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KURT KOTRSCHAL

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MENSCH

WOHER WIR KOMMEN,
WER WIR SIND,
WOHIN WIR GEHEN

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Inhalt

Worum es geht – Eine Einführung

Zwischen ideologischer Projektion und Wissen: Menschenbilder

Der Mensch“ oder: „Viele verschiedene Menschen“?

Ein sinn- und erklärungsbedürftiges Wesen

Gesellschaftlicher Wandel und Innovation

Ein Alien auf Erdbesuch wundert sich

Die unglückliche Liebe des Homo sapiens zur eigenen Intelligenz

Intelligenz, sozial gezähmt

Die Exekutive des Stirnhirns

Keine „Reiz-Reaktionsmaschine“

Kapitelüberblick

Eine 600 Millionen Jahre alte Geschichte

Evolutions-„Theorie“?

Herkunftsgleich – oder parallel entstanden?

Einsicht durch Artvergleich

Die „Vier Tinbergen’schen Ebenen“

Der Weg vom Wirbeltier zum Menschen ist mit Innovationen gepflastert

Aus Kiemenbögen werden Kiefer

Was Hören mit dem Weißen Hai zu tun hat

Zu Wasser, zu Lande – oder in der Luft?

Dicke Haut, landtaugliche Eier

Wie aus Dinos Vögel wurden

Die Komplexität nach dem Kahlschlag

Das menschliche Gehirn: Schlüsselinnovationen und viel Bastelei

Von Menschen und anderen Menschenaffen

Im Genom versteckte Neuerungen

Kein Nutzen ohne Kosten

Unglaublich ähnlich – und doch so verschieden

Was Menschen gemeinsam ist

Instinktive, soziale und komplexe Universalien

Lust auf ein wenig Stammesgeschichte? – Mentale Mechanismen

Die Emotionen der „höheren“ Wirbeltiere

Instinkte, Lernen und Abschauen

Die fünf Dimensionen der Persönlichkeit

Kein menschliches Alleinstellungsmerkmal

Biophilie, oder: Die Geschichte einer gescheiterten Emanzipation

Wo wir uns wohlfühlen – und warum

Vermenschlichen: In Beziehung setzen, aneignen

Unser soziales Gehirn

Xenophobie: Wie Universalien in Verruf kommen

Gruppenidentität oder Wertegemeinschaft?

Menschliche Universalien in speziellen Zusammenhängen

Kreativitätsfaktor Geburtsreihenfolge

Universale Elemente der regelhaften Entwicklung von Staatlichkeit

Orientierung zum Himmel

Kein linearer Weg von Einfach zu Komplex

Was Mensch und Kakadu verbindet

Ancient DNA: Wie unsere Vorfahren die Erde besiedelten

Neandertaler und Homo sapiens: Beziehungsdrama der besonderen Art

Eine neue Kriegerkultur aus der Steppe

Genetische Differenzen durch Kastenwesen

Wie das Auslegerkanu die Artenvielfalt im Pazifik veränderte

Was Menschen antreibt: Die Beziehung zwischen den Geschlechtern

Konstruktion der eigenen ökologischen Nische: Cui bono?

Sex – warum es ihn immer noch gibt

Im Wettlauf mit Parasiten: Die Hypothese der Herz-Königin

Eier versus Spermien – kleine Ursache mit großer Wirkung

Gebrauchsanweisung für den Umgang mit evolutionären Strategien

Die grundlegende Asymmetrie zwischen den Geschlechtern und ihre Folgen

Treue oder Seitensprung?

Das Prinzip Vaterschaftssicherung

Polygynie, Polyandrie – und der Wunsch nach Monogamie

Wenn Eltern ihre Kinder töten

Handlungsanleitungen aus dem „Off“

Die Feminisierung der Welt

Das Gesicht der modernen Gesellschaft

Ein von Natur aus irrationales Geisteswesen

Irrationalität: Real oder Popanz?

Ein „spielerischer“ Erklärungsansatz

Optimal Foraging – Spieltheorie und Verhaltensforschung

Der ökologisch irrationale Waldrapp

Logisch denken – zu viel verlangt von einem zusammengebastelten Gehirn?

Instinkte – immer dabei!

Die Geburt der Empathie

Dafür oder dagegen? – Wovon unsere Entscheidungen beeinflusst werden

Überliefern schlägt die große Planung

Ein Individuum aus Ei plus Samenzelle

Was uns nicht umbringt, macht uns härter?

Ei und Spermium, Genom und Epigenom

Erwerb und Weitergabe von Eigenschaften

Wie man die eigenen Nachkommen manipuliert

Überlebensfrage Frühbetreuung

Zentral für unser aller Leben: Bindung und Zuwendung

Warum man Babys in Stress versetzt

Wie sich Bindungsmuster auf das Leben auswirken

Ganz ohne Natur und Tiere geht es nicht!

Individuen und Gesellschaften: Vielfalt auf einfacher Basis

Wie kann es mit der Natur des Menschen weitergehen?

Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen …

Zukünftige Evolution – mit oder ohne uns?

Die weitere Entwicklung des Körpers

Vom Überlebensorgan zum Hightechinstrument

Ein noch größeres Gehirn?

Neue Bedingungen für die Evolution des Menschen

Anpassung woran und wie?

Utopische Phantasien – oder phantastische Utopien?

Die Aushebelung Darwins: Tuning für die Eliten?

Intelligenz, künstlich erzeugt

Ist Technik die Lösung?

Vorhandene Vorlieben – und ihr Nutzen

Die menschliche „Selbstdomestikation“

Resümee

Anhang

Worum es geht

Menschen teilen aufgrund ihrer stammesgeschichtlichen Verwandtschaft viele Merkmale mit anderen Tieren. Aber die 7,6 Milliarden Menschen auf der Welt unterscheiden sich erheblich voneinander – gibt es daher „die Natur“ des Menschen, oder kommt nicht vielmehr jeder Mensch mit seiner eigenen Natur? Von Natur aus Geisteswesen, sind Menschen dennoch keine rationalen Wesen: weil das Gehirn und alles, was Geist und Verstand ausmacht, in Verbindung mit einem höchst komplexen Sozialleben entstand. Im Grunde steht Menschsein für die soziale Zähmung der Instinkte, aber auch des Verstandes.

Zwischen ideologischer Projektion und Wissen: Menschenbilder

Was man zu Natur und Wesen des Menschen aus gescheitem Mund nicht schon alles gehört hat: Geisteswesen oder doch bloß „ratiomorphe Wesen“, ein Homo oeconomicus, Homo ludens oder Homo philosophicus, ein ebenso nackter wie „neotäner“ Affe, das Ebenbild Gottes, in seiner Zivilisationsumgebung „verhausschweint“, das evolutionäre Zwischenstadium zum „wahren“, also vollkommenen, Menschen, ein „Mängelwesen“, von Natur aus gut, oder eine „Sau“, wie es in einem Austropop-Song hieß … – Aus ideologischen Blickwinkeln wurden zu Zeiten unzulänglichen Wissens Erklärungsversuche mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Besser gesagt: Wie so oft in der Wissenschaftsgeschichte wurde aus der Regel von Gestern der Sonderfall im Heute. Der Mensch ist, was er ist. Aber was ist der Mensch?

Dass sich ausgerechnet ein Biologe berufen fühlt, ein Buch über die menschliche Natur zu schreiben, erklärt sich aus dem Fortschritt der Biologie. Sie trägt heute mehr zum menschlichen Selbstverständnis bei als andere Wissenschaften. Es braucht den Artvergleich, um menschliche Eigenarten aus der Stammes- und Individualgeschichte herzuleiten. Daher kommen in diesem Buch über Menschen relativ viele Tiere vor. – Aber keine Angst, der Mensch wird hier nicht über die Graugans erklärt. Das verbieten schon die wichtigsten menschlichen Alleinstellungsmerkmale Gehirn und symbolsprachliche Fähigkeiten, die wir in dieser Komplexität mit keinem anderen Tier teilen.

Dieses Buch ist Ergebnis meiner Erfahrung aus Wissenschaft, Lehre und Leben über das letzte halbe Jahrhundert. Paradigmenwechsel in diesem Zeitraum betrafen auch und vor allem Vorstellungen über die Natur des Menschen. Mein Anspruch ist es, ein „Update“ zu dieser Natur zu liefern, was eben zwischen zwei Buchdeckel passt. Themenauswahl und -auslassungen sind subjektiv, ich hoffe aber, die Brennpunkte aus evolutionärer Sicht getroffen zu haben. – Und ebenso, dass selbst mein unvermeidliches Scheitern an diesem Anspruch Leserin und Leser dennoch Anregungen und Erkenntnisgewinn bereitet.

Der Vergleich rationalistischer Erklärungsversuche mit den Erkenntnissen der empirischen Naturwissenschaft macht sicher: Reale Menschen genügen keinen ideologisch-philosophischen Konstrukten. Wenn doch, dann reflektieren diese Konstrukte evolutionäre Prinzipien. Kein Wunder, sind doch ihre Schöpfer auch Menschen, die sich durch „menschliche Universalien“ auszeichnen, teils komplexe Eigenschaften in Interaktion mit ihrer Umwelt, die allen Menschen, unabhängig von ihrer Kultur, qualitativ gemeinsam sind. Quantitativ variiert diese Geschichte natürlich stark: zwischen Kulturen, Geschlechtern, Jung und Alt sowie zwischen Individuen. Hunderte dieser Universalien listet die Forschung, und das ist bloß die Spitze des Eisbergs.

Dass die meisten Universalien nicht als menschliches Alleinstellungsmerkmal bestehen, liegt an unserer evolutionären Herkunft. Diese Erkenntnis ist Voraussetzung für eine realistische Sicht auf die Conditio humana. Im biologischen Sinn sind Menschen Geisteswesen von Natur aus. Das hebt uns nicht aus der Stammesgeschichte heraus – oder höchstens ein bisschen, in Zukunft vielleicht mehr als bisher. Wir sind im Sinne des „Darwin’schen Kontinuums“ eine besondere Art von Säugetieren, mit sozialen und kognitiven Alleinstellungsmerkmalen. Irreführend wäre es, zwischen Geisteswesen und Naturwesen einen Gegensatz zu sehen.

Zudem sind Menschen die radikalsten aller sozialen Wesen.

Obwohl wir mit den Säugetieren und Vögeln die Grundemotionen teilen, scheinen Reichtum und Differenzierung der menschlichen Emotionen größer als bei allen anderen Arten. Das hat vor allem mit der menschlichen Symbolsprache zu tun. Diese entstand im sozialen Zusammenhang und befähigt uns, differenziert und begrifflich unter anderem über Emotionen nachzudenken und diese nicht nur mimisch, sondern auch verbal mit anderen zu teilen. – Ähnlich wie ein Sommelier nur durch verbales Assoziieren lernt, zwischen den Nuancen der Weine sicher zu unterscheiden. Auch das große menschliche Gehirn entstand in sozialem Zusammenhang. Wahrscheinlich beschleunigten die beginnende Sprachfähigkeit und die damit zusammenhängende soziale Komplexität vor weniger als einer Million Jahre noch einmal die Zunahme des Gehirnvolumens.

„Der Mensch“ oder: „Viele verschiedene Menschen“?

„Der Mensch“? Die unter männlichem Artikel daherkommende Einzahl stammt aus der Zeit idealistisch-typologischen Denkens und suggeriert eine Wesenshomogenität innerhalb der Art, die es so nicht gibt. So sind 50 Prozent der Menschheit weiblich. Natürlich unterscheiden sich die Geschlechter biologisch, psychologisch und in der Art ihrer sozialen Netzwerke; je nach ideologischem Standpunkt betont die Gender-Debatte entweder die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Zudem kommen Menschen aufgrund ihrer komplexen Individualentwicklung noch wesentlich stärker als Individuen daher, als dies für andere Arten der Fall ist.

Wer sind wir also? Und wenn ja – wie viele?, um angemessen paradox zu beginnen. Ist es vermessen, darauf eine verbindliche, einzige oder zumindest „richtige“ Antwort finden zu wollen? Gibt es nicht vielmehr so viele „richtige“ Antworten, wie es Menschen gibt? Ja und nein. Ein kreativer menschlicher Geist in Verbindung mit individuellen Lebenserfahrungen sorgt zwar letztlich für – im Moment – etwa 7,6 Milliarden Selbst- und Weltbilder; diese sind jedoch nicht so individuell und „frei“ in der Gestaltung, wie uns dies die rationalistischen Philosophen aller Zeiten glauben machen wollen. Denn Menschen sind – wie alle anderen Wesen – in der Evolution des Lebendigen entstanden. Damit wurzeln alle Merkmale jedes heute lebenden Menschen in hunderten Millionen Jahren Stammesgeschichte. Dazu zählen auch die Strukturen und Funktionen des menschlichen Gehirns, welches in enger Abstimmung mit dem Körper den „Geist“ hervorbringt, die Denk- und Reflexionsfähigkeit, das Bewusstsein und die komplexen Persönlichkeitsmuster. Das stammesgeschichtliche Gewordensein zeigt sich in den mit Sinnesorganen und Verstand wahrnehmbaren individuellen Merkmalen. Um aber „die Natur des Menschen“ zumindest in ihren Grundstrukturen zu erfassen, reichen subjektive Wahrnehmung, Intuition und Hausverstand nicht aus; dazu braucht es Wissenschaft.

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Aufgrund der evolutionären Herkunft des Menschen und der Kohärenz der modernen Naturwissenschaften existiert trotz aller Vielfalt der Selbst- und Weltbilder nur eine einzige Conditio humana. Sie ist definiert durch den artspezifischen Rahmen der „Reaktionsnorm“, der uns als Menschen für individuelle Entfaltung zur Verfügung steht. Dieser Rahmen lässt Vielfalt zu, schließt aber Beliebigkeit aus. Im Gegensatz zu einem klassischen Bilderrahmen sind die Normen der Conditio humana aber nicht aus Holz, sondern eher aus Gummi: Alle 7,6 Milliarden Menschen unterscheiden sich in ihren Genen – außer man lebt als eineiiger Zwilling – und ihren Lebenserfahrungen. Gestaltet werden die individuellen Rahmen aus den Erfahrungen der Generationen unserer Vorfahren, den Lebensbedingungen der Eltern sowie der nach der Geburt erfahrenen Fürsorge. Indem etwa Epigenom und mütterliche Effekte das Ein- und Abschaltens von Genen steuern – und damit die Ausbildung von Merkmalen.

Ein sinn- und erklärungsbedürftiges Wesen

Seit es Menschen gibt, stellen sie sich die Frage nach der eigenen Identität und den Unterschieden zu „den Anderen“. Menschen wollen sich immer schon mit den Wesen und Erscheinungen dieser Welt in Beziehung zu setzen. Sogar mit jenen „höheren Wesen“, die sie zwar nicht direkt wahrnehmen, von denen sie aber wunderlicherweise vermuten, dass sie die Geschicke der Welt lenken. Dieser Hang zur Transzendenz reiht sich neben den vielen anderen menschlichen Universalien ein – Merkmale, die bei allen Ethnien vorhanden sind und daher nicht nur als kulturelles, sondern als als evolutionäres Erbe gelten können. Dazu zählt auch ein spirituelles Gehirn, dessen begrenzte Rationalität dem Überleben dient, sowie das Bedürfnis zu erklären, wer man ist, woher man kommt und was nach dem Tode geschieht. Menschen sind identitäts- und erklärungsbedürftig, individuell und als soziale Gruppen.

In der frühen Menschheitsgeschichte überstieg die menschliche Denkfähigkeit zunächst das gesicherte Wissen bei Weitem. Und wer wenig weiß, muss viel glauben, um erklären zu können. Die Begierde nach Wissen und Zusammenhängen zeigt sich in der frühen Astronomie und Astrologie nach dem Sesshaftwerden in allen Kulturen. Bis in die Neuzeit blieben diese beiden Disziplinen eine Einheit, auch weil ihr Wissen zur Rechtfertigung und Absicherung von Herrschaft diente. Menschen werden vor allem durch ein ebenso wissbegieriges wie spirituelles Gehirn bestimmt. Das bietet allerdings allzu oft vorschnelle Erklärungen an, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Als „ratiomorpher Apparat“ des Wiener Biologen und Philosophen Rupert Riedl hängt das menschliche Gehirn gerne Überlieferungen und Glaubensinhalten an, besonders dann, wenn es die anderen auch glauben. Immer noch – oder mehr denn je – sind die Welt- und Selbstbilder von Glauben und Mythen geprägt. Wie sehr diese in Konkurrenz zu einem naturwissenschaftlichen Welt- und Selbstbild stehen, zeigt sich an der zunehmenden Opposition gegen die Evolutionstheorie, vor allem in Ländern, wo fundamentalistische Religiosität auf autoritäre Staatlichkeit trifft.

Aber Gott ist keine testbare Hypothese. Daher wissen vernünftige Naturwissenschaftler, dass es ihnen nicht gut ansteht, Urteile über religiöse Inhalte zu fällen.

Gesellschaftlicher Wandel und Innovation

Die Art, wie sich menschliche Natur manifestiert, hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, deren Ausprägung aber wiederum nur im Rahmen der menschlichen Natur stattfinden kann. Beispielsweise „passierte“ den Menschen mit der Sesshaftigkeit vor etwa 10 000 Jahren die Neolithische Revolution: Mit Ackerbau und Viehzucht entwickelten sich Herrschaftssysteme und hierarchische Gesellschaften. Mauern wurden gebaut, um Arbeitskraft drinnen- und Feinde draußenzuhalten. Heere wurden organisiert und Schrift entwickelt, um Herrschaft zu administrieren. Es wurde arbeitsteilig produziert, viel später digitalisiert. Mit Landwirtschaft und Viehzucht kam auch die Knochenarbeit in die Welt. Mit der Effizienz der Nahrungsversorgung stieg die Zahl an Menschen – denen es damit individuell allerdings nicht besser gehen musste als zuvor.

Technologische Schlüsselinnovationen ziehen immer starke gesellschaftliche Veränderungen nach sich. Dabei verändern die Menschen ihre grundlegende Natur kaum; sie erlaubt ihnen jedoch die Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse in Form einer Vielfalt an sozialen Rollen: als Herrscher, Zuarbeiter, Untergebene. Positive Denker erwarten von jeder Innovation, dass sie zum Wohle der Menschheit wirke, was nicht immer der Fall ist. Denn technologische Neuerungen haben aber immer auch das Potenzial, die Ungleichheit zu verstärken; die sporadisch in Raum und Zeit auftauchenden Demokratien wirken zwar generell der Ungleichheit entgegen, bleiben aber labil und fragil. Kein Zufall übrigens, dass sich die Innovationsfrequenz mit dem Sesshaftwerden und der damit verbundenen Hierarchisierung der Gesellschaften beschleunigte. Jäger und Sammler waren sozial wesentlich egalitärer organisiert als die meisten Sesshaften. Wer sich geistig oder materiell über die anderen erhob, wurde zurechtgestutzt. Bis heute sind Reste dieser Mentalität in dörflichen Gemeinschaften zu spüren – oder auch in Schulen, wo Kinder durch Leistungsfähigkeit und -willen eher zu Mobbingopfern denn zu Vorbildern werden.

Ein Alien auf Erdbesuch wundert sich

Ein auf die Erde abgesetzter Alien mit dem Auftrag, die Menschen zu erforschen, hätte sich wohl zunächst gewundert, warum sich diese Wesen vor 35 000 Jahren ausgerechnet auf die Mammutjagd spezialisierten. Gab es doch genügend Tiere, die weniger gefährlich und mit weniger Aufwand zu jagen waren. Irrational im Grunde, aber sozioökonomisch begründbar. Ich will nicht behaupten, dass den Menschen die Jagd auf große Tiere per se in den Genen liegt; die treibenden Motive aber sehr wohl, das Streben nach Ansehen, Einfluss und letztlich Fortpflanzungserfolg.Wir kennen viele moderne Versionen der Mammutjagd: Menschen fliegen in den Weltraum, jetzt wollen sie sogar zum Mars. Sie gewinnen Selbstwert und die Erfahrung ihrer Wirksamkeit, indem sie etwa unter Lebensgefahr auf Skiern einen Berg hinunterzurasen, um Sekundenbruchteile schneller als andere im Ziel zu sein. Warum ist es wichtig, Wolkenkratzer in Kilometerhöhe zu bauen? Und wieso kauft ein österreichischer Immobilientycoon das Chrysler Building in Manhattan? – Weil Menschen von Natur aus ambitionierte Tiere sind. Nicht immer und nicht alle, aber viele, mit Hang zu Einfluss und Macht. Die Bereitschaft der Menschen zur Kooperation ist unbestritten, aber sie sind – nach bestimmten Regeln und in bestimmten Situationen – auch auf Konkurrenz ausgerichtet. Damit wäre ein Muster entworfen, aber nicht erklärt, es bedarf eines genaueren Blicks, einer Analyse des evolutionären und individuellen Gewordenseins. Dieses Buch könnte aus der Perspektive eines naturwissenschaftlich denkenden Aliens geschrieben worden sein, dem bewusst ist, dass die naturwissenschaftliche Methode zwar als Einzige zumindest vorläufig gesichertes Wissen schafft, dass es aber vermessen wäre, die Welt samt Mensch mit dem Wissensstand irgendeiner Zeit und Kultur jemals vollständig erklären zu wollen. Unser Alien würde amüsiert beobachten, dass es immer wieder Zeiten gab, in denen man meinte, man sei knapp davor, alles restlos erklären zu können, die Weltformel zu finden – um sich dann doch wieder nur in verstiegenen geistigen Konstrukten zu verlieren, wie etwa der Stringtheorie oder dem Konzept der multiplen Universen. Dieser Alien wird verblüfft feststellen, dass ihm immer dann bewusst wurde, nichts verstanden zu haben, sobald er meinte, die Welt und ihre Menschen durchschaut zu haben.

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Ein Alien, der auszieht, um den Stand des Wissens der Menschen über sich selbst zu erkunden, wird den biologischen Anthropologen, Humanethologen und wie sie sich alle nennen mögen, weitgehend zustimmen, dass sie in den letzten Jahrzehnten recht weit damit gekommen sind. Dennoch – oder gerade deswegen – wird das die Menschen nicht retten, sind sie doch gerade mit den vielfältigsten Methoden dabei, die Biosphäre und damit sich selbst zu zerstören. Rasch ginge dies mittels Atomwaffen, langsam, aber nicht weniger gründlich funktioniert die ökologische Misswirtschaft. Auch das hat mit der erblichen Physis der Psyche der Menschen zu tun. Wissen schützt vor Dummheit nicht, sonst würde ja niemand mehr rauchen.

Selbst die gescheitesten Leute neigen dazu, Daten nach ihrer Weltanschauung zu interpretieren und nicht umgekehrt. Menschen wollen zwar rational erscheinen, denken und handeln aber profund emotional und irrational. Jahrhundertelang wollte man das nicht wahrhaben: Generationen von gescheiten, grauhaarigen Männern „emanzipierten“ angestrengt „den Menschen“ von Tier und Natur. In ihrer Vergeistigung verwechselten sie die eigene Asperger-Welt mit der Wirklichkeit der anderen – und scheiterten in groteskem Ausmaß. Gerade die Philosophie zeigt aber auch eindrucksvoll, was der Geist selbst im Irren leisten kann.

Erstaunt bemerkt unser Alien, dass gerade Vergeistigung und Empowerment des logischen Denkens zu Trugbildern führten, nicht unbedingt zu einer rationalen Selbstdiagnose der Conditio humana. Jede Menge Sollen wird er vorfinden, aber wenig Sein. Heute scheinen Jahrtausende formaler Philosophie im Ausklingen, was nicht für die Philosophie selbst gilt, denn sie ist den Menschen als universales Bedürfnis grundgelegt. Schade eigentlich, findet der Alien, aber die empirische Forschung siegte auf ganzer Linie im Wettstreit um Erkenntnis und die Wertigkeit in den Köpfen der Menschen gegen rationalistische Spekulation. Im pragmatischen Zeitalter schlägt die Empirie den Rationalismus, das Sein das Sollen um Längen. Das labile Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen verfolgt Menschen, seit es sie gibt. Der vorläufige Siegeszug des Seins erfolgte aber nicht in offener Feldschlacht, sondern in stiller, emsiger Arbeit, auch unter dem Dach der evolutionären Theorie.

Die unglückliche Liebe des Homo sapiens zur eigenen Intelligenz

Die heutige Sicht auf die Conditio humana charakterisiert Menschen als soziale Geisteswesen von Natur aus. – Beschäftigen uns Tod und Sterblichkeit deshalb so stark? Der lebenslange Aufbau individueller Kultur und Gedächtnisinhalte mag zur Erklärung ebenso beitragen wie die Weisheit des Alters. Manche reden sich den Tod als Übergang in eine andere Existenz schön – oder zumindest erträglich. So wurden Menschen mit der Entwicklung ihrer Sprach- und Reflexionsfähigkeit auch zu spirituellen Wesen. Ich selbst tue mir mit dieser Art von Spiritualität schwer; denn Tod und Sterblichkeit sind die wohl obszönsten Scherze, die die Evolution (oder meinetwegen ein Schöpfer) mit uns getrieben hat. Daher forschen heute Wissenschaftler mit viel Aufwand und sogar reellen Erfolgsaussichten an der Vermeidung des optionalen Todes.

Aus der menschlichen Verliebtheit in die eigene Intelligenz resultiert aber auch die Überschätzung des „Geistes“.

Dies geht mit einer Abwertung jenes sozialen Beiwerks einher, in dessen Zusammenhang Intelligenz und Sprache entstanden sind. Für den Menschen ist seine spezifisch reflektierende, hinterfragende Intelligenz zwar arttypisch, ihre Überbetonung desynchronisiert jedoch mit einem Leben in der realen Welt, kostet soziale Resonanz. Jenseits der Studierstuben werden die Potenziale der menschlichen Intelligenz erst im typisch menschlichen Rahmen aus Empathie, Emotionen und sozialen Kompetenzen optimiert.

Schwierig, „reine Intelligenz“ auf jene Bedeutung zurückzuführen, die ihr im Leben zusteht, waren doch die letzten 3 000 Jahre durch die Entwicklung von Philosophie und (Buch-)Religionen von „Vergeistigung“ geprägt. Diese Selbstüberhöhung, ja „Transzendierung“ des Menschen vom Natur- zum Geisteswesen fand ihren Höhepunkt in der Aufklärung, als manche Philosophen einen vom Körper unabhängigen Geist ausriefen. Es gab auch andere, etwa Michel de Montaigne, der ein sehr physisch-sinnliches Konzept vom Fühlen und Denken vertrat.

Basis für die neue ökologische Achtsamkeit ist aber im Gegensatz zu den Rousseau’schen Zeiten weniger die Romantik als vielmehr ein vermehrtes Wissen über den Menschen als Teil der Natur, das sich langsam in Bewusstsein ummünzt. Vielleicht kommt so ein neues, gesünderes Verhältnis zwischen der reinen Intelligenz und den uns eigenen sozialen und emotionalen Bedürfnissen zustande. Der Philosoph Peter Strasser meint, die menschliche Intelligenz sei eine über den IQ hinausgehende Kulturleistung. Kein Widerspruch, aber diese Kulturleistung wird von bio-psychologischen Bedingungen gerahmt. Einmal mehr erweist sich die Differenzierung zwischen Kultur und Natur als irrelevante beziehungsweise erkenntnishemmende Polarisierung. Schon Arnold Gehlen – er gab aus heutiger Sicht viel Problematisches von sich – meinte, der Mensch sei „von Natur aus ein Kulturwesen“. Damit traf er ins Schwarze, obwohl er, verglichen mit heute, fast nichts über die Interaktion von Verhalten und Gehirn wusste.

Intelligenz, sozial gezähmt

Sorry, dass ich das jetzt behaupten muss:

Von kleinen Nischen abgesehen, sind intellektuelle Spitzenleistungen für ein gelingendes Leben nicht besonders wichtig.

Die Wissenschaft bestätigt, was vernünftige Menschen schon lange wussten: Für ein langes und gesundes Leben braucht es ausgeglichene Emotionalität und „Hausverstand“. Der wird zwar von Politik und Kommerz missbraucht und ist schwer zu definieren, bleibt aber dennoch unentbehrlich. Spitzenintelligenz und die von der Konsumgesellschaft genährte Zwangsneurose der Jagd nach dem permanenten Glück spielen letztlich keine Rolle im Streben nach Zufriedenheit und langem Leben. Im Gegenteil: Intelligenz, die den sozialen Beipackzettel ignoriert, behindert. Jenseits der Sozialromantik finden Menschen als Kooperations- und Sozialtiere Sinn vorwiegend in ihren sozialen Netzen und im Erleben der eigenen Wirksamkeit. Davon profitieren heute auch und vor allem die Sozialen Medien.

Zur nebenwirkungsarmen Verträglichkeit von Intelligenz empfiehlt der evolutionäre Beipackzettel soziale Integration. Tatsächlich vermag der Intelligenzquotient den individuellen Erfolg in Schule, Beruf und Gesellschaft kaum vorherzusagen. So machen verhältnismäßig wenige Leute mit überdurchschnittlichem IQ Karriere, verglichen mit den eher mittelmäßig Begabten. Kann es sein, dass erd- und hausverstandsverbundenes Mittelmaß sozial einfacher zu integrieren ist als die Luxusausführungen von Sonderbegabung, die nicht selten mit Asperger’schen Eigenschaften einhergehen? Strahlende Intelligenz fasziniert in den Refugien des Geistes. Sie macht Mitmenschen aber oft Angst – und ihrem Träger Schwierigkeiten. Zwar bleibt sozial integrierte Intelligenz die Faustregel für Erfolg, aber keine Garantie.

Die Exekutive des Stirnhirns

Heute lichten sich die Nebel um die Beschaffenheit der sozialen Einbettung von Intelligenz. Die Forschung zum psychologischen Konstrukt der „Exekutiven Funktionen“ und dessen neuronalem Substrat, dem Stirnhirn, bietet eine Fülle von Einsichten um das „typisch Menschliche“.

Exekutive Funktionen machen sozial- und kooperationsfähig.

Gemeint sind damit jene geistigen Funktionen, mit denen Menschen und andere Tiere das eigene Verhalten steuern und optimieren. Mithilfe unseres Stirnhirns entwickeln wir Konzepte und bilden mentale Repräsentationen einschließlich affektiver Bewertungen. Das Stirnhirn koordiniert letztlich alle unsere Entscheidungen. Wir beurteilen damit auch, was wir anderen zumuten können und was nicht, es verwaltet also auch Gewissen und Moral.

Wenn damit die Evolution Menschen und anderen Säugetieren ein biologisches Substrat für Exekutive Funktionen und Moral mit auf den Weg gab – sind diese dann „angeboren“? Natürlich nicht! Der Zellpudding im Stirnhirn kommt vielmehr mit spezifischen Lernbereitschaften und Aufmerksamkeiten versehen zur Welt und verlangt konkrete Bedingungen für seine optimale funktionelle Entwicklung. Kein Wunder, entstand doch das menschliche Gehirn und seine Funktionalität sowohl in Anpassung an ein komplexes Sozialleben, als auch als dessen Substrat. Gut entwickelte Exekutive Funktionen fallen daher nicht vom Himmel. Dazu benötigen Kinder eine zuverlässige und sensitive Frühbetreuung. So entstehen „sichere Bindungsmuster“, mit denen soziales Grundvertrauen und eine forschende Neugierde grundgelegt werden. Günstig wirken sich zudem körperliche Bewegung im sozialen Kontext aus, wie auch ein Aufwachsen mit Tieren und Natur.

Die Qualität der Exekutiven Funktionen hängt also vom angemessenen sozialen Empowerment des Stirnhirns in Kindheit und Jugend ab.

Nur so können wir das von Peter Strasser so trefflich formulierte Ziel erreichen: „Wir müssen darauf bedacht sein, dass die Eliten der Zukunft Intelligenz mit Klugheit und Mitgefühl vereinen. Dazu bedarf es eines Wahlvolks, das sich nicht für dumm verkaufen lässt.“

Keine „Reiz-Reaktionsmaschine“

Menschen kommen zwar nicht als beliebig formbare Wesen zur Welt, sind aber viel mehr als genetisch determinierte Reiz-Reaktionsmaschinen. Das sind aber die anderen Tiere auch nicht. Sie kommen mit Anlagen, Bedürfnissen und Eigenschaften zur Welt, die vom Baby bis ins Greisenalter wirken. Wie alle anderen Kategorien und Individuen von Lebewesen sind Menschen letztlich als Art und als Individuen das Resultat ihrer Gene, die im Laufe der Evolution entstanden sind. Deren Aktivität wird aber wiederum von anderen Genen gesteuert, von Hormonen, und in mannigfacher Weise von der Umwelt.

Immer noch wird die Frage gestellt, ob unsere Merkmale „angeboren“ oder „erworben“ seien. Diese uralte Nature-Nurture-Debatte verlor im Lichte der neueren Erkenntnisse der Genetik und Epigenetik ihre Berechtigung. Vielmehr entsteht jedes unserer Merkmale im Wechselspiel von Genen und Umwelt. Von der Haarfarbe, Körpergröße über das Auftreten von genetisch grundgelegten Krankheiten bis zur Neigung, ein Glas eher als halb leer oder halb voll zu sehen: Nichts ist angeboren im Sinne von vollständig genetisch bestimmt, aber alles ist in unterschiedlichem Ausmaß erblich, also genetisch und epigenetisch fundamentiert.

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Das gilt auch für die Natur des Menschen. Diese ist als die Gesamtheit der möglichen phänotypischen Ausprägungen der „Reaktionsnorm“ unserer Art zu verstehen; also all dessen, was im Rahmen der Gene und Allele verwirklicht werden kann. Diese Norm schließt den Wall-Street-Banker genauso mit ein wie dessen ländlichbäuerlichen Onkel. Menschen können sich zwar spirituell in Jaguare oder Wölfe verwandeln, tun dies aber auf typisch menschliche Art unter Wahrung ihrer physischen und mentalen Grenzen. Fraglich, ob diese evolutionär gesetzten Grenzen jemals durch technologisches „Enhancement“ erweiterbar werden.

Kapitelüberblick

Zunächst geht es um die Frage, woher die modernen Menschen kommen.

Wie können derart komplexe Wesen durch Mutation und Selektion zustande gekommen sein? Sind wir ein Zufallsprodukt? – Das sind wir schon deshalb, weil ohne den Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren die Saurier den Säugetieren kaum den Vortritt gelassen hätten. Aber sind wir auch im Sinne des evolutionären Mechanismus ein Zufallsprodukt? Oder musste die stammesgeschichtliche Entwicklung in Richtung „Krone der Schöpfung“ führen? Sind Schöpfung und Evolution unvereinbare Gegensätze? Und war es das dann mit der Evolution? Ist der Mensch, den wir morgens im Spiegel sehen, das Endergebnis oder bloß ein Zwischenschritt im evolutionären Wandel?

Gleich vorweg: Glaube und Religion sind sauber von der Wissenschaft zu trennen, sonst würden wir jenen Pallawatsch wiederholen, den die „Vitalisten“ bis in die 1930er Jahre produzierten. Diese verstanden den Instinkt, also Verhalten plus zugehörigen Antrieb, als eine Art „Ausdruck göttlichen Hauchs“, einer Erklärung weder zugänglich noch bedürftig. Der junge Konrad Lorenz und andere hielten dagegen, dass alles Verhalten auf „physikochemische Vorgänge im Gehirn“ zurückzuführen sein müsste. – Es wäre allerdings ein (unter Fachkollegen nicht seltener) Kategorienirrtum zu meinen, dass es außerhalb des naturwissenschaftlich Zugänglichen nichts geben könne. Kann sein, muss aber nicht. Andererseits ist mangelnde naturwissenschaftliche Belegbarkeit keinerlei Beweis, dass da etwas existieren muss, wie von Esoterikern gerne behauptet wird.

Das zweite Kapitel behandelt den stammesgeschichtlichen Weg zum Menschen, von den ersten filtrierenden Chordatieren zu den Primaten.

– Wie entstand in den letzten 100 000 Jahren jene „Menschheit“, die heute die Erde bevölkert? Und wieso leben in den unterschiedlichsten Weltgegenden Menschen, die sich in Hautfarbe, Physiognomie und Körperbau unterscheiden? Früher ging man von „Rassen“ aus, und auch heute wieder grassiert der Rassismus. Dieses Konzept ist aber aus guten fachlichen und ethischen Gründen mega-out. Die hochauflösende genetische Analyse von DNA aus uralten Knochen in Zusammenschau mit archäologischen Befunden liefert heute Antworten in bislang unvorstellbarem Detail zur Entstehung der heutigen Menschen und ihrem Verhalten bis tief in die Vorgeschichte.

Vom „typisch Menschlichen“ handelt das dritte Kapitel: Was haben Menschen aller Kulturen gemeinsam?

„Menschliche Universalien“ können zwar soziologisch als Systembedingungen interpretiert werden, die in allen Gesellschaften zu parallelen Strukturen des Verhaltens und der sozialen Organisation führen. Allerdings ist es hochplausibel und heute teils auch nachweisbar, dass sie genetisch fundiert sind. Letztlich wird das sozio-sexuelle Leben der Menschen stark von diesen Universalien geprägt, ebenso wie von den zugehörigen psychophysiologischen Mechanismen und Gehirnfunktionen.

Kapitel vier zur typisch menschlichen Irrationalität stellt evoluierte sexuelle Strategien als Treiber für das Sozialleben vor.

Damit sind wir beim Kern des Menschseins angelangt. Warum sind Menschen höchst kooperative Wesen, und von welchen Umständen hängt es ab, ob und mit wem sie kooperieren? Warum ist das Risiko von Kindern unverhältnismäßig hoch, in der Obhut nicht genetischer Eltern zu Schaden oder ums Leben zu kommen? Was ist die biologische Basis der ewigen Konflikte zwischen den Geschlechtern? Und warum lieben Menschen manche ihrer Artgenossen, während sie andere zuweilen sogar töten? - Warum töten sie gar am häufigsten Menschen, die ihnen nahestehen?

Wie rational ist der menschlichen Zwang zur Welterklärung und Sinnfindung, die große Bedeutung von Identität und Herkunft? Oder der Glaube an die Beseeltheit der relevanten Dinge dieser Welt und das Bedürfnis, mit ihnen in Beziehung zu treten und sie sich so anzueignen? Menschen schufen sich Idole, Nymphen, Faune und Götter, und in Zusammenhang mit bestimmten Herrschaftsformen sogar „den Einen und Einzigen“. Daraus lässt sich zwar nichts über Existenz oder Nicht-Existenz solch „höherer Wesen“ ableiten; sehr wohl aber lässt die Projektion eines menschenähnlichen Gottes auf einen Hang zur Selbstüberschätzung und einen im Zuge der „Selbstranszendierung“ sich einschleichenden Größenwahn schließen; auch das ist Teil der Conditio humana.

Das fünfte Kapitel setzt sich mit der Motivation für unser Handeln und Entscheiden auseinander. Wie treffen Menschen Entscheidungen?

– Zwischen ihrer alten Ausstattung mit Instinkten und dem „Freien Willen“ (?), einem philosophischen Konstrukt, das die Neurobiologie etwa relativiert hat.

Selbst unser Geist ist nicht so beschaffen, als wäre er von einem intelligenten Designer entworfen; eher war über die Jahrmillionen ein Bastler am Werk. So gilt das „Darwin’sche Kontinuum“ nicht nur für Körperbau und Physiologie, sondern auch für geistige Merkmale und Funktionen. Wie kam es zu den seltsamen (Dys-)Funktionalitäten des menschlichen Denkapparats? Die wichtigste Domäne der Selektion war zunächst die Beziehung zwischen Räuber und Beute, später das Sozialleben. Das ist Menschen immer noch tief eingeschrieben. Mutation und Selektion veränderten zwar das Wirbeltiergehirn auf dem Weg zum Menschen in seinem Grundbauplan nicht, rangen ihm aber zahlreiche Aus- und Umbauten ab.

Kapitel sechs behandelt die ursächlichen Beziehungen zwischen Entwicklungsbedingungen und individueller Merkmalsausprägung.

Obwohl Persönlichkeitsmerkmale in hohem Ausmaß genetisch erblich sind, bestimmen Umweltbedingungen maßgeblich, wie offen, selbstbewusst, innovativ oder konservativ sich Menschen entwickeln. Vom befruchteten Ei weg beeinflussen Reize aus der Umwelt die Genregulation und damit die Ausbildung von Merkmalen. So etwa können Lebensumfeld und Lebensstil der Eltern auf epigenetischem Weg auch die Merkmale der Nachkommen prägen.

Die Erkenntnisse der Epigenetik widersprechen einer allzu deterministischen Sichtweise. Mehr noch als andere Tiere kommen Menschen mit einem breiten Entwicklungspotenzial zur Welt. Ihre geistige, emotionale und soziale Ausprägung erfahren sie vor allem durch ihre frühe soziale Umwelt. Klingt nur scheinbar wie eine Versöhnung zwischen den lange gehegten Fronten in der Nature-Nurture-Debatte. Die Entwicklungsbiologie und -psychologie werfen mit ihren neuen Synthesen diese alte Debatte endgültig aus dem Rennen.

Im siebten und letzten Kapitel wird die Frage gestellt, ob sich Menschen seit der Altsteinzeit verändert haben – und wie es in Zukunft weitergehen könnte.

– Nicht ohne ein wenig ironisch-skeptische Distanz gegenüber jenen, die meinen, die Zukunft der Menschheit liege im Weltall oder im Cyborg-Hybriddasein zwischen biologischem Körper und Maschine. Werden wir durch die neuen Technologien in der Lage sein, die Grenzen der menschlichen Natur auszuweiten? Und wenn ja, wie harmonisiert man die Mensch-Maschinen-Cyborgs der Schönen Neuen Welt mit den menschlich-sozialen Bedürfnissen, mit Menschenrechten und Moralvorstellungen? Wird der Chip im Gehirn dem Menschen 2.0 eher Kopfschmerzen bereiten, oder wird er dazu beitragen, besser und nachhaltiger miteinander und der Welt zurechtzukommen? Und was bedeutet es für die zukünftige menschliche Evolution, wenn die optionale Unsterblichkeit zur Realität wird? Trotz – oder wegen – der recht konservativen mentalen Natur des Menschen lassen solch „infektiöse“ Technologien gesellschaftlich keinen Stein auf dem anderen. Analog zum Klimawandel könnte man meinen, dass es gesellschaftlichen Wandel immer schon gab, er aber aufgrund der technologischen Entwicklung und Globalisierung noch nie so rasant erfolgte wie heute.

Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Freude, wie ich beim Schreiben; denn Schreiben bedeutet Kommunikation zwischen Hirn und Hand und letztlich Denken. Wahrscheinlich werden bei Ihnen während des Lesens – wie auch bei mir während des Schreibens – Zweifel und Widersprüche aufkommen. Gut so, denn als Wissenschaftler möchte ich im Gegensatz zu Dogmatikern und Ideologen die Leserinnen und Leser nicht überzeugen. Hier geht es um eine Zusammenschau, um Szenarien auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, also nicht um die Wahrheit, auch nicht im philosophischen Sinn.

Wie der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers meint, betont man in den Naturwissenschaften den Weg, sieht die Theorie als Leitinstrument für Forschung, bleibt aber besser distanziert gegenüber allzu dogmatischen Ausformungen. Wie auch der österreichische Philosoph Karl Popper und wohl eine Mehrheit von Naturwissenschaftlern, hält Jaspers die Erkennbarkeit der Welt im Ganzen für Aberglaube. Im Marxismus, der Psychoanalyse oder den alten Rassentheorien seien Soziologie, Psychologie und biologische Anthropologie zu Weltanschauungen geworden, und somit zum „Afterbild der Philosophie“, so Jaspers. Es ist daher auch nicht Ziel dieses Buches, mit Neuem zur Conditio humana bloß eine weitere Ideologie vom Wesen des Menschen in die Welt zu setzen. Wucht und Macht des naturwissenschaftlichen Bildes vom Menschen hängt weniger mit einer fast wasserdicht-unwiderlegbaren (!) Evolutionstheorie zusammen, sondern vielmehr mit der Fülle an empirischen Ergebnissen, die zu einem immer weiteren und tieferen Bild zusammenfließen, vor allem aber mit der Überprüfbarkeit, Revidierbarkeit und Kritisierbarkeit der Ergebnisse.

Das Buch soll zum Weiterzudenken anregen. Der Zugang zu Information war nie leichter als heute.

Die Kunst besteht offensichtlich darin, die Orientierung zu behalten und zwischen Unsinn und blanken Verschwörungstheorien – von der Homöopathie bis zu den „Chemtrails“ – und vertretbaren Erkenntnissen zu unterscheiden.

Vielleicht kann dieses Buch als eine Art Kompass in Richtung eines breit aufgestellten rational-naturwissenschaftlichen Weltbildes funktionieren, vielleicht auch nicht. Vielleicht liefert es ja auch Stoff für Debatten in den sozialen Medien, auf Partys oder wo auch immer – mir soll auch diese Praxis der menschlichen Natur sehr recht sein.

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Eine 600 Millionen Jahre alte Geschichte

Wie kann man wissen, was „die Natur des Menschen“ ist? – Im Vergleich mit anderen Tieren sollte man dazu die richtigen Fragen stellen. Letztlich verdanken Menschen als eines der Topmodelle der Evolution ihre Existenz vielen in der Stammesgeschichte entstandenen Schlüsselinnovationen. Aber die Evolution hat nicht intelligent geplant, sondern pragmatisch gebastelt – auch und besonders am Organ des Geistes, dem Gehirn. Übrigens: Es ist gar nicht so einfach, Merkmale zu finden, in denen sich Menschen tatsächlich von den anderen Tieren unterscheiden – aber es gibt sie.

Evolutions-„Theorie“?

„Gebe Gott, dass er nicht recht hat, aber wenn er recht hat, gebe Gott, dass es niemand erfährt“, soll eine Dame der viktorianischen Gesellschaft geseufzt haben, als sie von Charles Darwins These hörte, die Menschen stammten von affenartigen Vorfahren ab. Darwin war nicht der Erste oder Einzige, als er in seinem Buch „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ 1859 für die Veränderlichkeit der Arten argumentierte. Alfred Russel Wallace entwickelte zeitgleich eine ähnliche Theorie, aber Darwin war schneller und effizienter im Kommunizieren. Schon eine Generation vor Darwin wurde Jean-Baptiste de Lamarck für sein Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften bekannt. Daran glaubte zwar auch Darwin, richtig war es dennoch nicht. Die Theorien zum Artenwandel lösten heftige Kontroversen aus, die in unterschiedlichen Formen bis heute anhalten: in Konkurrenz zu wörtlichen Auslegungen religiöser Überlieferungen, die auf die Unveränderlichkeit direkt geschaffener Arten pochen. Wäre es bloß um die Wandelbarkeit von Muscheln gegangen, die Debatte hätte den akademischen Elfenbeinturm wahrscheinlich nie verlassen. Zum Skandal wurde die neue Theorie, weil sie Gültigkeit für alle Arten beanspruchte – die „Krone der Schöpfung“ eingeschlossen.

Heute liegen erdrückende Belege vor für das „Darwin’sche Kontinuum“, die Kontinuität menschlicher Merkmale mit den stammesgeschichtlichen Verwandten:

Menschen sind Schimpansen ähnlicher als anderen Affen, Säugetieren ähnlicher als Vögeln und Fischen ähnlicher als Nicht-Wirbeltieren.

Die zu den Menschenarten der letzten paar Millionen Jahre führende Linie hatte gemeinsame Vorfahren mit den anderen Schimpansenarten vor fünf Millionen Jahren, mit der Gruppe der Fleischfresser unter den Säugetieren (Hunde, Katzen, Bären, Marder) vor sechzig Millionen Jahren, mit den Vögeln vor 220 Millionen und mit den kiefertragenden Fischen vor 400 Millionen Jahren. Schon aufgrund der unterschiedlichen zeitlichen Abstände kann man vorhersagen, dass sich die Merkmale der Menschen und der anderen Schimpansen weniger unterscheiden als die Merkmale von Arten, von denen sie sich schon länger getrennt entwickelten. So ähneln die Hände der Menschen denen der Schimpansen viel stärker als den Pfoten der Wölfe, den Hufen der Pferde, den Handschwingen der Fledermäuse oder den Brustflossen der Fische.

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Herkunftsgleich – oder parallel entstanden?

Herkunftsgleiche, also „homologe“, Merkmale können aus funktionellen Gründen recht unterschiedlich ausgeprägt sein: Hände eignen sich zum Greifen, Hufe zum Laufen, Handschwingen zum Fliegen. Umgekehrt führen funktionelle Zwänge bei kaum verwandten Arten zu ähnlichen Merkmalen, allerdings unterschiedlicher Herkunft. So entwickelten Fische, Fischsaurier und Wale völlig unabhängig voneinander einen „Heckantrieb“ in Form von Finnen oder Flossen. Und das australische „Schnabeltier“, ein seltsames wasserlebendes, eierlegendes und Milch produzierendes Wesen, verdankt seinen Namen dem entenschnabelähnlichen Vorderende. Sieht aus wie ein Entenschnabel und funktioniert auch so, obwohl Schnabeltiere nichts mit Vögeln zu tun haben. Der Schnabeltierschnabel ist also dem Entenschnabel analog: funktionsgleich, nicht aber herkunftsgleich.

Ähnliches gilt für soziale Merkmale: Monogamie, die exklusive Zweierbeziehung, gibt es häufig bei Vögeln, selten bei Säugetieren. Die Monogamie der Vögel und Säugetiere muss aber parallel entstanden sein. Denn der gemeinsame Vorfahr von Vogel und Säugetier war ein wahrscheinlich nicht besonders soziales und schon gar nicht monogames Reptil.

Monogamie entsteht, wenn beide Geschlechter – vor allem aber die Männchen – ihren Fortpflanzungserfolg optimieren können, wenn man bei der Fürsorge für die Nachkommen kooperiert.