit vagen Aussagen wie: „Der Wein schmeckt seltsam.“ Manche Sensorik-Experten dagegen glänzen mit ausgearbeitetem Vokabular und bisweilen nicht unkomischen Formulierungen: „In der Nase ein Mix aus Kräuterwürze, Frucht und zartem Nussaroma, jugendliches Feeling, am Gaumen feines Spiel von eleganter Fruchtsäure und angenehmer Frucht, vor allem Zitrus und Kernobst in grüngelbem Design, elegant strukturiert im Abgang.“

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Ebenso schwierig ist die Quantifizierung von sensorischen Wahrnehmungen, sie also entsprechend ihrer wahrgenommenen Intensität in Zahlen zu fassen. Relativ leicht fällt uns das noch, wenn wir Standards oder Vergleichsmaterial haben, dann können wir halbwegs zuverlässig sagen, dass diese Probe in einem bestimmten Merkmal intensiver ist als die andere, aber Aussagen über die absolute Intensität ohne direkte Vergleichsmaterialien sind nur nach langem Training von ausgewählten sensorischen Prüfpersonen möglich. Die Aussage, dass in der Sensorik Menschen als Messinstrumente dienen, ist daher problematisch. Der Mensch bildet zumindest ein außergewöhnliches Messinstrument, dessen Eigenschaften wir uns noch näher anschauen werden.

Haben Sie Ihrefünf Sinnebeisammen?

Seit der Antike ist die Vorstellung, der Mensch sei mit fünf Sinnen ausgestattet, in der abendländischen Tradition ebenso verankert wie in der Kultur Indiens und Chinas. Erst Ende des 18. Jahrhunderts sprach man erstmals von einem sechsten Sinn, der aber eine Art außersinnliche Wahrnehmung der Geisterwelt bezeichnete. Ab dem 17. Jahrhundert wurde mitunter das sexuelle Empfinden als sechster Sinn bezeichnet, was 1826 noch der berühmte Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin in seiner „Physiologie des Geschmacks“ behauptete. Aber wie viele Sinne haben wir tatsächlich?

Eine zeitgemäße Antwort hängt ab von der Definition des Begriffs „Sinn“. Bleibt man auf der Ebene der mit dem freien Auge erkennbaren Sinnesorgane, gelangt man wohl zu dem Schluss, dass wir tatsächlich fünf Sinne haben: Nase, Zunge, Auge, Ohr und Haut. Bei dieser Einteilung ergibt sich allerdings eine Reihe von Problemen. Unter anderem zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass jedes dieser Organe auf mehrere unterschiedliche Reizarten anspricht und damit eigentlich unterschiedliche Sinnessysteme beinhaltet. Mit der Zunge beispielsweise nehmen wir nicht nur den Geschmack wahr, sondern auch Wärme, Kälte, Hitze, Schmerz, die Textur und irritierende chemische Inhaltsstoffe. Auch das Ohr besteht aus zwei verschiedenen Sinnessystemen, dem Hörsinn und dem Gleichgewichtssinn. Mit der Nase nehmen wir nicht nur Duftstoffe wahr, sondern auch Reizstoffe, wie Rauch oder Säuren, die ein eigenes Sinnessystem ansprechen. Der Tastsinn wiederum besteht in Wahrheit aus vielen einzelnen Sinnessystemen, die sich ganz unterschiedlicher Sinneszellen bedienen. Die Einteilung in die klassischen fünf Sinne beschreibt die Sinnesmöglichkeiten des Menschen nicht in widerspruchsfreier Weise und ist daher als obsolet zu bezeichnen. Bestimmt man die Anzahl der Sinne anhand der Reizarten, die wir aufnehmen können, hätten wir vier Sinne, weil wir auf mechanische, chemische, thermische und elektromagnetische Reize reagieren. Oder gar nur zwei, wenn wir mechanische, thermische und elektromagnetische Reize zu physikalischen Reizen zusammenfassten. Diese Einteilungen nach Reizart scheinen allerdings keinen wirklichen Erkenntnisgewinn zu bringen und verlagern das Problem eher auf eine sprachliche Ebene, als dass die physiologische Problemebene gelöst würde.

Gehen wir aber auf die Ebene unterscheidbarer Sinneszellen, die auf bestimmte Reize antworten, wird die Problemlage vollends unübersichtlich. Wir verfügen über mehr als 34 Sinne, wenn man eine Schätzung nach dieser Methode durchführt. Bruce Durie listet bei konventioneller Schätzweise zehn Sinne, bei akzeptierter Schätzweise 21 und bei radikalerer Schätzung 34 Sinne auf.

In der Medizin wird pragmatisch nach Art der Rezeptoren unterschieden. Exterorezeptoren sind nach außen gerichtete Rezeptoren, deren Erregungen bewusst verarbeitet werden können. Sinne, die solche Rezeptoren haben, sind der Sehsinn, der Geruchssinn, der Geschmackssinn, das Gehör, die mechanischen Hautsinne, die Temperatursinne für Warm und Kalt sowie der Schmerzsinn. Propriorezeptoren liefern Informationen, die uns meist gar nicht bewusst werden. Die Länge und Spannung von Muskeln, die Stellung von Gelenken zueinander, die Art und Weise des zeitlichen Verlaufs einer mechanischen Belastung in Muskeln, Sehnen und Gelenken werden von solchen Sensorzellen erfasst. Die Erregung der Enterorezeptoren wird uns nie bewusst, es handelt sich dabei um Rezeptoren, die beispielsweise bei der Regulation des Blutdrucks, des osmotischen Drucks von Blutplasma oder des Kohlendioxidgehalts im Blut aktiv sind. Insgesamt erscheinen alle Gruppierungsversuche, die nicht auf solche naturwissenschaftlich-physiologischen Gegebenheiten Bezug nehmen, als willkürlich. Und in gewisser Weise ist die Gruppierung der Sinneszellen oder Sinneswahrnehmungen in voneinander klar unterscheidbare Sinne also immer etwas willkürlich und abhängig von den Gruppierungskriterien. Einigen wir uns also darauf, dass das Klischee von den fünf Sinnen bestenfalls als sprachliches Bild für die Gesamtheit der menschlichen Fähigkeiten zur Sinneswahrnehmung dienen kann.

Von der Pyramide zum Netzwerk der Sinne

Die Vorstellung von einer hierarchischen Ordnung der Sinne hat eine lange Tradition, die von der Antike bis zu Kant und Schopenhauer reicht und noch heute in esoterischen und populärwissenschaftlichen Publikationen vertreten wird. Vor allem die Reihung der Sinne nach Aristoteles hat sich lange gehalten: Das Sehen als edelster Sinn, dann Gehör, Geruch und Geschmack sowie Gefühl als unterster, weil materiellster Sinn. Das Gefühl – also der Tastsinn – wurde vor allem in Zeiten, in denen das Rationale und das Vernunftmäßige im Vordergrund standen, als niedrigster der Sinne, als animalischer Sinn eingestuft. Der Sehsinn galt als der abstrakteste und edelste Sinn, unter anderem weil er der räumlich am weitesten ausgreifende Sinn ist, weil er auch die Kulturtechnik des rationalen Menschen schlechthin, das Lesen, ermöglicht, und weil er angeblich objektive, nicht von subjektiven Bewertungen verzerrte Informationen liefert. Dagegen, so wurde argumentiert, sind Tast- und Geschmackssinn niedere, materielle Sinne, die in Kontakt mit der Materie kommen müssen und überaus stark mit Emotionen und Gefühlen beladen wären. Der Geruchssinn wurde meist in mittlerer Position gereiht, weil er nicht so materiell erschien wie der Geschmackssinn, gelegentlich wurde er auch als unterster Sinn geführt, weil er als überaus subjektiv galt, damit nichts zu objektiver Erkenntnis beitragen könne und zudem stark mit dem Sexuellen, Triebhaften, Unbewussten und Nicht-Rationalen im Menschen verknüpft sei.

Aus heutiger Sicht sind solche Hierarchisierungen fragwürdig. Sie erscheinen als willkürlich und zeugen in erster Linie von der Überschätzung des rationalen Elements im Menschen und der Missachtung des Körperlich-Emotionalen und des Nicht-Bewussten. Eine aktuelle Modellvorstellung beschreibt Sinne nicht in Form einer pyramidenförmigen Hierarchie, sondern als ein dichtes Netzwerk von Sinnessystemen, das es unserem Gehirn erlaubt, eine mental-virtuelle Parallelwelt zu konstruieren, mit der wir uns in der Umwelt zurechtfinden. Eine Sinneswahrnehmung ist nichts anderes als die Aufnahme, Interpretation, Auswahl und Organisation von sensorischen Informationen zum Zwecke der Anpassung und Verhaltensänderung des Wahrnehmenden an die Umwelt. Jedes Sinnessystem trägt dazu bei, ein möglichst sinnvolles virtuelles Bild unserer Umwelt zu konstruieren, und liefert Informationen, ohne die ein zielgerichtetes Handeln und das Überleben insgesamt erschwert oder verunmöglicht würden. Das Modell eines Netzwerkes von Sinnessystemen bildet auch die Tatsache gut ab, dass Sinneswahrnehmungen einander wechselseitig stark beeinflussen. Farbe und Textur beeinflussen unsere Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen. Geschmack und Geruch stehen in intensiver Wechselwirkung miteinander und können auf der Wahrnehmungsebene häufig nur schwer voneinander getrennt werden. Wenn man ein Element des Netzwerkes verändert, beeinflusst man auch die anderen Elemente. Im Detail sehen wir uns diese vielfältigen Wechselwirkungen in Kapitel 9 über die sinnliche Teamarbeit an.

Zeitliche Reihenfolge der Sinneswahrnehmungen beim Essen

Bevor wir uns den einzelnen Sinnessystemen zuwenden, machen wir uns bewusst, in welcher zeitlichen Reihenfolge sensorische Reize während des Essens auf uns eintreffen. In Abbildung 1 ist eine Übersicht dargestellt. Wir sehen ein Lebensmittel – zum Beispiel einen Apfel – zuerst aus einer gewissen Distanz, eventuell riechen wir den Apfel schon, bevor wir ihn sehen. Wir nehmen ihn in die Hand und führen ihn zum Mund, berühren ihn mit den Lippen, beißen ab und beginnen den Bissen zu kauen. Dabei schmecken wir Apfel und nehmen wahr, wie sich der harte Bissen in einen Brei verwandelt, den wir nach einer gewissen Zeit schlucken. Es gibt also eindeutige Fernsinne wie das Sehen und eindeutige Nahsinne wie das Schmecken. Wir können einen Apfel nicht aus einer Distanz von einem Meter schmecken, er muss sich in unserem Mund befinden, direkt und körperlich mit unserer Zunge in Kontakt kommen. Der Geruch kann schon aus einer gewissen Distanz wahrgenommen werden, wird aber umso intensiver, je näher die Quelle kommt. Eventuell können wir auch ein Lebensmittel schon aus der Distanz hören. Wenn etwa Bier in ein Glas gegossen wird, so hören wir das vielversprechende Glucksen der einströmenden Flüssigkeit und das leise Knistern und Rascheln des Schaums, die uns beide auf das Vergnügen des Trinkens einstimmen.

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Abbildung 1: Fern- und Nahsinne

Meist ist das erste Sinnessystem der Wahrnehmung von Lebensmitteln das visuelle System. Wir sehen ein Lebensmittel zuerst. Das Aussehen von Lebensmitteln ist bekanntlich sehr einflussreich. Es beeinflusst unser Auswahl- und Ernährungsverhalten maßgeblich, weil wir vom Aussehen auf Eigenschaften schließen, die wir erst beim Essen des Lebensmittels wahrnehmen. Ein roter, prall glänzender Apfel beispielsweise muss doch süß, aromatisch, knackig und saftig sein, also kaufen wir ihn.

Doch was ist es eigentlich, das wir sehen, wenn wir ein Lebensmittel anschauen? Wir sehen eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelaspekte: die Gestalt, die Größe, die Farbe, die sich aus Farbart, Farbintensität und Helligkeit ergibt, wir sehen etwaige Durchsichtigkeit, die Beschaffenheit der Oberfläche, ihren Glanz oder ihre Mattheit, wir sehen ihre Struktur, die Textur, Gleichheit und Unterschiedlichkeit. Darüber hinaus sehen wir die Verpackung und darauf Bilder, Logos und die Produktbeschreibung. Von all diesen visuellen Informationen schließen wir zuerst auf die Identität des Lebensmittels und dann auf seine Beschaffenheit. Form, Gestalt und Größe engen die Möglichkeiten der Identität stark ein und die Farben zeigen uns meist Reifegrad oder Verderbszustand an, wobei Frauen Anzeichen für verdorbene Lebensmittel rascher erkennen als Männer. Wir schließen von Identität und Farbe ausgehend auf Geschmacks-, Geruchsund Texturmerkmale, somit also auf die Genusstauglichkeit. Die assoziative Verknüpfung zwischen Farben und dem zu erwartenden sinnlichen Gesamteindruck, der im Mund entsteht, nennt man „visuelles Flavour“. Beispielsweise lassen uns die Farben Gelb und Grün, wenn es sich um Obst handelt, saure Produkte erwarten, Rosa hingegen meist süße.

Der nächste Sinn, der auch ein Fernsinn sein kann: der Geruchssinn. Er ist der evolutionär älteste Sinn und zuständig für die Wahrnehmung gasförmiger chemischer Substanzen. Das menschliche Riechsystem ist eng mit Gefühlen, Emotionen und Erinnerungen verknüpft, aber nur sehr schlecht mit unserer Fähigkeit Worte zu bilden. Daher sind Riechwahrnehmungen meist kaum in Worte zu fassen. Was riecht man eigentlich? Man riecht sowohl die Duftstoffe der Luft, die man durch die Nasenlöcher einatmet, als auch Gerüche, die beim Zerkauen eines Lebensmittels im Mund entstehen und über den Rachenraum von hinten über die Nasenhöhle zur Nasenschleimhaut aufsteigen. In den Schleimhäuten unserer Nase enden auch die Fasern des Drillingsnerven (Nervus trigeminus) und auch mit diesem Nerv können wir gasförmige Substanzen wahrnehmen. Mit seinen unspezifischen freien Nervenenden können vor allem irritierend wirkende Reizstoffe wie Rauch, Säuren oder Ammoniak wahrgenommen werden, aber auch normale Duftstoffe in hohen Konzentrationen.

Die in zeitlicher Reihenfolge nächsten Sinnessysteme sind diejenigen, die sich mit den physikalischen Eigenschaften des Lebensmittels befassen. Sobald wir ein Lebensmittel mit den Händen angreifen, erfahren wir etwas über seine physikalisch-mechanischen Eigenschaften, seine Textur. Wie warm oder kalt ist es? Wie ist seine Oberflächenbeschaffenheit? Wie hart, weich, viskos oder elastisch ist es? Wir führen das Lebensmittel mit den Händen zum Mund und beißen ab. Die dabei auftretenden Wahrnehmungen beziehen sich wieder auf die mechanischen Eigenschaften. Erst wenn sich durch die Kaubewegungen und durch den Speichel oder die Flüssigkeit im Lebensmittel selbst die Geschmacksstoffe lösen, erleben wir den Geschmack, denn mit dem Geschmackssinn nehmen wir wasserlösliche, chemische Substanzen wahr.

Wir können mindestens sechs Grundgeschmacksrichtungen erkennen: süß, salzig, sauer, bitter, umami und fett. Diese Grundgeschmacksrichtungen transportieren eine bestimmte Bedeutung. Süß steht für eine leicht verfügbare Energiequelle in Form von Kohlenhydraten. Bitterer Geschmack warnt vor problematischen, eventuell giftigen Inhaltsstoffen. Sauer weist auf ein Lebensmittel mit Säure hin, die in der Lage ist, den Speichelfluss zu fördern und damit die Verdauung anzuregen. Salzig steht für Salz, wichtig für den Ionenhaushalt im Körper. Umami, die fünfte naturwissenschaftlich belegte Grundgeschmacksart, signalisiert eine protein- und aminosäurereiche Speise und fetter Geschmack zeigt ein extrem energiedichtes Lebensmittel an. Wahrnehmungen wie die Schärfe von Chili oder das Prickeln von Sekt werden nicht über Sinneszellen des Geschmackssinns wahrgenommen, sondern über freie Nervenenden eines Gesichtsnervs, des Drillingsnervs, der auf irritierende bis schmerzhafte Substanzen wie Säuren, Capsaicin und Kohlensäure aber auch auf Hitze anspricht.

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Lange Zeit wurden die akustischen Wahrnehmungen beim Essen vernachlässigt, tatsächlich aber können sie bedeutsam sein. Geräusche, die beim Zubereiten oder Verzehren von Lebensmitteln entstehen, werden oft mit texturalen Eigenschaften und damit verknüpften Qualitätsmerkmalen assoziiert. Frisches Obst und Gemüse bestehen aus Zellen mit hohem Innendruck, wie kleine, zusammengeklebte, wassergefüllte Luftballons. Beim Brechen, Beißen oder Kauen dieser Lebensmittel entsteht durch plötzliches Freiwerden dieses Innendrucks ein knackiges Geräusch. Dieses Knack-Geräusch übersetzen wir in die Information: frisch und vor Kurzem geerntet. Bei gebackenen Produkten dagegen bedeuten harte Zellwände „vor Kurzem gebacken“ und daher frisch. Das Brechen erfolgt in vielen Phasen und wird als „knusprig“ bezeichnet. Kekse, Knäckebrot, Chips usw. sind aufgrund ihres niedrigen Wassergehalts fest und steif, wobei feste Wände kleine luftgefüllte Poren umgeben. Beim Zerstören dieser Zellen federn die Wände in ihren Ursprungsort zurück und dabei entstehen Schallwellen, die wir als knusprig beschreiben. Wasser verändert die mechanischen Eigenschaften der Zellwände und wie sie zurückfedern. Das Ergebnis ist kein erfreulich knuspriges Geräusch, sondern ein unerfreulicher Eindruck, wie er bei feuchten Chips oder feucht gewordenen Schnitten entsteht.

Wesentlich für den sensorischen Gesamteindruck eines Lebensmittels sind auch seine im Mund wahrgenommenen mechanischen Eigenschaften und seine Temperatur. Rezeptoren, die auf mechanische Reize ansprechen, befinden sich in der ganzen Mundhöhle. Die Rauheit der Zunge wird hauptsächlich durch Fadenpapillen verursacht, die ausschließlich der Texturprüfung dienen. Mit dem Tastsinn erfühlt man Größe, Gestalt, Oberflächenbeschaffenheit, Konsistenz und Textur von Lebensmitteln.

Auch der Schmerzsinn ist im Mund lokalisiert und trägt zur Gesamtwahrnehmung von Lebensmitteln bei. Es gibt mehrere Schmerzrezeptoren. Manche sprechen nur auf mechanische Reize an, andere auf mechanische, chemische und auch auf Hitze ab 50° C. Der Tiefensinn dagegen führt zu Empfindungen, die durch Rückmeldungen über Bewegungsaktionen (z.B. beim Kauen) entstehen. Rezeptoren des Tiefensinns befinden sich im Gewebe unter der Haut, in Muskeln, Sehnen und Gelenkskapseln. Durch den Tiefensinn wissen wir, in welcher Stellung sich der Unterkiefer relativ zum Oberkiefer befindet, wie schnell sich der Unterkiefer bewegt und welche Kraft aufgewendet werden muss. Auch die Temperaturwahrnehmung bildet einen wesentlichen Aspekt der Lebensmittelbeurteilung. Kaltrezeptoren geben ein Signal, wenn die Temperatur unter Hauttemperatur absinkt und Warmrezeptoren beginnen Signale zu feuern, wenn eine Erwärmung über 30° C eintritt.

Alles in allem erkennen wir damit, dass wir über mehrere chemische und physikalische Sinnessysteme verfügen, um Lebensmittel wahrnehmen und beurteilen zu können. Abbildung 2 fasst die oben beschriebenen Sinnessysteme zusammen. Wir haben chemische Sinne in Nase und Mund und verschiedene physikalische Sinne in Auge, Ohr und Mund. Sie alle ermöglichen uns eine umfassende Wahrnehmung der Eigenschaften von Lebensmitteln.

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Abbildung 2: Wichtige chemische und physikalische Sinnessysteme beim Essen und Trinken

Sind Erdbeeren tatsächlich süß und rot?

Im Alltag nehmen wir intuitiv an, dass die sensorischen Merkmale, die wir an unseren Lebensmitteln wahrnehmen, auch wirklich Merkmale dieser Lebensmittel sind. Erdbeeren schmecken süß und daher sind sie auch süß. Ein Trugschluss: Tatsächlich entsteht das Merkmal süß erst durch Wechselwirkung bestimmter chemischer Stoffe in der Erdbeere mit unserem Sinnessystem und Gehirn. Im Gehirn werden die Nervenimpulse, die die chemischen Substanzen ausgelöst haben, als süß interpretiert, das heißt unser Wahrnehmungssystem weist die Empfindung süß den chemischen Reizen zu, die über unsere Nervenleitungen für die Süße eintreffen. Ohne uns als lebenden, wahrnehmungsfähigen Organismus gibt es die rote Farbe, die Süße und das Aroma der Erdbeere schlichtweg nicht. Alle Farben, Gerüche, Geschmacksarten oder Töne sind subjektive Sinneswahrnehmungen, also im Gehirn entstehende Interpretationen von Reizungen spezifisch empfindlicher Sinneszellen. Ohne biologische Voraussetzungen gibt es kein Rot, keine Süße, kein Erdbeeraroma, nicht das herrliche Aroma des Festtagsbratens und kein beglückendes Aroma von Madeleines und Tee. Unsere sensorischen Wahrnehmungen als tatsächliche Merkmale der äußeren Welt zu bezeichnen, wäre ein ähnlicher Fehler, wie wenn man ein Wort für ein Objekt als das Objekt selbst auffassen würde.

Der allgemeine Ablauf der Entstehung von Sinneswahrnehmungen ist in Abbildung 3 dargestellt. Chemische oder physikalische Reize werden über einen reizleitenden Apparat zu spezifischen Sinneszellen geleitet. Reizleitender Apparat kann beispielsweise der Glaskörper im Auge sein oder der Speichel im Mund. In den Sinneszellen passiert ein ganz wesentlicher Schritt. Die Reize werden in die elektrophysiologische Sprache unseres Nervensystems übersetzt. Eine Temperatur, ein chemischer Reiz, ein Druck wird in ein elektrophysiologisches Aktionspotenzial umgewandelt, das dann über Nervenfasern abgeleitet und in bestimmten Gehirnzentren verarbeitet wird, wo es in einen emotionalen und kognitiven Bedeutungskontext gebracht und schlussendlich auch in eine bewusste, subjektive Wahrnehmung umgewandelt wird. Wenn wir also z. B. Zucker in den Mund nehmen, so löst sich dieser im Speichel und das gelöste Zuckermolekül dockt an einer speziellen Stelle des Süß-Rezeptors an. Bis jetzt haben wir noch nichts wahrgenommen. Sobald der Zucker am Süß-Rezeptor andockt wie ein Schlüssel im Schloss, wird im Inneren der Sinneszelle eine biochemische Reaktionskette ausgelöst, die schlussendlich dazu führt, dass ein elektrophysiologisches Signal in den ableitenden Nervenzellen entsteht, das bis zum Gehirn gelangt. Dort wird das Signal ausgewertet, sodass wir uns des Geschmacks Süß bewusst werden. Die Art des Geschmacks ist jedoch nicht die gesamte Information, die wir erhalten, sondern das Gehirn bewertet den Geschmack auch in seiner Bedeutung. Süßer Geschmack wird in der Regel als hervorragend eingestuft, sodass wir ihm sehr positiv gegenüberstehen und uns über ihn freuen.

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Abbildung 3: Prozess der Entstehung von Sinneswahrnehmungen

Lange Zeit wurde angenommen, dass die Sinne Eingänge, Pforten oder Kanäle für Empfindungen seien. Das ist aber eine irrige Vorstellung, denn in den Sinneszellen der Sinnesorgane werden chemisch-physikalische Reize von außen in elektrophysiologische Ereignisse im Inneren übersetzt, sodass diese Erregungen des Nervensystems dann im Gehirn zu Wahrnehmungen verarbeitet werden können. Ohne Gehirn keine Sinneswahrnehmungen. Das Gehirn ist das wichtigste, größte und komplexeste Organ der Sinneswahrnehmung. Wir schmecken, riechen, fühlen, hören etc. nicht nur mit den Sinnesorganen, sondern wir brauchen dafür eine funktionierende Wahrnehmungskette vom Sinnesorgan bis hin zum Gehirn. Bei den Sinnesorganen beginnt die Aufnahme der Reize in das Gehirn, welches diese Informationen verarbeitet und eine Vorstellung von der Welt außerhalb aber auch innerhalb unseres Körpers ermöglicht. Man kann das Gehirn als biologische Simulationsmaschine bezeichnen, denn es entwirft modellhafte Vorstellungen über unseren Körper und unsere Umwelt. Und diese Vorstellungen werden zu unseren Wahrnehmungen. Der Geschmackssinn ist ein Knoten in einem Netzwerk von gegenseitig sich beeinflussenden Sinnessystemen, das eine virtuelle Rekonstruktion der Umwelt zum Zweck eines zielgerichteten, evolutionär erfolgreichen Handelns im Bereich des Essens ermöglicht, denn bei Geschmackswahrnehmungen geht es um die Bewertung von Eigenschaften wasserlöslicher chemischer Substanzen in potentiellen Lebensmitteln hinsichtlich Verzehrbarkeit. Die bekannten Wissenschaftler Konrad Lorenz, Rupert Riedl und Gerhard Vollmer sprechen von ratiomorphen Leistungen unseres Gehirns, das ohne unser Wissen angeborene oder durch Lernprozesse erworbene Annahmen macht und logische Schlüsse über Verhältnisse außerhalb unseres Körpers zieht, sodass sinnvolles Handeln ermöglicht wird.

Wahrnehmungskette: Erwartungen, Wahrnehmungen, Emotionen, Erinnerungen

Aus psychologischer Perspektive gehören sensorische Wahrnehmungen zu den Instanzen, die wir zur Steuerung unseres Verhaltens zur Verfügung haben. Diese Steuerungsinstanzen werden gern in Form einer Wahrnehmungskette dargestellt (siehe Abbildung 4). Starten wir die Kette mit einer Realität, die Reize an uns aussendet: Wir haben wieder einen roten Apfel vor uns. Dieser Apfel sendet visuelle Reize an die Augen und Geruchsreize zur Nase. Diese Reize werden empfangen, weitergeleitet ins Gehirn, wo eine Wahrnehmung entsteht, aber auch Erwartungen und Emotionen auftauchen. Wir erkennen den Apfel und unser Gehirn generiert mehrere Handlungsimpulse, von denen der passendste Impuls ausgewählt wird, sodass wir eine Handlungsoption auswählen und umsetzen: Wir führen den Apfel zum Mund und beißen hinein. Das ändert die Reize, die auf uns einströmen drastisch. Wir spüren die Härte des Apfels, nehmen wahr, wie viel Kraft wir aufwenden müssen, um abzubeißen. Wir fühlen die Temperatur des Apfels und beginnen zu schmecken. Wieder wird die Wahrnehmungskette durchlaufen: die Reize werden zu Wahrnehmungen, Emotionen, Erwartungen, Erinnerungen umgewandelt und wir wählen eine Handlungsoption aus. Wir kauen an dem Bissen weiter, wenn wir die Wahrnehmungen als angenehm empfinden, oder spucken den Bissen aus, wenn er ekelig erscheint und unseren Erwartungen bezüglich eines guten Apfels widerspricht. Je nach Handlung ändert sich die Reizlandschaft wieder und das Spiel in der Wahrnehmungskette geht weiter. Das heißt, wir sind einem dauernden Wahrnehmungsstrom ausgesetzt, wie auch einem Strom von Erwartungen und Erinnerungen, einem Strom des Bewussten und des Unbewussten. Diese Elemente der Wahrnehmungskette werden von vielerlei persönlich-individuellen Aspekten beeinflusst. Ist man eine eher ängstliche Person mit geringer Risikobereitschaft, wird man den Bissen öfter ausspucken als eine mutige und risikobereite Person. Auch unsere Wertemuster und Vorurteile können die Erwartungen bestimmen und darüber hinaus können unsere Bedürfnisse, Interessen und Ziele als aktive Filter beeinflussen, was überhaupt in unsere bewusste Wahrnehmung kommt.

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Abbildung 4: Wahrnehmungskette

Nehmen wir wahr, was wir erwarten?

image Erwartungen sind wichtige Elemente in der Entstehung von Wahrnehmungen, sie können die Wahrnehmung so stark beeinflussen, dass wir gar nicht das wahrnehmen, was tatsächlich an Reizen vorhanden ist, sondern das, was wir erwarten. Ein berühmtes Beispiel sind rosa gefärbte, süße Naturjoghurts. Ein nicht unbeträchtlicher Teil von Personen identifiziert diese Joghurts erstaunlicherweise als Erdbeer- oder Himbeerjoghurts, denn aufgrund der Farbe und des süßen Geschmacks erwarten sie Erdbeer- oder Himbeerjoghurt und ihr Wahrnehmungssystem gaukelt ihnen tatsächlich den Frucht-Geschmack vor. Machen Sie dazu Experiment 1. Hier passt sich die Wahrnehmung an die Erwartung an, es wird ein Vorurteil bestätigt. Im Englischen wird dieses Phänomen als „expectation assimilation“ oder „confirmation bias“ bezeichnet. Unser Wahrnehmungssystem mag es offenbar, wenn unsere Erwartungen bestätigt werden, Harmonie herrscht, und nicht plötzlich etwas Unerwartetes passiert. Der deutsche Neurophysiologe und Hirnforscher Wolf Singer sagt, „dass das Gehirn nicht einfach nur auf Signale aus den Sinnesorganen wartet. Stattdessen versucht es aktiv, mögliche Sinneseindrücke vorherzusagen, um sie schnell bearbeiten zu können.“ Diese Vorhersagen des Gehirns sind die Erwartungen. Mit ihnen kann unser Gehirn Überraschungen vermeiden und die Verarbeitung der einlangenden Informationen beschleunigen.

Solange die Wahrnehmung der Erwartung nicht deutlich widerspricht und es keine negativen Folgen aus einem Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Erwartung gibt, bleibt es bei der Erwartung und wir nehmen das wahr, was wir erwarten. Anders bei großen und auffälligen Abweichungen, dann entsteht eine sogenannte „kognitive Dissonanz“. Wir bemerken, dass unsere Erwartungen enttäuscht worden sind, und wir etwas tun müssen, um diesen Widerspruch zu klären. Das ist anstrengend und daher versucht unser Gehirn, solche Situationen wenn möglich zu vermeiden.

Unser Gehirn besteht nicht nur aus Wasser, Fett, Proteinen und anderen chemischen Stoffen, sondern maßgeblich aus den Erinnerungen, in unserem Fall Erinnerungen an kürzlich eingenommene Mahlzeiten. Und auch Erinnerungen daran, was wir gefrühstückt oder zu Abend gegessen haben, tragen zu einer mentalen Konstruktion von Zeit bei. Während die Erinnerung vergangene Erlebnisse sensorischer Inputs simuliert, ist die Erwartung eine Simulation dessen, was wahrscheinlich in Zukunft kommen wird. Erwartungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen stehen miteinander in enger Wechselwirkung. Erwartungen basieren auf Erinnerungen und können die Wahrnehmungen beeinflussen. Was wir wahrnehmen, wird wiederum zu einer Erfahrung, die erinnert werden kann, und als Basis für die Entwicklung von Erwartungen dient (siehe Abbildung 5). Schlussendlich orientieren wir uns mit Hilfe dieser drei Simulationen (Erwartung = Zukunft, Wahrnehmung = Gegenwart, Erinnerung = Vergangenheit) in der Welt und versuchen, sinnvolle Entscheidungen zu treffen und uns zielgerichtet zu verhalten. Unsere Lebensmittelwahl wird ebenfalls zu einem großen Teil durch diese drei mentalen Konstruktionen bestimmt.

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Abbildung 5: Wechselwirkungen zwischen Erwartungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen

Was erwarten wir von Lebensmitteln?