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PETER FILZMAIER

ATEMLOS

Meine schönsten Sportgeschichten und was sie mit Politik zu tun haben

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Was hat ein Politikwissenschaftler mit Sportgeschichten zu tun? Ganz einfach: Mein Berufstraum war nie der angebliche Bubenwunsch Feuerwehrmann. Ich wollte nie Grisu, der kleine Drache sein, sondern Sportreporter. Jahrzehnte später erfülle ich mir wenigstens indirekt meinen Traum, indem ich dieses Buch schreibe.

Eine Art aufgelegter Elfmeter, bei dem der Tormann gerade am Klo ist, wäre hingegen folgende Antwort auf die Frage nach meinem Bezug zum Sport: Mein für manche bester „Sager“ in einer Politikanalyse im Fernsehen hatte mehr mit Sport als mit Politik zu tun. Wie das?

Im Mai 2017 war Sebastian Kurz soeben Chef der ÖVP geworden. Das war auch Thema der Diskussionssendung „Im Zentrum“ des ORF. Unter den Gästen waren, neben meiner Wenigkeit, Elisabeth Köstinger und Bernhard Görg, ihres Zeichens Geschäftsführerin der Bundespartei und ein Ex-Vorsitzender der Landespartei aus Wien. Wenig überraschend lobten beide Kurz über den grünen – oder der neuen Parteifarbe entsprechend türkisen – Klee. Das konnte ihnen keiner vorwerfen. Nur trugen sie allzu arg dick auf.

Also meinte ich zunächst, sie müssten gaaanz stark sein, weil selbst Herr Kurz nicht über Wasser gehen könne. Dann verstieg Bernhard Görg sich zu einem gewagten Vergleich, den er lang und breit ausführte. Kurz sei wie der Formel-1-Rennfahrer Ayrton Senna: dynamisch und offensiv und alle Gegner schlagend. Wenn Senna beziehungsweise Kurz im Rückspiegel auftauche und zum Überholen ansetze, würden seine Gegner fast von selbst aufgeben. So sehr fürchteten sie ihn.

Was immer Görg damit ausdrücken wollte, meine Antwort war extratrocken: „Senna ist tot. In Imola 1994 mit 300 Stundenkilometern gegen die Mauer gekracht. Was wollen Sie uns mit Ihrem Vergleich sagen?“ Ich muss es übrigens Görg hoch anrechnen, dass er nach der Sendung mit einem Lächeln eingestand, dass dieser Punkt an mich gegangen war.

Es gibt noch eine dritte Antwort auf die Frage, was ich als Politikwissenschaftler mit Sport zu tun habe. Meine Dissertation habe ich einst über die politischen Aspekte der Olympischen Spiele verfasst. Da gab es genug zu schreiben. Das allerübelste Beispiel: 1936 in Berlin konnte Adolf Hitler die Spiele ungestört zur Nazipropaganda nutzen. Die Boykottdiskussion war tragisch und widerwärtig. Die USA entsandten eine „Kommission“ nach Deutschland. Deren einziges Mitglied Avery Brundage war bekennender Rassist und Antisemit.

Brundage, der kein Wort Deutsch sprach, traf während seines sechstägigen Aufenthalts lediglich im Berliner Hotel Kaiserhof hohe NSDAP-Beamte und von diesen ausgewählte „Sportfunktionäre“. Danach argumentierte er, dass kein Unrecht geschehe, denn sein eigener Verein in Chicago nehme schließlich genauso „keine Juden und Neger“ auf. Avery Brundage war also ein extrem widerlicher Kerl, der dennoch später von 1952 bis 1972 als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees amtieren durfte.

Dass das in Österreich zunächst niemanden störte, hat mir klar gemacht, dass man die Sportberichterstattung nicht allein den Sportreportern überlassen darf. Erst 36 Jahre nach den Spielen in Berlin und 20 Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten des IOC fand man diesen Herrn Brundage bei uns schlecht. Als er den Schifahrer Karl Schranz als Nicht-Amateur von den Winterspielen in Sapporo 1972 ausschloss. Schranz hingegen wurde in Wien bei seiner Rückkehr triumphal empfangen. So weit, so gut.

Schon am Flughafen warteten tausende Fans auf Karl Schranz, darunter die gesamte Führung der ÖVP als größter Oppositionspartei. Die heutige Flughafenautobahn gab es noch nicht. Daher standen auf der Straße bis ins Wiener Stadtzentrum 100.000 Schranz zujubelnde Wiener. Bundeskanzler Bruno Kreisky von der SPÖ gab ihm zu Ehren einen Empfang in der historischen Hofburg. Der sportliche Karli musste mehrmals auf den Balkon, um die Menge zu begrüßen.

Das war Kreisky zu viel. Er blieb im Zimmer, obwohl sich jeder Politiker gerne beim Bad in der Menge mit den Sportstars sonnt. Der Sonnenkönig genannte Kreisky sicher auch. Nur waren ihm das Kanzleramt, die Hofburg und vor allem der Balkon zu nahe am angrenzenden Heldenplatz. Dort hatte es den vor Schranz letzten hysterischen Menschenauflauf im Jahr 1938 gegeben: als Adolf Hitler mit seinen Nazis einmarschierte und ebenda vor die Massen trat.

Doch ich schweife ins Politische ab, obwohl ich aus einem anderen Grund viel mehr mit Sport zu tun habe: Ich bin ganz einfach Sportfan. Das schreibt sich so leicht. Aber wissen Sie, was das in meinem Fall als Politikwissenschaftler bedeutet? Mehr Widerspruch zwischen seriöser Wissenschaft und anständiger Politik einerseits sowie meinen Sportgeschichten andererseits, das geht nicht.

Ich mache meinen Ersteindruck von Menschen nämlich davon abhängig, zu wem er oder sie beim Fußball hält. Ich drücke Schifahrern je nach Nationalität die Daumen oder nicht, egal wie wenig politisch korrekt das ist. Ich schaue mir Formel-1-Rennen an, obwohl die umweltpolitische Intelligenz mir sagt, dass bestenfalls die Formel E vertretbar ist. Ich juble beim Tennis innerlich über Doppelfehler der Gegner meines Favoriten, was besonders fies ist. Ich schaue stundenlang Läufern, Schwimmern und Radfahrern begeistert zu, wissend, dass da womöglich alle gedopt sind.

Ich missgönne Sportstars ihren Erfolg, nur weil mir der Verlierer sympathischer ist. Ich freue mich über Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern, die meiner Mannschaft helfen. Selbst wenn ich dafür die Objektivität in der Garderobe abgebe. Ich dauerfernsehe während der Olympischen Spiele, obwohl das ein Spektakel der Reichen ist, von dem in allen Ländern die Ärmsten der Armen nichts haben.

Ich habe zwar Angst, mich als Nichtexperte mit meinen Sportgeschichten lächerlich zu machen. Aber meine Lust, über Sport zu schreiben, ist einfach größer. Erst jetzt, bei der Niederschrift dieses Buches merke ich, dass fast lauter Männer als Sportler in meinen Geschichten vorkommen, während ich ansonsten jedes Lippenbekenntnis für einen höheren Frauenanteil in allen Gesellschaftsbereichen abgebe. Ich schreibe ein Sportbuch, obwohl ich all diese Dinge gar nicht eingestehen wollte und sollte: Ich bin eben ein Sportfan.

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FUSSBALLGESCHICHTEN

In Bayern war Fußball bis 1927 verboten. Auch wenn Fans von Bayern München das kaum glauben wollen. Deutschland ist nicht das Mutterland des Fußballs, mein Österreich noch weniger.

Im deutschen Spielfilm „Der ganz große Traum“ holt ein junger Lehrer den Fußball im Jahr 1874 nach Deutschland. An einem stockkonservativen Gymnasium für den Englischunterricht angestellt, bringt er den Schülern gegen alle Widerstände das Ballspiel bei. Vom Teamgeist bis zur die sozialen Gegensätze überwindenden Liebesgeschichte wird kein Klischee ausgelassen.

Ein bisschen ist dieser Fußballfilm wie „Club der toten Dichter“ mit dem unvergleichbaren Robin Williams – für Arme. Doch er hat mich fasziniert. Irgendetwas muss dran sein an der Fußballsache. Vielleicht ist es das gemeinsame Erlebnis? Wissenschaftler wie ich sind manchmal Eigenbrötler vor ihrem Computer. Fußball allein, das geht nicht. Als Spieler auf keinen Fall, aber als Zuschauer ebenfalls nur schlecht. Womöglich sind es die Gefühle: Wo sonst dürfen Wissenschaftler und andere Männer Freude und Ärger heute noch schamlos brüllend oder sogar weinend zeigen?

WIE MAN VERLIERT

Beim Fußball bin ich Spanienfan. Immer gewesen. Mir gefällt sogar die spanische Hymne, obwohl sie nicht singbar weil ein Instrumentalstück ist. Doch endgültig mein Herz erobert hat das Land durch eine Niederlage.

Im Sport sind Debakel unvermeidbar. Kein Superstar und keine Siegernation sind davor gefeit. Was würde an Österreichs Stammtischen und medial passieren, wenn wir einmal von Olympischen Winterspielen ohne Medaille nach Hause kommen?

Vermutlich eine Art öffentliche Hinrichtung aller Funktionäre, Trainer und Sportler. Im Fernsehen und in jeder Zeitschrift, im Internet erst recht. Aber so ist es natürlich nicht nur bei uns: Bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville verspottete eine schwedische Zeitung die eigene Mannschaft, und zwar, indem sie eine bis auf wenige Zeilen leere Seite druckte: „Hier sollte über Erfolge der Athleten berichtet werden. Es gibt keine.“

Was aber stand in Spaniens Zeitungen, nachdem der Titelverteidiger und zweifache Europameister bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien in der Vorrunde kläglich gescheitert war? Die Schlagzeile lautete: „Danke für sechs wunderschöne Jahre!“ Es folgte die Aufforderung an alle Spieler, sich bloß nicht für ein Versagen zu entschuldigen.

Nichts hätte meine Stimmung als Fan der „Furia Roja“ besser beschreiben können. Ja, man war in der Vorrunde ausgeschieden. Na und? Für die goldene Generation rund um die Mittelfeldgenies Xavi und Iniesta war es eben das eine Turnier zu viel. Sie hatten ihren Karrierehöhepunkt überschritten. Doch davor war für mich jedes Spiel Lustgewinn pur gewesen.

Der jeweilige Gegner wurde vorgeführt und sah beim Kurzpassspiel Tiki-Taka keinen Ball, sechs herrliche Jahre lang. Als Spanien verlor, fiel mir der irische Schriftsteller Samuel Beckett ein. Er sagte sinngemäß: „Schon mal versucht, und schon mal versagt? Macht nichts. Versuch’s nochmal, versage besser!“ Mein Spanien wird es wieder versuchen. Bis zum nächsten Europa- und Weltmeistertitel.

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Die Leichtigkeit der Furia Roja: Fernando Torres, ESP–BRD 1:0, EURO 2008.

VON DEUTSCHLAND NACH BRASILIEN

Fernando Torres traf im Wiener EM-Finale 2008 zum Sieg gegen Deutschland. Das war besonders lustvoll für mich, weil meine Frau und meine Tochter Deutsche sind. Da machte es mir oft Spaß, aus ein bisschen Anti-Germanismus und viel purem Protest immer justament zur gegnerischen Mannschaft zu halten. Denn der Ball ist rund, das Spiel dauert 90 Minuten und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Das sagte bekanntlich die englische Fußballerikone Gary Lineker. Aber der hat ja keine Ahnung.

Lineker war als Stürmerstar der 80er-Jahre zugegeben WM-Rekordtorschütze seines Landes. Wer zudem drei Jahre beim FC Barcelona in Spanien gespielt hat, der ist für mich sowieso ein Fußballgott. Gerade deshalb hätte Lineker jedoch vorausahnen müssen, was ich 2008 im Wiener Stadion sah: Spanien dominierte das EM-Finale gegen Deutschland, der für mich gefühlt haushohe Favorit mit Bastian Schweinsteiger, Michael Ballack und Miroslav Klose sah fast keinen Ball. Das einzige Tor für die Spanier gab nicht annähernd den Spielverlauf wieder. Ein 3:0 wäre nach Stangenkopfball und Riesenchancen gerechter gewesen.

Heute ist Lineker ein berühmter Fernsehmoderator und weiterhin ahnungslos. Ihm verdanke ich es, dass ich meine Tochter Sonja wenigstens ein bisschen für Fußballgeschichten begeistern konnte. Denn höchst unvorsichtig verkündete Lineker 2016, er würde in Unterhosen moderieren, wenn das wenige Jahre zuvor noch drittklassige Leicester City die Premier League gewinnt.

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Linekers Unterhosen-Wette, 2016

Das Team der namenlosen Underdogs mit dem Österreicher Christian Fuchs wurde wirklich Meister des fußballerischen Mutterlandes. In der Highlight-Show „Match of the Day“ zum ersten Spieltag der neuen Saison hielt Lineker als guter Verlierer Wort. Seine Unterhose ist übrigens weiß, das wissen außer mir und meiner Tochter seither auch ein paar Millionen britischer Fernsehzuschauer.

Wie man lieber nicht verlieren sollte, das ist übrigens recht klar: Im Veranstalterland Brasilien brach nach dem 1:7 im WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland eine Staatskrise aus. Bereits 1978 war der brasilianische Trainer Claudio Coutinho geschockt gewesen, dass sich Menschen nach einem verlorenen Spiel seinetwegen umgebracht haben sollen. Verwandte der Toten benannten beim nächsten Sieg der Mannschaft ihre Kinder nach dem nun erfolgreichen Trainer.

IMMER GEGEN DEUTSCHLAND

Für Österreich liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass wir einmal Fußballweltmeister werden, im nicht messbaren Bereich. Das muss ich als Wissenschaftler so klar sagen. Doch ein Kleinstaat – nach der Bevölkerungszahl Nummer 94 in der Welt – wird nicht durch seine wirtschaftliche Potenz beeindrucken. Zum Glück noch weniger durch militärische Kraft. Da bleibt uns fast nur der Sport.

Schifahren freilich wird in geschätzt fünf bis sieben Ländern weltweit professionell betrieben und ist dem Rest der Welt herzlich egal. Fußball dagegen wird überall gespielt. Also bestimmen Tore unseren Selbstwert im In- und Ausland.

In meiner Jugend passierte die größte Einmaligkeit des österreichischen Fußballs: Wir haben gegen Deutschland gewonnen. 3:2 in Córdoba bei der Weltmeisterschaft in Argentinien. Hans Krankl schoss knapp vor Schluss das entscheidende Tor. Die Österreicher haben den Radiokommentar „I wer narrisch!“ so sehr in ewiger Erinnerung, dass sie fälschlich glauben, er wäre im Fernsehen ausgestrahlt worden.

Ich war damals knapp elf Jahre alt. So ganz konnte ich nicht verstehen, warum eine trotzdem ausgeschiedene Mannschaft umjubelt wurde, als hätte sie das Endspiel erreicht. Wenige Tage vorher hatte ich im Fernsehen das 1:5 gegen Holland gesehen. Das war echt nicht so prickelnd. Die Österreicher spielten wie auf einer Badewiese, war nach der WM treffend zu lesen: technisch verspielt und die Zuschauer unterhaltend. Die Holländer waren intelligenter. Sie hatten kapiert, dass es ums Toreschießen ging.

Da war der Sieg gegen Deutschland für mich nicht mehr als ein kleiner Trost. Nur eine Geschichte hat sich in meiner Erinnerung eingeprägt. Mit meinem Vater und Freunden fuhr ich auf der Westautobahn. Jedes Auto mit deutschem Kennzeichen wurde erbarmungslos angehupt, um mit den Fingern 3:2 – dreiiiii zu zwei – zu zeigen. Unter den Reaktionen war eine herzhaft lachende Frau am Beifahrersitz, während der Mann mit verbissenem Gesicht das Gaspedal durchtrat. Es wurden uns aber auch Fäuste und Stinkefinger gezeigt. Die Deutschen bewahrheiteten also alle Klischees und Vorurteile.

Man kann aber dennoch ein schlechter Verlierer sein und dabei Humor haben. Ein Leserbrief in einer deutschen Zeitung las sich so: „Was Herrn Krankl betrifft, so könnte Franz Beckenbauer mit ihm eine Viertelstunde ein Dribbling in der Telefonzelle veranstalten, ohne dass Krankl den Ball berührt.“ Nur war der Urbayer Beckenbauer leider als amtierender Weltmeister vor 1978 aus der deutschen Nationalmannschaft zurückgetreten und spielte damals bei Cosmos New York.

Österreich gegen Deutschland, das war Klein gegen Groß. Vielleicht war ich deshalb später fast immer für jenes Team, das gegen Deutschland spielte, nicht nur bei meinen Spaniern. Allerdings gab es Grenzen.

DER FALL JUGOSLAWIEN

Ja, bei der WM in Italien 1990 hätte ich mir einen anderen Weltmeister gewünscht. Ich muss etwas Schreckliches gestehen: Als der Holländer Frank Rijkaard den Deutschen Rudi Völler bespuckte, freute ich mich über den Doppelausschluss statt eines simplen Rauswurfes von Rijkaard. Ich wollte, dass Holland gewann. Trotzdem habe ich beim Auftaktspiel der Deutschen zu diesen gehalten und ihr 4:1 gegen Jugoslawien bejubelt.

Denn im Gegnerland kämpfte sich damals zunehmend der serbische Präsident Slobodan Milošević an die Macht, obwohl seine größten Schreckenstaten noch bevorstanden. Ich konnte schlecht zu einer Mannschaft halten, deren Erfolge von einem Völkermörder instrumentalisiert wurden. Nicht einmal, wenn sie einen begeisternden Fußball spielte. Zwei Jahre später wurde ich dafür belohnt, dass ich hier gegen mein Herz tapfer für Deutschland die Daumen drückte.

Jugoslawien hatte sich nämlich für die Europameisterschaft 1992 qualifiziert, mit einem Sieg in der Qualifikationsgruppe vor Dänemark, Nordirland und Österreich. Spät entdeckten die Fußballoberen, dass da nach den Unabhängigkeitskriegen von Slowenien und Kroatien die Elf des serbisch-montenegrinischen Diktators antreten würde. In einer Resolution verabschiedete die UNO harte Sanktionen gegen Restjugoslawien. Danach verstand sogar der Weltfußballverband, dass man sich nicht mit Menschenrechtsverletzungen gemein machen durfte. Jugoslawien wurde ausgeschlossen.

Die Spieler konnten nichts dafür, sondern waren selbst Opfer. Die Mutter von Starspieler Robert Prosinečki war Serbin, sein Vater Kroate. Die Entscheidung, für wen er spielen wollte, wurde ihm brutal zweideutig abgenommen. „Robbi, die Kugel wartet auf dich“, hieß es in einer Zeitung. Ob da der Ball gemeint war? Nationaltrainer Ivica Osim – uns Österreichern aus den Erfolgszeiten von Sturm Graz bekannt – trat zurück, weil er kein Land coachen wollte, das seine Heimatstadt Sarajevo beschoss und zerbombte.

Für Jugoslawien rückte damals Dänemark in die Endrunde nach. Die Spieler wurden kurz vor Turnierbeginn im Urlaub angerufen, dass sie quasi „einrücken“ sollten. Die kurzfristig zusammengewürfelte Truppe kämpfte sich bis ins Endspiel. Das eigentliche Wunder geschah dabei im Halbfinale: Wie das Team der holländischen Superstars mit Ronald Koeman, Frank Rijkaard, Ruud Gullit, Marco van Basten und dem jungen Dennis Bergkamp gegen die Dänen verlieren konnte, versteht man in den Niederlanden bis heute nicht.

Ich verstehe es am allerwenigsten. In der Vorrunde hatten Bergkamp & Co. den amtierenden Weltmeister Deutschland mindestens eine Halbzeit lang richtiggehend vorgeführt. Das fand ich vor dem Fernseher geil. Doch für das Finale Dänemark gegen Deutschland machte ich mir keine Illusionen.

Insofern konnte ich es verschmerzen, dass ich am Spieltag meine beruflich in Kärnten tätige Mutter besuchte und sie mich auf ein Sommerfest ihrer Firma mitnahm. So masochistisch war ich nicht, mir den erwartbaren Sieg der Deutschen unbedingt ansehen zu wollen.

Blöd gelaufen für mich, dass die Spielübertragung sogar im Freien auf einem kleinen Fernsehgerät lief. Plötzlich standen da hundert honorige Manager und grölten sich die Seele aus dem Leib. Für Dänemark. Das Buffet interessierte keinen mehr, ab dem 1:0 der Dänen schon gar nicht. Der Endstand lautete 2:0. Und ich feierte mit der Hundertschaft zuvor Wildfremder an meiner Seite, einst nicht zu Jugoslawien gehalten zu haben.

DER BULGARIENBÄR

Meine Mama hatte ebenso zu den Dänen gehalten. Ganz geheuer war ihr das Bild ihres Sohnes und ihrer Mitarbeiter, die sich brüllend in den Armen lagen, aber wohl nicht. Vermutlich konnte oder wollte sie sich als Chefin einer Bank nicht dieselben Leute beim Verwalten des Geldes oder in einer Kreditverhandlung vorstellen. Ich war jedoch auf den Geschmack gekommen.

Die WM 1994 wurde zur Familienschlacht. Dagmar als beste Ehefrau von allen holte sich zur Verstärkung eine deutsche Landsfrau in unser Wohnzimmer. Ich rief deren Mann zu Hilfe. Uns Männern blieb im Viertelfinale Deutschland gegen Bulgarien nichts anderes als die Liebe zu einem Land übrig, von dem wir so gut wie gar nichts wussten. Zumindest politisch. Denn Christo Stoitschkow kannte jeder. Sie etwa nicht? Hey, der Typ hat in Barcelona gespielt. Was das bedeutet? Dazu kommen wir noch.

Nach dem deutschen Führungstor – ein geschenkter Elfmeter, obwohl Dagmar und ihre verbündete Freundin das nicht einsehen wollten – brauchten wir Bulgarienfans Verstärkung. Also schnappte ich mir einen metergroßen Teddybären und erklärte diesem, dass er erstens ein Maskottchen wäre. Zweitens hätte er dafür zu sorgen, dass die Bulgaren das verfluchte Spiel gewinnen. Der Bär hieß übrigens Mäxchen, sogar das weiß ich noch.

Christo Stoitschkow wandelte zwischen Genie und Wahnsinn. An schlechten Tagen trat er auf alles, was sich bewegte. Gegenspieler und Schiedsrichter inklusive. Der 10. Juli 1994 war ein guter Tag. Stoitschkow streichelte den Ball wie kein Zweiter. Er zirkelte einen Freistoß unhaltbar ins Kreuzeck und eine Flanke auf den Kopf seines Mitspielers zum Einnicken. Bis heute behaupten Fußballexperten, Stoitschkow habe das Match gedreht. Ich weiß es besser: Danke, Mäxchen!

Sie glauben nicht an die magische Kraft eines Teddybären? Mäxchen gibt es immer noch und er schafft es unverändert, sich als Maskottchen zu bewähren. Auch ohne Mithilfe eines Stars wie Stoitschkow. Über Südkoreas Mannschaft weiß ich beispielsweise nicht viel mehr, als dass ein guter Stürmer bei den Tottenham Hotspurs in England spielt. Den Rest kenne ich nicht. Nie gehört. Doch sie haben 2018 Deutschland aus dem WM-Turnier gekegelt. Mäxchen und seine Bärenkollegen waren dabei.

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Stoitschkow gegen Deutschland, 1994.

Und Dagmar bekam ungewollt einen Livebericht auf WhatsApp. Der sah in etwa so aus: „Deutschland ist überlegen. Trotzdem Halbzeitpfiff und kein Tor. Weil Schweden im Parallelspiel gegen Mexiko führt, brauchen die Deutschen das Tor. Tut mir leid.“

„Deutschland stürmt. Noch 30 Minuten. Immer noch kein Tor. Deutschland rennt an. Noch 15 Minuten. Torlos. Nun ist das Tor gefallen.“ Kunstpause. „Ich muss dir leider sagen, dass das Tor für Südkorea ist.“

Und noch eines. Ich habe die – frei nach Schriftsteller Ephraim Kishon – beste Ehefrau von allen glatt angelogen. Das Wörtchen „leider“ war meinerseits eine unverschämte Unwahrheit.

SPANIEN UND ÖSTERREICH

Zurück nach Spanien. Eigentlich sollte ich lieber ruhig sein, weil ich sogar zu Spanien halte, wenn es gegen Österreich geht. Auch beim 9:0 1999 in Valencia. Ja, richtig gelesen: Neun! Der Preis für den schlagfertigsten Fußballer gebührte allerdings einem Österreicher. Toni Pfeffer wurde in der Pause nach dem 5:0 mit der wenig intelligenten Reporterfrage konfrontiert, was er denn über das Spiel denke. Seine berühmte Antwort: „Hoch wer’n mas nimma g’winnen!“

Es gibt nichts, das ein Politikwissenschaftler nicht in seinem Leben brauchen könnte. Bei der Bundespräsidentschaftswahl 17 Jahre später war klar, dass die Kandidaten der einstigen Großparteien SPÖ und ÖVP – Rudolf Hundstorfer und Andreas Khol – eine ähnliche Schlappe erleiden würden. In unseren internen Umfragedaten lagen sie bei jämmerlichen zehn bis elf Prozent der Stimmen. So kam es auch.

Nun machen aber weder der ORF noch ich jemals Wahlprognosen. Ich durfte also nichts sagen. Für komplett ahnungslos wollte ich freilich nicht gehalten werden. Deshalb erinnerte ich mich an Toni Pfeffer. Ich erklärte in der „Zeit im Bild 2“, dass die beiden sicher nicht mehr hoch gewinnen würden. Umfragekenner wussten, was ich meinte und was das bedeutete. Pfeffer hat mich später einmal darauf angesprochen – und war begeistert, als Fußballer in einer Politiksendung zitiert zu werden.

WAS IM FUSSBALL NORMAL IST

Spanien und Katalonien sind manchmal zwei verschiedene Dinge, das muss ich eingestehen. Politisch sowieso. Doch der FC Barcelona ist für seine Anhänger ohnedies mehr Religion als bloß katalanischer Regionalstolz. Außerdem ist das die weltbeste Mannschaft. Lionel Messi hat den Status einer Gottheit: des Gottvaters und der Göttermutter in geschlechtergerechter Personalunion.

Die Spanier kennen den 10. März 2007 als „Tag, an dem Real Madrid wusste, wer Messi ist“. Sie bezeichnen das wirklich so. Ein 19-Jähriger aus Rosario in Argentinien schoss im „El Classico“ das nach einer roten Karte in Unterzahl befindliche Barça mit drei Toren in den Himmel.

Die Gefühlswelt der Nichtfans von Messis Barça gewann die Mannschaft freilich in einem Jahr ohne Meistertitel und ohne Gewinn der Champions League. 2017 hatte man das Auswärtsspiel gegen Paris Saint-Germain 0:4 verloren. Normalerweise war’s das. Doch beim Rückspiel im legendären Camp Nou stand es nach 50 Minuten 3:0 für Messi und Konsorten.

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Lionel Messi, Fußballgott.

Dann erzielte PSG ein Tor. Aufgrund der Auswärtstorregel waren jetzt mindestens sechs Tore für Barça nötig. In der 88. Minute, zwei Minuten vor Spielende, stand es immer noch 3:1. Was passiert in solchen Fällen in anderen Stadien? Ein großer Teil der Zuschauer geht wegen Aussichtslosigkeit vorzeitig nach Hause. Die Stadionbesucher im Camp Nou von Barcelona glaubten aber weiterhin an den Aufstieg. Das Endergebnis lautete tatsächlich 6:1!

Eine Runde später war gegen Juventus Turin sang- und klanglos Schluss. Doch zwei Tweets von Barçaspielern nach dem Triumph gegen PSG waren mehr wert als fast jeder Titel: „Andere nennen es Fußballmannschaft. Wir sagen: Barça!“ und „Andere nennen es Sensation. Wir sagen: normal.“

PAPS, TAUSCHEN WIR?

Sogar meine Tochter Sonja, die ich über alles in der Welt liebe, musste meine Fußballleidenschaft büßen. 2009 hatte sie als Siebenjährige das Pech, bereits Fernsehen zu wollen. Im Londoner Wembley-Stadion fand das Finale der Champions League statt. Barcelona traf auf Manchester United. Naturgemäß hatten die englischen Fans ein Übergewicht im Stadion.

Sonja stellte mir eine naive Frage: „Zu wem hältst du denn?“ Ich, im Brustton der Empörung: „Was ist das denn für eine Frage? Zu Barça natürlich!“ Sie als Dreikäsehoch ebenso energisch: „Dann halte ich zu den anderen!“ Das Spiel begann. Genauer gesagt: Lionel Messi begann zu spielen. Mit dem Ball und dem Gegner. Aus dem Augenwinkel merkte ich, dass Sonja zunehmend unruhig wurde.

Ansatzlos sagte sie: „Paps, können wir tauschen?“ Ich stand auf der Leitung. Meinte sie irgendwelche Süßigkeiten oder Snacks? Oder gar die Getränke, obwohl sie eine Limo und ich ein Bier vor mir stehen hatte? Wenn Barça und Messi spielten, hatte ich für solche Austauschverhandlungen ohnehin wenig übrig. „Was willst du jetzt tauschen?“, lautete meine etwas ungehaltene Gegenfrage. Sonja darauf: „Na, zu wem wir halten. Deine sind so gut!“ Mein Fußballherz ging auf. Getauscht habe ich aber natürlich nicht.

DIE RACHE DER TOCHTER

Niemand darf glauben, dass ich da als Paps am längeren Ast sitze. Generell nicht und nicht einmal beim Fußball. Sonjas Rache kam rasch, im Alter von zehn Jahren, während der WM-Qualifikation. Österreich war mit Deutschland in einer Gruppe. Dass wir Österreicher verlieren würden, das war klar.

Damit hätte ich, in der Familie von Deutschen umgeben, halbwegs gut leben können. Doch Sonja wollte ins Wiener Stadion. Die österreichische Niederlage live miterleben sowie ihren Paps ärgern und aufziehen. Ein Kind mit sadistischen Neigungen. So weit, so gut. Sogar das würde ich aushalten.

Doch ich hatte meine kleine Sturmwolke – mein Spitzname für Sonja – unterschätzt. Ich hätte misstrauisch werden müssen, als Frau und Tochter sich über einen Freund um die Matchkarten bemühen wollten. Was es bedeutet, dass dieser ebenso deutscher Staatsbürger ist, daran habe ich einfach nicht gedacht.

Denn wie kommt ein solcher zu Karten? Genau. Über den Deutschen Fußball-Bund. Dieser erhält ein Kartenkontingent zur Verfügung gestellt. Zu spät fiel bei mir der Groschen. Da saß ich also, mitten im Sektor der deutschdeutschen Fans. Umgeben von deren Fahnen und Schals, Käppchen und Hüten, Gesängen und Jubel.

Das mir! Sonja setzte fies noch einen drauf: Grinsend staffierte sie uns ebenfalls in schwarz-rot-gold aus. Von Kopf bis Fuß. Schon die mit Fähnchen- und Girlanden-Schwingen verbrachte Fahrt ins Stadion war für mich eine Mischung aus Mutprobe und Spießrutenlauf.