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GERHARD ZEILER

LEIDENSCHAFTLICH
ROT

DARUM MEHR SOZIALDEMOKRATIE

Redaktionelle Mitarbeit
von Peter Pelinka

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INHALT

VORWORT

1. WAS NUN, SPÖ?
GEDANKEN ZU EINER NEUEN SPÖ

2. UNSERE WELT IN DER KRISE

3. EINE SOZIALDEMOKRATISCHE BIOGRAFIE

4. MEDIEN ALS PROFESSION

5. GLOBALE VERÄNDERUNGEN UND DER „DRITTE WEG“

6. ERNEUERUNGSMODELLE FÜR DIE VISION SOZIALDEMOKRATIE

7. SOZIALDEMOKRATIE UND MIGRATION: ZEHN THESEN

8. EIN SOZIALDEMOKRATISCHES EUROPA

9. DAS POLITISCHE PROGRAMM EINER NEUEN SPÖ

NACHWORT

von Peter Pelinka

VORWORT

ALS ICH in meinem Familien- und Freundeskreis Ende vergangenen Jahres erstmals erzählte, ein Buch über die Sozialdemokratie im Allgemeinen und die SPÖ im Konkreten schreiben zu wollen, erlebte ich zwei Arten von Reaktionen. Die einen fragten mich, ob ich denn nichts anderes mit meiner – ohnehin kärglichen – Freizeit anzufangen wüsste. Auch wenn diese Bedenken meist höflich verpackt waren, klangen sie sehr stark nach: „Geht’s dir noch gut? Du hast doch einen Job mit durchschnittlich 70 bis 80 Wochenstunden, bist wahrlich nicht oft zu Hause und bürdest dir dann noch die Aufgabe auf, ein Buch über die SPÖ zu schreiben?“ Die anderen Reaktionen, meist von meinen politischen Freunden, umkreisten die Frage, was ich denn mit einem derartigen Buch bezwecken wolle. Und viele derer, die sie stellten, fügten hinzu: „Soll das ein Bewerbungsschreiben werden?“

Um es gleich an dieser Stelle vorwegzunehmen. Die Antwort auf die letzte Frage ist ein klares Nein. Nicht, dass es nicht Zeiten gegeben hätte, in denen ich mir sehr gut vorstellen hätte können – und es auch explizit angestrebt hatte – mitzuhelfen, die SPÖ wieder zu einer erfolgreicheren Partei zu machen. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Der Grund, warum ich mich entschlossen habe, dieses Buch zu schreiben, ist mit zwei Worten zu beschreiben. Es sind die Worte des Buchtitels: Leidenschaftlich Rot. Genau das bin ich. Ein leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Oder poetisch formuliert: In meinen Adern fließt sozialdemokratisches Blut.

Ich bin in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren worden. Meine Großeltern, bei denen ich aufwuchs, waren überzeugte Sozialdemokraten, mein Großvater seit seiner Jugend in der Gewerkschaftsbewegung als Vertrauensmann und Betriebsrat tätig. Einer seiner Brüder war lange Jahre Parteivorsitzender und Nationalratsabgeordneter der SPÖ Ottakring, dessen Schwiegersohn später sein Nachfolger als Abgeordneter zum Nationalrat. Politik war stets präsent in unserer Familie. Keine Diskussion am Mittagstisch, die nicht auf die jeweils gegenwärtige politische Situation Bezug nahm. Die SPÖ war eine Leidenschaft, die den Großteil der Familie einte.

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Gerhard Zeiler (links) bei einer Flugzettelaktion der Sozialistischen Jugend am Wiener Brunnenmarkt im Juni 1978.

© VOTAVA/IMAGNO/PICTUREDESK.COM

Dieses „Feuer der Sozialdemokratie“ erlosch auch nicht, als ich älter wurde. Nicht in unzähligen nächtlichen Diskussionen mit einigen Freunden der einstigen Sektion 32 der SPÖ Ottakring während meiner Studienzeit, nicht in der Sozialistischen Jugend, nicht im parteiübergreifenden Diskurs in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Die Begeisterung, über Ideale, Inhalte und politische Strategien der Sozialdemokratie zu diskutieren und zu streiten, ist bis zum heutigen Tag nicht kleiner geworden. Diese Begeisterung war sicher auch mit ein Grund, warum ich mein bereits sehr weit fortgeschrittenes Psychologiestudium an den Nagel hängte und stattdessen im Parteipressedienst der SPÖ zu arbeiten begann. Dass dieser Entschluss mich dann die Granden der Sozialdemokratie der damaligen Zeit – Bruno Kreisky, Hannes Androsch, Leopold Gratz, Karl Blecha, Heinz Fischer und Fred Sinowatz, um nur einige wenige zu nennen – kennenlernen ließ und dazu führte, dass ich fast sieben Jahre zuerst bei Fred Sinowatz und dann für kurze Zeit bei Franz Vranitzky arbeiten konnte, hat diese Leidenschaft nicht kleiner gemacht. Und sie wurde auch nicht auf meinem Weg durch die internationale Medienwelt beendet – ohne deshalb die Professionalität des Managertums zu beeinflussen.

Leidenschaftlich für eine Sache, für eine Bewegung einzutreten, heißt aber nicht, blind gegenüber ihren Fehlern und Versäumnissen zu sein. Die Sozialdemokratie in Europa hat in den letzten beiden Jahrzehnten einige markante Fehler und Versäumnisse aufzuweisen, die SPÖ bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Ich verhehle nicht, dass ich – wie so wie viele andere SPÖ-Mitglieder auch – der Politik, insbesondere der Bundes-SPÖ, zunehmend kritisch gegenüberstand. Diese Kritik aus meiner Sicht offen darzulegen – wie ich hoffe in einer konstruktiven Form –, ist ein Ziel dieses Buches. Aber das Hauptziel ist nicht, Kritik an der Vergangenheit zu üben. Das Hauptziel des Buches ist darzustellen, wie aus meiner Perspektive die Sozialdemokratie im Allgemeinen und die SPÖ im Konkreten aus ihren Fehlern lernen und ihre historische Funktion künftig besser erfüllen können. Es geht um die Vision, die Strategie und das konkrete Programm – Punkte, die notwendig wären, um die Sozialdemokratie wieder so stark zu machen wie zu den Zeiten Bruno Kreiskys und Franz Vranitzkys, Es geht auch – aber eben nicht nur und schon gar nicht zuallererst – um die Repräsentanten der Partei.

Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, wäre ich nicht während der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien an Franz Vranitzky im Herbst 2017 neben Peter Pelinka, einem langjährigen Freund, zu sitzen gekommen. Er erzählte mir von einem Buchprojekt anlässlich des 80. Geburtstages von Hannes Androsch: Mehrere Gastautoren sollten Zukunftsvisionen ihres Arbeitsgebietes entwerfen. Als er mich fragte, ob ich ein Kapitel über die Zukunft der Medien schreiben könnte, sah er mir meine geringe Begeisterung sofort an und fügte den entscheidenden Satz hinzu: „Du könntest auch über die Zukunft der Sozialdemokratie schreiben.“ Ein Angebot, das ich auf der Stelle annahm. Die Arbeit an diesem Text, den ich während der Weihnachtsfeiertage 2017 schrieb, war der eigentliche Katalysator für dieses nun vorliegende Buch.

Als Peter Pelinka und der Verlag mir dann vor einem Jahr vorschlugen, aufbauend auf den erwähnten Essay zur Zukunft der Sozialdemokratie ein ganzes Buch zu schreiben, konnte und wollte ich nicht absagen. Die Grundlage für den Text waren fast dreißigstündige Gespräche mit Peter Pelinka während der Osterwoche 2019, die er dann zu einem ersten inhaltlichen Bogen zusammenfasste. Ohne diese seine erste Mitarbeit hätte ich mit Sicherheit den Abgabetermin des Verlages nicht halten können. Den Rest ermöglichte eine Kombination aus Disziplin und Leidenschaft. Sie halfen mir, Überseeflüge und viele Abende in den USA weiterführend denkend und schreibend zu verbringen. Ich hoffe, ich konnte das Ergebnis zu einer auch für Sie anregenden Lektüre verdichten.

GERHARD ZEILER

1.
WAS NUN, SPÖ?
GEDANKEN ZU EINER NEUEN SPÖ

Wenn sich die SPÖ nicht programmatisch, kommunikativ und organisatorisch neu ausrichtet, wenn sie nicht versteht, was die echten Sorgen der Menschen sind, und Antworten darauf findet, wird sie zu einer Kleinpartei werden.

DAS ERGEBNIS der Nationalratswahl am 29. September 2019 hat gezeigt, dass die SPÖ weit davon entfernt ist, von den Wählerinnen und Wählern Verantwortung übertragen zu bekommen. Das zumindest öffentlich kommunizierte Ziel, stärkste Partei zu werden, wurde um mehr als 15 Prozent verfehlt. Rechnet man die Nichtwähler dazu, haben sich nicht einmal 20 Prozent aller Wahlberechtigten dafür entschieden, die SPÖ zu wählen.

Dies ist nicht nur das schlechteste Ergebnis bei einer Nationalratswahl seit Ende des Zweiten Weltkrieges – das auch nur graduell dadurch besser wird, dass man den zweiten Platz in der Gunst der Bevölkerung noch gehalten hat –, es zeigt auch die Gefahr auf, dass die SPÖ die Führungsrolle der progressiven Kräfte in Österreich an die Grünen verliert.

Spätestens jetzt müssen bei allen Verantwortlichen der SPÖ die Alarmglocken läuten, um einem Schicksal wie der SPD in Deutschland zu entgehen.

In den vergangenen Jahren ist von vielen Journalistinnen und Journalisten, aber auch von vielen Personen innerhalb der SPÖ oft von einem „Neuanfang“, von einer „letzten Chance“ gesprochen worden. Jetzt ist es tatsächlich so weit: Wenn sich die SPÖ nicht programmatisch, kommunikativ und organisatorisch neu ausrichtet; wenn sie nicht versteht, was die echten Sorgen der Menschen sind, und Antworten darauf findet, wird sie zu einer Kleinpartei werden. Es muss unabhängig von der zukünftigen Regierungskonstellation die politische und inhaltliche Profilierung der Partei sowie deren personelle und strukturelle Erneuerung in Angriff genommen werden. Beides ist unabdingbare Voraussetzung für einen zukünftigen Wahlerfolg. Es gilt, nichts weniger als eine neue SPÖ aufzubauen.

Was bedeutet dies konkret für die nächsten fünf Jahre? Was muss die SPÖ angesichts des Wahlergebnisses konkret tun, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in einem Ausmaß wiederzuerlangen, das ihr die Möglichkeit eröffnet, in Zukunft federführend die Geschicke Österreichs in einem sozialdemokratischen Geist zu lenken? Aus meiner Sicht sind vier Aspekte Voraussetzung für den zukünftigen Erfolg der Partei.

1.EIN KLARES INHALTLICHES PROGRAMM ALS PARTEI DER LINKEN MITTE

Zuallererst ist es notwendig, ein zukunftsorientiertes, an den Bedürfnissen der großen Mehrheit der Bevölkerung orientiertes politisches Programm zu entwerfen und dies auch klar und einfach zu kommunizieren. Dieses Programm hat sich an den konkreten Fragen, Ängsten und Bedürfnissen der Wählerinnen und Wähler zu orientieren. Sie müssen wissen, wofür die SPÖ steht und wofür nicht. Die inhaltliche Ausrichtung einer Partei ist noch immer das wichtigste Kriterium für eine Wahlentscheidung.

Und genau die unklare politische Standortbestimmung sowie die entweder nicht erfolgte oder falsch kommunizierte Positionierung der SPÖ – bestes Beispiel ist das „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“-Wahlplakat aus dem Jahr 2017 – sind aus meiner Sicht hauptverantwortlich für die Wahlniederlagen der SPÖ in den vergangenen zehn Jahren. Wenn man breite Teile der Bevölkerung, inklusive der eigenen Anhängerschaft, im Unklaren lässt, wofür die Partei steht, darf man sich über das Urteil der Wählerinnen und Wähler nicht wundern.

Kapitel 9 beschreibt im Detail die aus meiner Sicht notwendige politische Ausrichtung als Partei der linken Mitte. Weder würde die Rückkehr „zur reinen Lehre“ der Partei eine Zukunftschance geben noch die Übernahme von FPÖ-Positionen. Letzteres wäre auch gegen alle sozialdemokratischen Werte.

2.DER FOKUS AUF JUGEND UND FRAUEN

Ob Bruno Kreisky, Willy Brandt, John F. Kennedy oder Barack Obama – alle haben ihre Wahlen nur deswegen gewonnen, weil es ihnen gelungen war, eine klare Mehrheit der Jungen und der Frauen für ihre Programme zu begeistern. Alle progressiven Bewegungen in den westlichen Demokratien, insbesondere auch die sozialdemokratischen Parteien, haben stets dann Wahlen gewonnen, wenn sie die mehrheitliche Zustimmung der Jugend und der Frauen hatten. Mit anderen Worten: Die Jugend und Frauen sind eher für linke, progressive und zukunftsorientierte Ideen zu gewinnen. Mein Rat an die SPÖ ist es, sich sowohl inhaltlich wie auch personell wieder verstärkt auf die Bedürfnisse und Lebensumstände dieser beiden Wählergruppen auszurichten. Und dies nicht nur aus wahltaktischen Gründen. Ich bin auch davon überzeugt, dass unsere Welt eine bessere wäre, würde sie mehrheitlich von Frauen regiert werden. Und würden wir alle mehr auf unsere Kinder und deren Wünsche, Überzeugungen und Träume hören.

Dass die Nachwahlumfragen aufzeigen, dass die SPÖ bei den Unter-Dreißigjährigen gerade einmal drittstärkste Partei geworden ist und auch bei den Frauen die Nummereins-Position an die ÖVP abgegeben hat, ist ein echtes Warnsignal.

3.KEINE REGIERUNGSBETEILIGUNG AUS EINER SCHWÄCHEPOSITION HERAUS

Mit dem schwächsten Ergebnis bei Nationalratswahlen in der Geschichte der SPÖ ist der Verzicht auf eine Regierungsbeteiligung angebracht. Trotz eines derartigen Wahlergebnisses in die Regierung zu drängen, hieße, aus der Geschichte der SPD nichts zu lernen.

In der SPÖ gibt es drei unterschiedliche Zugänge zu einer möglichen Regierungsbeteiligung. Die erste Gruppe würde nur zu gerne Minderheitspartner in einer ÖVP-SPÖ-Koalitionsregierung werden. Man verhindert damit eine Wiederauflage der ÖVP-FPÖ-Koalition und kann mit Sicherheit die eine oder andere soziale Maßnahme im Koalitionsvertrag durchsetzen und – vor allem aus Sicht der Gewerkschaft das wichtigste Argument – die vollständige Zerstörung der Sozialpartnerschaft verhindern. Auf der anderen Seite steht die Gefahr, dass die SPÖ das Schicksal der SPD ereilt, die wie auch andere sozialdemokratische Parteien heute zu einer Kleinpartei geschrumpft ist.

Die zweite Gruppe – nicht immer öffentlich, aber durchaus unter der Hand – sieht die Möglichkeit einer SPÖ-FPÖ-Koalition nicht jetzt, aber in der Zukunft. Dem burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil wird nachgesagt, diese Linie zu vertreten, die ihn als Bundeskanzler auf den Ballhausplatz bringen soll. Dies hätte – wenn dafür überhaupt eine Parteitagsmehrheit erzielbar wäre – mit ziemlicher Sicherheit eine Parteispaltung zur Folge. Die Gewinner wären in erster Linie die Grünen, denen ein nicht zu unterschätzender Teil der SPÖ-Wählerschaft automatisch zufallen würde. Abgesehen davon, dass ich in absehbarer Zukunft keine Mehrheit für eine derartige Koalition auf Bundesebene sehe, ist eine Koalition mit der FPÖ aus meiner Sicht nicht mit sozialdemokratischen Prinzipien zu vereinbaren.

Die dritte Gruppe wiederum ist der Meinung, dass in den nächsten fünf Jahren der Platz der SPÖ in der Opposition sein sollte. Dafür sprechen gute Gründe, da sowohl die inhaltliche wie auch organisatorische und personelle Neuorientierung gegen eine Regierungsbeteiligung sprechen. Es ist kein Geheimnis, dass die meisten der Bundesländerparteien diesen Weg einschlagen möchten.

Allerdings kann mit dieser Haltung nicht mit Sicherheit eine türkis-blaue Koalition ausgeschlossen werden. Für den Fall, dass sich entgegen aller Erwartungen doch eine Neuauflage von ÖVP und FPÖ abzeichnet, gibt es einen vierten Zugang, den ich präferieren würde. Die SPÖ könnte dem Wahlsieger ÖVP den Vorschlag unterbreiten, eine Minderheitsregierung für eine Periode von zwei Jahren zu tolerieren und sich dazu verpflichten, keinen Misstrauensantrag gegen die Regierung zu unterstützen, wenn diese im Gegenzug die folgenden zwei Vorhaben umsetzt:

1.Erhöhung des monatlichen gesetzlichen Netto-Mindestlohns auf 1.700 Euro innerhalb des ersten Regierungsjahres, was einer der wichtigsten Forderungen der SPÖ im Wahlkampf entspricht.

2.Verabschiedung eines akkordierten und wirksamen Klimapaketes, das eine CO2-Abgabe mit sozialem Ausgleich beinhaltet.

Dieser Zugang hätte den Vorteil, dass die SPÖ nicht an eine Koalitionsräson gebunden wäre. Und es würde den Wählerinnen und Wählern vor Augen führen, dass es der SPÖ nicht um die Besetzung von Regierungspositionen geht, sondern um politische Inhalte. Nimmt die ÖVP dieses Angebot an, dann würden zumindest einige der wesentlichen politischen Vorhaben umgesetzt. Nimmt sie es nicht an und koaliert mit einer der anderen Parteien, dann ist nichts vergeben.

4.PERSONELLER NEUANFANG … MIT PAMELA RENDI-WAGNER

Die personelle „Attraktivität“ einer Partei – sowohl was den/die Spitzenkandidaten/in als auch das Team um diesen/diese betrifft – ist eines der wesentlichen Kriterien für einen Wahlerfolg oder eben einen Misserfolg. Jede Wahl ist heute auch eine Persönlichkeitswahl und ein Teil des Ergebnisses hängt direkt von der Ausstrahlung der Person an der Spitze ab. Man ist entweder Asset oder Belastung.

Einige grundsätzliche Gedanken dazu:

Wenn man die Geschichte der europäischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg Revue passieren lässt, ist unschwer erkennbar, dass man die erfolgreichen sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten in drei Kategorien einteilen kann.

Da gibt es einerseits die Leitfiguren der Sozialdemokratie: Willy Brandt, Olof Palme, François Mitterand, Felipe González und Bruno Kreisky. Allesamt die großen Väter unserer Bewegung, die meisten von ihnen im Krieg oder in der Diktatur aufgewachsen, teilweise zur Emigration gezwungen und davon politisch geprägt. Sie alle verfügten über eine ausgeprägte politische Vision, hatten einen starken Charakter und außerordentliches persönliches Charisma und waren weit über die Grenzen ihrer Länder hinaus bekannt und respektiert. Auch weit über die Grenzen der Sozialdemokratie hinaus.

Die zweite Gruppe ist die Gruppe der Staatsmänner. Macher, denen man vertraut hat, das Richtige zu tun. Meistens waren sie in Phasen der Krise und Unsicherheit an die Regierung gekommen. Helmut Schmidt und Franz Vranitzky sind die Herausragendsten unter ihnen.

Die dritte Gruppe sind die „Einer von uns“-Sozialdemokraten. Männer wie etwa Gerhard Schröder, Michael Häupl oder Helmut Zilk. Mit ihnen konnte man sich identifizieren, sie beherrschten die Sprache der Menschen. Sie waren authentisch und wurden geschätzt, teilweise sogar verehrt, trotz ihrer auch vorhandenen Fehler.

Alle von ihnen hatten eine politische Vision, verfolgten ein konkretes politisches Ziel, wollten inhaltlich etwas bewirken, hatten das Credo, das Richtige und nicht nur das Populäre tun zu wollen. Und wollten eben nicht einfach nur eine politische Position erreichen bzw. behalten.

Um ehrlich zu sein: Nicht bei allen der Parteivorsitzenden seit dem Rückzug von Viktor Klima im Jahr 2000 bin ich mir sicher, ob diese Definition für sie ebenfalls Gültigkeit hat.

Insbesondere das Brechen von zwei zentralen Wahlversprechen durch Alfred Gusenbauer im Jahr 2006 – nämlich die Aufhebung der Studiengebühren und die Kündigung des Vertrages der von der Vorgängerregierung in einem dubiosen Prozess bestellten Abfangjäger –, um im Gegenzug Bundeskanzler zu werden, hat das Vertrauen – vor allem der Jugend – in sozialdemokratische Ehrlichkeit schwer erschüttert.

Dies wurde in negativer Hinsicht noch übertroffen von Christian Kern. Wohl auch deswegen, weil die Erwartungshaltung am Beginn seiner Tätigkeit als Parteivorsitzender und Bundeskanzler in der SPÖ außerordentlich groß war. Er fand die richtigen Worte in seiner ersten Regierungserklärung und erkannte, dass die große Koalition nur Berechtigung hatte, wenn sie auch die großen Probleme des Landes zu lösen versucht. Kern verfügte auch über eine besondere rhetorische Fähigkeit, die nicht nur die eigene Anhängerschaft beeindruckte. Doch er hat es zweimal – einmal zu Beginn seiner Kanzlerschaft im Mai 2016 und das zweite Mal im Jänner 2017 – verabsäumt, die Koalition zu beenden und Neuwahlen auszurufen, obwohl ihm klar sein musste, dass Sebastian Kurz auf dem Weg an die Spitze der ÖVP unaufhaltsam war und auch den kleinsten Erfolg der Regierung verhindern würde. Letztlich trugen auch seine unausgegorene politische Linie, die an einem Tag den Ansichten Jeremy Corbyns folgte und am nächsten Tag Emmanuel Macron nacheiferte; seine unzulängliche Fähigkeit in einem Team zu arbeiten und dieses zu führen sowie seine für jeden erkennbare Eitelkeit außergewöhnlichen Ausmaßes dazu bei, dass Sebastian Kurz 2017 mit ihm als Gegenüber leichtes Spiel hatte.

Trotzdem: Wäre Christian Kern nach der verlorenen Wahl zurückgetreten, wäre er auch heute noch ein respektierter Ex-Parteivorsitzender. Doch seine persönliche Abneigung gegenüber Sebastian Kurz ließ ihn noch in der Wahlnacht eine Brücke zur FPÖ schlagen, was angesichts des Wahlergebnisses nur ein Verzweiflungsakt gewesen sein konnte und was viele Wählerinnen und Wähler aus dem Grün-Lager, die ihm und der SPÖ die Stimme gegeben hatten, um eine ÖVP-FPÖ-Koalition zu verhindern, vollkommen vor den Kopf stieß. Die Umstände seines Rücktrittes als Parteivorsitzender zwei Wochen vor einem Parteitag, nachdem er mehrmals öffentlich bekundet hatte, selbstverständlich wieder kandidieren zu wollen, haben der SPÖ schwer geschadet.

Hätte ich nur annähernd geahnt, aus welchem Persönlichkeitsholz Christian Kern geschnitzt ist, wäre ich im Mai 2016 in einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz gegen ihn angetreten.

Alle bisher genannten Persönlichkeiten sind Männer. Mittlerweile hat sich die Gesellschaft – unter wesentlichem Einfluss der Sozialdemokratie – endlich so weit gewandelt, dass mehr Vielfalt möglich ist, auch in Österreich. Mehr als 100 Jahre nach Amtsantritt von Karl Renner und nach 32 Männern führte mit Brigitte Bierlein erstmals eine Frau unsere Regierung. Und auch die SPÖ wird erstmals von einer Frau geführt.

Pamela Rendi-Wagner ist eine sympathische, ehrliche Sozialdemokratin, der übertriebenes Ego fern ist und die die Partei zu einem Zeitpunkt übernommen hat, der nicht schlechter hätte sein können. Sie hat die Loyalität der Partei verdient, nicht zuletzt, weil ich überzeugt davon bin, dass das Wahlergebnis ohne ihren unermüdlichen Einsatz im Wahlkampf noch schlechter ausgefallen wäre. Ob sie allerdings angesichts des Ergebnisses auf Dauer Parteivorsitzende bleiben wird, wird in erster Linie auf sie selbst ankommen. Sie muss die Partei radikal verändern, will sie eine Chance haben, die SPÖ wieder zu Wahlerfolgen zu führen. So wie Bruno Kreisky sich nach der Niederlage in der Zwentendorf-Abstimmung eine Generalvollmacht von den Parteigremien geben ließ, so wie Sebastian Kurz der ÖVP die Bedingungen für den Parteivorsitz diktierte, so muss Pamela Rendi-Wagner die Wahlniederlage nutzen und einer neuen SPÖ ihren inhaltlichen und personellen Stempel aufdrücken.

Sie muss ein Team und einen Mitarbeiterstab um sich scharen, die einen Neuanfang garantieren. Es ist Zeit für einen Generationenwechsel, und es ist Zeit für mehr Frauen in den Führungsgremien der Partei. Und es ist ebenfalls Zeit für ein professionelles Team in der Parteizentrale, das kommunikations- und marketingtechnisch aufrüstet.

Vor allem muss sie verhindern, dass in der SPÖ die gleiche De-facto-Machtstruktur entsteht, die jahrzehntelang die ÖVP eingeschränkt hat: dass nämlich die Landeshauptleute und Landesparteivorsitzenden das eigentliche Machtzentrum der Partei darstellen. Die SPÖ war immer dann erfolgreich, wenn an ihrer Spitze eine starke Persönlichkeit stand, die die Zügel in der Hand hielt. Ich hoffe, Pamela Rendi-Wagner ist eine solche starke Persönlichkeit, die sich die Zügel des Neuanfanges nicht aus der Hand nehmen lässt.

2.
UNSERE WELT IN DER KRISE

Die Globalisierung vollzieht sich für viele Menschen zu abrupt, sie scheint ihnen ihre früher angeblich sichere Heimat zu gefährden. Die Folgen: Die autoritären Ideen sind auf dem Vormarsch.

ICH HABE in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit erhalten, mir einen Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den meisten Regionen der Welt zu verschaffen – zugegeben von der privilegierten Position eines Managers aus. Ich reise seit vielen Jahren beruflich sehr viel in Europa, Asien, Lateinamerika und den USA. Das ist grauenhaft und wunderbar zugleich.

Wenn ich beruflich in diesen Kontinenten unterwegs bin, bewege ich mich aber keineswegs nur in der „High Society“. Vielmehr besteht der meiste Kontakt bei Veranstaltungen im Gespräch mit unseren Angestellten und den Betriebsräten. Und natürlich auch mit den örtlich ansässigen Medienleuten, mit sozial und künstlerisch engagierten Menschen. Was mir dabei besonders auffällt: Im Vergleich zur Situation von vor acht bis zehn Jahren herrscht heute eine deutlich pessimistischere Grundstimmung. Während wir in der Zeit nach 2008 einerseits die Auswirkungen der veritablen Banken- und Finanzkrise erlebten, gab es andererseits auf der politischen Ebene eine Aufbruchsstimmung, die viel Hoffnung erzeugte. Der neue US-Präsident Barack Obama („Yes, we can!“) stand für diese Hoffnung genauso wie der Arabische Frühling, der im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika Demokratisierung und friedliche Lösungen zu bringen versprach. Auch der Dialog zwischen dem Westen und Russland war noch immer intensiv, wenn auch nicht mehr so optimistisch angehaucht wie zu Beginn des Jahrtausends. In der Zwischenzeit haben sich jedoch die meisten Hoffnungen dieser Zeit zerschlagen: nach Obama ist Trump gekommen, der Arabische Frühling ist zu einem bitterkalten Winter geworden und die Beziehungen zwischen dem Putin-geführten Russland und den USA sowie den westlichen Demokratien Europas sind gefährlich nahe dem Nullpunkt.