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Stefan Apfl | Sebastian Loudon | Alexander Zach

Wo sind wir hier eigentlich?

Österreich
im Gespräch

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1. Akt

Woher wir kommen.

Über kollektive Altlasten
und kulturelles Erbgut, Ich-Schwäche
und Gruppenidentität, die uneigentliche Rede
und Gottvergessenheit

Barbara Coudenhove-Kalergi, Konrad Paul Liessmann, Florian Scheuba, Anneliese Rohrer, Hannes Androsch, Andreas Salcher, Terezija Stoisits, Harald Katzmair, Lisz Hirn, Paul Chaim Eisenberg, Kenan Güngör, Gregor Henckel-Donnersmarck, Heinz Fischer, Markus Hengstschläger, Cecily Corti, Willi Klinger, Elfie Semotan, Peter Mitterbauer, Florian Klenk, Willi Resetarits, Danielle Spera

2. Akt

Wo wir stehen.

Über hoffnungslose Optimisten
und die Deregulierung der Wahrheit, Ibiza
und die Mächte des Bösen, das Menschenrecht
auf Fernreisen und Essen über den Tellerrand

Adele Neuhauser, Armin Wolf, Peter Lammerhuber, Bernd Marin, Gregor Demblin, Heide Schmidt, Andreas Vitásek, Deborah Sengl, Alexander Wrabetz, Marc Elsberg, Wolfgang Eder, Barbara Blaha, Martina Hörmer

3. Akt

Wohin wir gehen.

Über Klimanotstand und die Vierte Republik,
hochgekrempelte Ärmel und gebildete Herzen,
Schicksalssymphonien auf Europa und die
österreichischste aller Fragen

Clemens Lahner, Norbert Zimmermann, Niko Alm, Madeleine Alizadeh, Johannes Stangl, Matthias Strolz, Verena Ringler, Florian Aigner, Kasia Matt-Uszynska, Lilli Hollein, Luna Al-Mousli, Felix Hafner, Erhard Grossnigg, Barbara Teiber, Nuno Maulide, Andreas Treichl, Xenia Hausner

Personenregister

Danksagung

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Am Anfang war die Lust. Die Lust auf ein Experiment, auf ein publizistisches Wagnis. Und ja, die Lust darauf, etwas scheinbar Unmögliches in die Welt zu bringen. Schließlich sollte es dem Anlass gerecht werden: dem 15. Geburtstag von DATUM. Denn auch 2004, als der Journalist Klaus Stimeder und der Investor Johannes Weyringer das Monatsmagazin für Politik und Gesellschaft in die Welt brachten, stand da die Lust am scheinbar Unmöglichen: ein Magazin, losgelöst vom durchkommerzialisierten Medienbetrieb, der journalistischen und verlegerischen Unabhängigkeit ebenso verpflichtet wie der kompromisslosen Qualität in Wort und Bild. Das war schon damals eine verrückte Idee. Und siehe da, mit dem Buch, das Sie in Händen halten, feiern wir nun das 15-jährige Bestehen von DATUM.

Jubiläen dienen gemeinhin als Gelegenheit, um innezuhalten, um die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu hinterfragen. Nun liegt es im Wesenskern von DATUM, sich weniger mit uns selbst, als vielmehr mit der Welt um uns herum zu befassen, sie zu erkunden und das, was wir dabei entdecken und lernen, in Form von Reportagen und Porträts, Gesprächen und Fotoessays zu erzählen und zu verhandeln.

Und so wie der Diskurs zu unserem publizistischen Kernanliegen zählt, so zählen die „Tischgespräche“ über die großen Themen unserer Zeit bereits zu den traditionellen Formaten in DATUM. Eben diesen Diskurs und dieses Format wollten wir zum Jubiläum ausweiten und sie gleichzeitig auf eine neue Ebene führen. Die Fragen, die wir uns stellten, lauteten: Woher kommt Österreich, woher kommen wir als Gesellschaft? Wo stehen wir? Wohin gehen wir? Und was kommt eigentlich dabei heraus, wenn wir dutzende Menschen, deren Ansichten und Einsichten uns interessieren, in die DATUM-Redaktion bitten, um mit ihnen über eben jene Fragen zu diskutieren?

Die spontane Begeisterung des Verlegers Nikolaus Brandstätter motivierte uns, das Experiment schließlich zu wagen. Wir feilten am Konzept, skizzierten einen Zeitplan und überlegten, wen wir gerne bei diesem Gespräch dabei hätten. Der zweite Motiviationsschub kam, nachdem wir die ersten Einladungen für den Tag unseres Gesprächsmarathons ausgeschickt hatten. Die Reaktion war schier überwältigend. Wer Zeit hatte, sagte mit Begeisterung und offensichtlicher Neugier zu. Wer nicht kommen konnte, gratulierte uns zu unserer Idee.

Und so kam es, dass sich an jenem heißen Junitag 51 Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, Kunst und Medien, Religion und Wissenschaft in der DATUM-Redaktion in der Wiener Kirchengasse die sprichwörtliche Klinke in die Hand gaben. Das Gespräch dauerte neuneinhalb Stunden und war von fröhlicher Ernsthaftigkeit geprägt.

Dass über Tagespolitik wenig gesprochen wurde, lag zweifellos auch daran, dass wir uns früh dazu entschieden hatten, diesen Diskurs ohne aktive Politikerinnen und Politiker zu führen. Von ihnen wünschen wir uns vielmehr, dass sie dieses Buch lesen und dabei darauf achten, worüber gesprochen wird – und vor allem wie. Denn bei allen Gegensätzen zwischen den teilnehmenden Menschen, ihren Positionen und Argumenten waren die Gespräche durchwegs von Respekt geprägt – voreinander und in der Sprache.

Ein Gespräch zu Papier zu bringen ist eine delikate Herausforderung. Es soll flüssig zu lesen sein, ohne dass dabei der kolloquiale Charakter verloren geht. Das verlangt nach Kürzungen und an manchen Stellen auch nach sprachlicher Präzisierung. Wir bedanken uns aufrichtig bei allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für ihr Vertrauen in uns. Denn es gab keine Autorisierung des gesprochenen Wortes. Lediglich dann, wenn Missverständnisse durch die Tonaufnahme nicht auszuschließen waren, hielten wir Rücksprache.

Zum Schluss ein Tipp: Lesen Sie dieses Buch wie ein Theaterstück, stellen Sie sich die Stimmen vor, versetzen Sie sich in die Situation der Sprechenden. Und sollten Sie bei der Lektüre jene Lust verspüren, die dieses Projekt durchwegs getragen hat, tja, dann ist unser Experiment wohl gelungen.

Stefan Apfl, Sebastian Loudon und Alexander Zach

1. Akt

Woher wir kommen.

Über kollektive Altlasten und kulturelles Erbgut, Ich-Schwäche und Gruppenidentität, die uneigentliche Rede und Gottvergessenheit

1. Szene

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Handelnde Personen:

Barbara Coudenhove-Kalergi (*1932), Journalistin

Konrad Paul Liessmann (*1953), Philosoph

Florian Scheuba (*1965), Kabarettist

Anneliese Rohrer (*1944), Journalistin

Hannes Androsch (*1938), Unternehmer und ehem. SPÖ-Politiker

Andreas Salcher (*1960), Unternehmensberater und Buchautor

Terezija Stoisits (*1958), Volksanwältin a.D. und ehem. Grünen-Politikerin

(v. o. li. n. u. re.)

Barbara Coudenhove-Kalergi, Konrad Paul Liessmann, Anneliese Rohrer und Florian Scheuba sitzen am Tisch.

DATUM: Willkommen am Beginn eines langen Gespräches. Wir diskutieren heute neuneinhalb Stunden lang über Österreich.

COUDENHOVE-KALERGI: Gut, dass wir jetzt schon da sind, es wird euch schon fad sein am Ende.

DATUM: Im ersten Akt begeben wir uns unter anderem auf die Suche nach Antworten auf die Frage, woher wir kommen. Als Republik, als Land, als Gesellschaft. Wo, Frau Coudenhove-Kalergi, würden Sie die Erzählung über Österreich beginnen?

COUDENHOVE-KALERGI: Das ist eine spannende Frage, weil wir auf der einen Seite natürlich die Erben des Vielvölkerstaates, die Erben der multinationalen Donaumonarchie sind. Und auf der anderen Seite sind wir das kleine Österreich. Eine der Fragen, die sich heute stellt: Sind wir jetzt nur das kleine Österreich oder sind wir auch ein Teil Europas? Zu meinem Schlüsselerlebnis: Ich komme aus Böhmen, bin als 13-Jährige nach Österreich gekommen, und zwar in den Lungau. Das war unmittelbar nach dem Krieg. Als Kind wurde mir gesagt: Du bist jetzt das Alpenmädchen aus den Bergen, trägst ein Dirndl und Österreich ist deine Heimat. Und zwar das kleine Österreich. Wir haben damals 850 Jahre „Ostarrichi“ gefeiert. Das war eine eigentlich ziemlich belanglose Urkunde, die vor 850 Jahren hergestellt worden ist. Irgendeine Fläche Land wurde an ein Stift bei Neuhofen an der Ybbs verkauft, ich hatte natürlich keine Ahnung, wo das ist, aber wir mussten das jetzt feiern. Die Idee war natürlich, eine neue Identität zu schaffen nach der Nazizeit. Es musste ein Fest gefunden werden, ein Identitätsmerkmal, das nichts mit Nazideutschland oder der Monarchie zu tun hat, also das Kleinstmögliche. Damit ist meine Generation aufgewachsen. Jetzt kommt natürlich die europäische Dimension dazu, und ich glaube, viele von den Problemen, die wir jetzt haben, also Identität, Zuwanderung, Vielfalt, das Sich-Zurückzuziehen auf das Eigene, das alles resultiert aus diesem Spannungsfeld. Deswegen stehen wir heute vor einer interessanten Zeitenwende für Österreich.

DATUM: Herr Liessmann, wir stehen auf den Schultern von Menschen, die vor uns kamen, aber sozusagen auch von Ideen. Worauf fußen wir als Gesellschaft ideengeschichtlich?

LIESSMANN: Das ist natürlich nicht ganz einfach. Gerade auch weil wir, Frau Coudenhove-Kalergi hat es ja bereits ausgeführt, durch die etwas komplizierte Herkunftsgeschichte Österreichs auch eine etwas komplizierte Ideengeschichte haben. Es gibt ja die Theorie, dass die Gegenreformation für das geistige Umfeld und das Lebensgefühl in Österreich bestimmend war. Das liegt jetzt zwar schon Jahrhunderte zurück, setzt sich aber mentalitätsmäßig fort, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Das Zweite ist natürlich, dass Österreich, das mag auch mit einer barocken Tradition zu tun haben, ein in hohem Maße ästhetisch geprägtes Land ist. Das heißt also, dass bestimmte Fragen der Form, der Präsentation, der Inszenierung für dieses Land wichtiger waren als für andere Kulturen. Und das reicht tatsächlich von der Zelebration bestimmter öffentlicher Ereignisse bis hin zur sprichwörtlichen „schönen Leich’“ in Wien, also dem vollendeten Begräbnis. Das Dritte ist natürlich das ambivalente Verhältnis der österreichischen Kultur, des österreichischen Denkens zu den Ideen der Aufklärung. Österreich war hier nicht führend beteiligt, gleichzeitig haben wir mit dem Josephinismus ein spezielles Modell von praktizierter Aufklärung etabliert, von dem ich glaube, dass es vor allem für bestimmte politische Bewegungen in Österreich nach wie vor hochattraktiv ist: vernünftig zu sein, alles für das Volk zu tun, aber möglichst wenig durch das Volk selbst geschehen zu lassen. Ein bestimmter linker Paternalismus fußt zweifellos in dieser josephinischen Tradition, die ihre guten und schlechten Seiten hat. Was Aufklärung, was Moderne betrifft, darf man nicht vergessen: Österreich war um 1900 ein Experimentierfeld der Moderne und der modernen Ideen. Natürlich auf ästhetischem Gebiet – man braucht ja nur an die großen Künstler dieser Zeit denken: Es gäbe keinen modernen Roman ohne Robert Musil, es gäbe keine moderne Malerei ohne Klimt oder Schiele, es gäbe keinen europäischen Jugendstil ohne spezifische österreichische Ausprägungen. Aber es gäbe auch keine moderne Naturwissenschaft ohne Beteiligung der Österreicher. Man denke an Ludwig Boltzmann oder andere. Es gäbe keine moderne Philosophie ohne Ludwig Wittgenstein. Und dann gibt es natürlich, wenn wir bei geistigen Wurzeln sind, ein unglaublich interessantes Phänomen, nämlich das Phänomen Sigmund Freud und die Entdeckung der Psychoanalyse. Die hat auf der einen Seite, wie soll ich’s sagen, das österreichische Bewusstsein so sehr geprägt, dass jeder Sportler heute davon sprechen kann, dass im Unterbewusstsein die Angst mitfährt am Hahnenkamm. Und gleichzeitig ist die Geschichte der Psychoanalyse selbst auch die Geschichte einer Verdrängung, denn auf akademischem Boden spielt die Psychoanalyse in Österreich überhaupt keine Rolle mehr. Österreich ist, glaube ich, das einzige Land der Welt, das keinen Lehrstuhl für Psychoanalyse hat. Das könnte man wieder symbolisch nehmen für unser höchst gespanntes und ambivalentes Verhältnis zu unserer eigenen Tradition. Die Frage der Identitätsbildung nach 1918 war keine einfache. Die Erste Republik stand ja noch unter dem Schock des Zerfalls. Das Bekenntnis zu Österreich hielt sich, wie wir wissen, in Grenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den politisch motivierten Wunsch, diese Zweite Republik in ihrer Kleinheit zu erhalten. Aus dieser Kleinheit heraus entstanden natürlich auch bestimmte Ressentiments gegenüber den großen geistigen Traditionen, die das Vorkriegsösterreich gekennzeichnet und ausgezeichnet hatten. Die Zweite Republik, besonders die 50er Jahre, waren eine reaktionäre, kleinbürgerliche Idylle, gegen die dann erst der Wiener Aktionismus, die Wiener Gruppe auftreten musste. Popkultur, revolutionäre Ideen mussten nach Österreich importiert werden, aus Deutschland, aus Amerika, damit man in unserem Land überhaupt das Gefühl hatte, dass etwas weitergeht. Dieses beschriebene Spannungsverhältnis macht die heutige österreichische geistige Mentalität aus.

DATUM: Der von Ihnen beschriebene Paternalismus ist in Österreich links wie rechts zu finden?

LIESSMANN: Paternalismus ist ja eigentlich ein Wesensmerkmal des Konservativismus. Das heißt, das Patriarchat, oder auch der Kaiser, der sich als Kaiser von Gottes Gnaden fühlt, hatte die Aufgabe, sich um seine Untertanen zu kümmern, wie sich eben ein guter Vater um seine Kinder kümmert. Die linke Bewegung beruft sich auf die menschenrechtliche Tradition der Aufklärung, auf die Ideen der Französischen Revolution. In Österreich aber gibt es so wunderbare Formulierungen wie „Joseph II. und seine linken Jakobiner“. Das waren aber Hofräte. Ein Jakobiner in Österreich konnte ein Hofrat sein, das gab es in Frankreich oder Deutschland so nicht. Man sagt mit Recht, dass das Scheitern der Revolution von 1848 für das Demokratiebewusstsein in Österreich sicher ein Problem war. Gleichzeitig darf man aber auch nicht vergessen, dass dieses Scheitern eine ganz bestimmte Form von politischer Aufklärung in Österreich etabliert hat, die dann eben nicht mehr erwartete, dass die großen Veränderungen von unten kommen, sondern die gesagt hat: Wenn wir verändern wollen, und das wollen wir, dann müssen wir die großen Reformen von oben einsetzen. Man konnte das sehr gut bei Kreisky sehen: Auf der einen Seite gab es eine der reformfreudigsten Regierungen, die Österreich je hatte. Und auf der anderen Seite herrschte eine tiefe Skepsis gegenüber allen Bewegungen, die von unten gekommen sind. Das betraf die eigene Partei genauso. Kreisky war kein Fan des VSStÖ und schon gar nicht von anderen linken Gruppierungen.

DATUM: Herr Scheuba, gibt es einen spezifisch österreichischen Humor, und falls ja, was sagt der über uns?

SCHEUBA: Es gibt meiner Meinung nach sehr wohl eine Eigenart des Humors, die typisch österreichisch ist. Das ist die uneigentliche Rede. Wenn wir das vergleichen mit unseren gleichsprachigen Nachbarn, stellen wir fest, dass es das in dieser Form in anderen Ländern nicht gibt, zumindest in anderen deutschsprachigen Ländern. Und das wird auch im Ausland als exotisch wahrgenommen, es sorgt immer wieder für Missverständnisse.

DATUM: Was wäre ein Beispiel für die uneigentliche Rede?

SCHEUBA: Auf einer Bühne spielst du eine Figur, die etwas sagt, das nicht deine Meinung ist. Sondern du karikierst etwas. Das ist in Deutschland schon etwas schwieriger in der Wahrnehmung. In Deutschland wird gleich hinterfragt, na, wie meint er das jetzt? Meint er das selber? Wieso sagt er das? In Österreich ist es sofort klar: Wenn ich auf eine Bühne gehe und gewisse Sachen in einer Art Tonfall oder in einer Figur sage, wird verstanden, dass ich nicht als privater Mensch diese Meinung habe, sondern dass das jetzt auf einer Metaebene funktioniert. Das ist eine spezifische österreichische Humorausformung. Konkret so etwas wie der Herr Karl. Niemand wäre auf die Idee gekommen zu sagen, Helmut Qualtinger sagt uns hier seine Meinung. Oder Helmut Qualtinger erzählt aus seinem Leben. Sondern es war klar, wie es gemeint ist. In Deutschland wäre das zu diesem Zeitpunkt etwas schwieriger gewesen. Da hätte sich der Qualtinger davor noch erklären müssen, klar sagen müssen, ich schlüpfe jetzt in die Rolle dieser Figur und erzähle aus ihrem Leben.

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DATUM: Inwiefern ist diese spezifische Ausprägung des Humors ein Ergebnis dieses Obrigkeitsdenkens, das vorhin angeklungen ist? Oder ist es ein Ventil dafür?

SCHEUBA: Es ist ein naheliegender Gedanke, dass diese Art des Humors dort seine Wurzeln hat. Ich glaube, die uneigentliche Rede gehört auch mittlerweile zum Inventar dazu, um sich österreichisch zu fühlen. Also wenn jemand komplett schmähbefreit ist, wie man das in Wien sagt, hat er glaub ich ein bisschen ein Integrationsproblem in Österreich. Aber ganz grundsätzlich: Wir leben ja heute in einem Österreich, in dem es den Begriff der „österreichischen Nation“ viel weniger braucht als früher. Als ein Politiker sagte, die österreichische Nation sei eine ideologische Missgeburt, wurde noch ernsthaft darüber diskutiert. Das ist eigentlich vorbei. Für mich war ja Córdoba 1978 ein einschneidendes Erlebnis, das 3:2 gegen Deutschland. Ich war damals 13, und in der Schule sind wir am nächsten Tag alle beieinandergesessen und waren begeistert, wie toll das war. Nur einer in unserer Klasse war total angefressen und sagte, es hätten die Falschen gewonnen. Mittlerweile sitzt er für die FPÖ in führender Position im Parlament. Das war einfach die familiäre Prägung. Bei ihm zu Hause hieß es, wenn Österreich gegen Deutschland spielt, dann muss man zu Deutschland halten. Das ist meiner Meinung nach aber mittlerweile eine derartige Minderheitenposition geworden, dass es eigentlich aus der öffentlichen Debatte verschwunden ist.

COUDENHOVE-KALERGI: Ich finde interessant, was Sie da sagen. Das Zugehörigkeitsgefühl zu den Deutschen, wenn sie gegen Österreich Fußball spielen, ist ein konstitutionelles Element des sogenannten Dritten Lagers, das heute von der FPÖ repräsentiert wird. Ich bin in der Nazizeit in die Schule gegangen, und wir haben natürlich gelernt, dass wir deutsche Kinder sind speziell in Böhmen. Als böhmische Kinder haben wir gesungen: „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm!“ In Österreich gab es seit dem frühen 19. Jahrhundert eine Richtung, die gesagt hat, es gibt die Slawen, es gibt die Ungarn, es gibt die Deutschen, und wir gehören eben zur deutschen Kulturgemeinschaft. Das war für mich eigentlich das einzige Schlüssige an der FPÖ-Ideologie. Vor allem, weil man sich da auf 1848 berufen konnte, auf den anti-napoleonischen Freiheitskampf, auf das Hambacher Fest, also auf eine durchaus demokratische deutsche Tradition. Aber das ist weg, geblieben ist nur die Ausländerfeindlichkeit. Das ist eigentlich das einzige Anliegen der FPÖ und des Dritten Lagers, die einzige Idee, die ich momentan sehe. Das ist nicht nur einer, wie bei euch damals in der Klasse, der beim Fußball zu den Deutschen hielt, sondern das sind gute 20 Prozent. Da ist ein harter Kern von Leuten, die sich auf die Nazi-Tradition und nicht mehr unbedingt auf die liberal-demokratische deutsche Tradition berufen. Und diese Leute sind durch nichts von diesem Glauben abzubringen.

ROHRER: Ein Grund, warum wir auch in diese Situation geraten sind, ist die eklatante Ich-Schwäche der Österreicher. Mangelndes Selbstbewusstsein und die mangelnde Bereitschaft, sich politisch einzubringen. Das ist für mich das Hauptproblem. Ein Phänomen dieser Ich-Schwäche ist die uneigentliche Rede, von der Scheuba gesprochen hat, und die ja in Wahrheit eine Feigheit ist. Eine Angst davor, für die eigene Meinung einzutreten. Das sehe ich auch in der Politik. Wobei, da sehe ich eigentlich im Moment gar keine Rede. Aber wichtiger ist mir der Umgang der Österreicher mit der Politik: Es gibt doch kaum jemanden, der aufrecht einem Politiker entgegentritt und ihm sagt, was er denkt. Das wird unterfüttert mit einer Umfrage, nach der 72 Prozent der Österreicher Angst haben, ihre eigene Meinung zu sagen, aus Furcht vor persönlichen und beruflichen Nachteilen. Und da kommen wir zu diesem System, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Diese Abhängigkeit vom Politischen, die bis zu den Karrieren und den Wohnungen reichte. Wenn ich etwas Falsches sage, dann kann mir das schaden. Diese Angst, aufzutreten, einzutreten, die ist dieser Ich-Schwäche geschuldet, die wiederum davon kommt, dass wir uns seit dem Ende des Ersten Weltkrieges immer als Opfer sehen. Wir fühlen uns in dieser Opferrolle sehr wohl, weil sie uns von der eigenen Verantwortung wegführt. Im Moment sind wir gerade Opfer der Zeit der großen Koalition, des Stillstands. Wir sind immer von irgendjemanden das Opfer. Ein bisschen eine Ausnahme in der jüngeren österreichischen Geschichte war die erste Hälfte der 70er Jahre. Aber nur die erste.

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DATUM: Inwiefern?

ROHRER: Da gab es einen Aufbruch, da gingen die Fenster auf, und plötzlich war Luft herinnen. Aber wir wissen alle: Ab 1975 hat sich das dann wieder geändert. Das Ausnutzen des beschriebenen Opfergefühls vieler Österreicher wurde natürlich auch politisch instrumentalisiert. Kreiskys Erfolg war zum Teil der Öffnung zum Dritten Lager und seinem ganz eigenartigen Antisemitismus geschuldet. Wenn er sich gegen Israel positioniert hat, und wir brauchen die Wiesenthal-Affäre gar nicht erwähnen, dann haben sich viele Österreicher gedacht, naja, wenn der Kreisky das sagt, dann bin ich ja auch kein Antisemit.

SCHEUBA: Damit kein Missverständnis aufkommt: Schmäh ist nicht das Gleiche wie lügen. Und mit uneigentlichem Sprechen habe ich eher in die Richtung des Schmähs gedacht und nicht in die Richtung des Heuchelns, das auch sehr weit verbreitet ist. Es gibt einen Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Komik.

ROHRER: Das habe ich schon verstanden, ich wollte es nur ausdehnen.

LIESSMANN: Zu diesem Satz von Jörg Haider, wonach die österreichische Nation eine ideologische Missgeburt sei: Ich glaube auch, dass das mittlerweile entspannt ist. Und zwar, weil wir aus guten Gründen und Gott sei Dank mittlerweile der Auffassung sind, dass Nationen an sich ein überholtes Konzept sind. Im Grunde sind ja gerade wir Europäer davon überzeugt, dass jede Konstruktion von Nationen gewissermaßen eine ideologische Missgeburt ist. Und dass es keine tatsächlichen historischen, biologischen, ethnischen, sprachlichen Gründe gibt, die eine Nation als solche definieren, wie das Nationalisten Ende des 19. Jahrhunderts dachten. Deshalb erwies sich Jörg Haider als Avantgardist avant la lettre. Würden wir in Österreich eine Umfrage machen, wer für den Verbleib in der Europäischen Union ist, haben wir nach gegenwärtigem Stand eine satte Mehrheit von mehr als 80 Prozent. Wenn wir eine Umfrage machen würden, wer für einen Anschluss an Deutschland ist, dann sind es vielleicht fünf Prozent.

COUDENHOVE-KALERGI: Die Frage „Ist die Nation ein Kind der Demokratie oder ist sie ein Rückschritt?“ ist immer noch virulent. Aber ich möchte noch etwas zum Erbe der Vielvölkermonarchie sagen: Dazu gehört natürlich auch die Präsenz der Juden. Das Verschwinden der Juden in Österreich ist, glaube ich, eine Wunde, die bis heute nicht geheilt ist. Die Zeit um 1900, die Avantgarde, die Moderne, das alles war zu einem großen Teil, sowohl von Künstlern und Schriftstellern als auch vom Publikum her eine jüdische Geschichte und ist ein wesentlicher Teil der österreichischen Geschichte. Wenn wir von Verdrängung und unausgesprochenen Dingen, die unterirdisch schwelen, sprechen, dann ist das, glaube ich, eines davon.

LIESSMANN: In Wirklichkeit wurde ja nicht nur sozusagen das Judentum vernichtet. Ein Großteil dessen, was man jetzt bürgerliches Denken und wissenschaftliches Denken nennen könnte, ist ebenfalls liquidiert worden. Und das ist zweifellos eine große Lücke, an der Österreich fatalerweise noch immer zu arbeiten hat.

Hannes Androsch, Terezija Stoisits und Andreas Salcher kommen dazu.

DATUM: Frau Rohrer sprach vorhin von der österreichischen Ich-Schwäche und nannte als Ausnahme die erste Hälfte der 70er Jahre. Was an diesen Jahren war so ausnehmend, Herr Androsch?

Sigmund Freud hat mit der Psychoanalyse das österreichische Bewusstsein so sehr geprägt, dass jeder Sportler heute davon sprechen kann, dass im Unterbewusstsein die Angst mitfährt am Hahnenkamm.

KONRAD PAUL LIESSMANN

ANDROSCH: Also in eigener Sache. Die 70er Jahre brachten schon durch die Erstellung der verschiedenen politischen Programme, beginnend mit dem Wirtschaftsprogramm mit dem Titel „Leistung, Aufstieg, Sicherheit“, eine Aufbruchsstimmung für das ganze Land. Diese Zeit hat in vielen Bereichen zu nachhaltigen Veränderungen geführt: Strafrechtsreform, Gesundheitspolitik, Bildungsbereich. Ich weiß nicht, wie viele Schulen gebaut wurden. Der langjährige Unterrichtsminister, Fred Sinowatz, hatte es sich zum Ziel gesetzt, in jedem Bezirk ein Gymnasium zu eröffnen. Diese Aufbruchsstimmung entsprach aber auch der gesamten europäischen Situation. Es gab den Aufstand der 68er-Generation. Es gab den Prager Frühling. Es gab die Ostpolitik von Willi Brandt. Das war der Zeitgeist in Europa, der im Österreich der 70er Jahre gut genutzt wurde.

DATUM: Herr Salcher, Sie wurden 1960 geboren, wie haben Sie diese Aufbruchsstimmung der 70er Jahre erlebt?

SALCHER: