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MATTHIAS STROLZ

SEI PILOT
DEINES LEBENS

5 Schritte zur persönlichen Entfaltung

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INHALT

Vorwort

Mittendrin

High-Five der persönlichen Entfaltung – Das Modell

So geht es nicht weiter

1.Wie ich innehalte, wahrnehme, BEWUSST WERDE

Freiraum schaffen

2.Wie ich das LOSLASSEN kultiviere

Die Kraft der Essenz

3.Wie ich mich mit meiner BERUFUNG verbinde

Über das Begreifen und Hervorbringen

4.Wie ich FORM GEBE

Im fülligen Sein und Tun

5.Wie ich ins VERKÖRPERN komme

Und das Wichtigste?

Vorwort

Dieses Buch ist für all jene geschrieben, die ein echtes Interesse daran haben, sich selbst zu entdecken und zu entfalten.

Wir alle kommen in unserem Leben immer wieder an Punkte, an denen ein neues Kapitel beginnt – oder beginnen sollte. Abschlüsse, Umbrüche, Einschnitte. Manches kommt zu einem vorhersehbaren Anfang oder Ende, beispielsweise in der Ausbildung, bei beruflichen Positionen oder bei Betreuungsaufgaben als Eltern oder Angehörige. Anderes tritt mitunter unerwartet in unser Leben: Liebe, Krankheit, der Tod von uns nahestehenden Menschen, das Ende einer langjährigen Beziehung oder andere, überraschende Entwicklungen. Plötzlich stehen Fragen im Raum. Wie geht es weiter? Was ist jetzt richtig? Wie wird es gut?

Über mehr als 25 Jahre habe ich Menschen in solchen Veränderungsprozessen begleitet. Als Coach, als Berater und als Führungskraft. Auch ich selbst habe mich privat und beruflich immer wieder neu erfunden. Zuletzt bin ich über eineinhalb Jahre durch eine solche Phase der persönlichen Neuerfindung gegangen. Dabei habe ich mich aufmerksam beobachtet. Die Konzepte und Instrumente, die ich als Unternehmer und Coach verwende, habe ich auf mich selbst angewandt, habe Muster entdeckt und manches persönliche Neuland betreten.

Auf Rückzug in den Reisfeldern Indiens kam ich zu dem Schluss, dass eine bewusste, persönliche Neu(er)findung einer ganz spezifischen Grammatik und Dramaturgie folgt. Auf Basis dieser Beobachtungen und Erfahrungen habe ich die „High-Five der persönlichen Entfaltung“ entwickelt. Sie sind das Leitmodell dieses Buches und beschreiben jene fünf Schichtungen, in welche ein solcher Findungsprozess – idealerweise – gebettet ist. Jeder Schichtung ist ein Kapitel gewidmet, in dem ich diesen Schritt zur Entfaltung detailliert ausleuchte. Um schichtungsspezifische Dynamiken wie auch die Anwendung von Techniken und Instrumenten zu illustrieren, berichte ich von zahlreichen Begebenheiten, Begegnungen und Erfahrungen.

Bevor ich das Modell der „High-Five“ darstelle und in die detaillierte Beschreibung der fünf Schichtungen gehe, wähle ich für den Einstieg bewusst einige sehr persönliche Schilderungen. Ich zeige mich selbst als Veränderungsreisender – mit meinen Wahrnehmungen, Sorgen und Freuden, mit meinem Leuchten und meiner Verletzlichkeit. Ich zeige mich im Wachsen, denn unser Leben ist ein ewiges Werden.

Es ist meine tiefe Überzeugung: Veränderung im menschlichen Leben ist gestaltbar. Wir sind die Piloten unseres Lebens, nicht Passagiere! Zu dieser Einsicht will ich ermutigen. Daher soll dieses Buch Menschen dabei unterstützen, ihr Leben aktiv zu gestalten, sich immer wieder neu zu finden und sich positiv zu entfalten.

Jede und jeder ist anders. Das anzuerkennen, ist mir wichtig. Daher wird nicht alles, was du hier findest – ich habe für die persönliche Ansprache auf dieser „gemeinsamen Reise“ das Du gewählt –, für dich gleich stimmig sein. Manches wird auch irritieren. Ich werbe aber für Großzügigkeit: Es ist, wie es ist. „Die Irritation ist die Mutter der Innovation“, sag‘ ich mir in solchen Fällen und lade die Irritation herzlich ein. Oder manchmal auch bewusst mit einem „Jetzt nicht!“ aus.

Die Verdichtungs- und Schreibarbeiten haben mir selbst viel Klarheit gebracht, vor allem über Muster und Logiken, die sich hinter meinem eigenen Sein, Tun und Lassen verbergen. Insofern war dieses Buch für mich eine äußerst spannende Reise. Eine ebensolche wünsche ich dir!

Ich freue mich über dich als Leserin, als Leser. Schön, dass wir uns hier finden. Ich mag diese Form des gemeinsamen Seins und Tuns. Lesen ist Nahrung für Geist und Seele. „Bücher sind fliegende Teppiche ins Reich der Fantasie“, meinte der Schriftsteller James Daniel. In diesem Sinne: Guten Flug!

Du bist die Pilotin. Du bist der Pilot.

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Matthias Strolz

Wien, im Sommer 2019

Mittendrin

Es ist vier Uhr morgens. Der Ventilator summt leise, draußen krähen die ersten Hähne. In einer Stunde wird der Hindutempel am anderen Ende des Reisfeldes mit seiner morgendlichen Beschallung beginnen. In zwei Stunden startet meine Behandlung mit Erbrechen durch die Verabreichung von mehreren Litern Flüssigkeit.

„Welche Sorgen soll ich dir nehmen?“, funkelt er mich geheimnisvoll an.

Ich bin überfordert. Seine dunklen Knopfaugen sind starr, das abgebrochene Sturmgewehr hält er nahe am Körper im Anschlag. In drei Stunden wird die Sonne hinter den Palmen aufgehen, ein mächtiger gelbgleißender Ball. Bis dahin wird das Leben in einer Üppigkeit aus den Reisfeldern, Palmenhainen und Hausinseln steigen, wie ich es nur in tropischen Dörfern kennengelernt habe: ein Pfeifen und Summen, ein Locken und Krähen, ein Trällern und Brummen.

IM BETT MIT DEM REVOLUTIONÄR

Ich werfe mir kurz kaltes Wasser ins Gesicht, da schaut er mich stumm an – der schwarz vermummte Mann. Eigentlich habe ich mich noch nie wirklich mit ihm beschäftigt. Und dass wir nun gemeinsam ein Zimmer im indischen Kerala teilen, war doch eine Überraschung in letzter Sekunde. Ich packe ihn und nehme ihn mit ins Bett.

Interessiert mustere ich ihn von Kopf bis Fuß. Irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob ich ihm trauen soll. Ob er wirklich ein Sorgenfresser ist? Jedenfalls ist das sein Zweitjob. Denn eigentlich verkörpert diese Figur in Daumengröße einen amerikanischen Guerillakämpfer. Marke kolumbianischer Schießmich-tot. Oder wie heißen die nochmal? Vier Uhr nachts, ich muss nachdenken. Ach ja, Mexiko, ein Zapatista-Kämpfer. Ein Freund hat ihn mir vor gut einem Jahrzehnt von seinem Abenteuertrip mitgebracht; wohl eine Anspielung auf unsere gemeinsame Faszination für Rebellen. Ich schenkte ihn dann vor einigen Jahren unserer jüngsten Tochter, an einem Abend, als ich sie ins Bett brachte und sie mir von ihren Sorgen berichtete. Weil er ja eigentlich aussieht wie so ein Sorgenfresser-Püppchen, wie es die Kinder lieben. Das abgebrochene Gewehr könnte auch ein Stück Miniatur-Brennholz sein und die dunkle Sturmhaube hat etwas Ulkiges. Jedenfalls war er für meine Tochter über all die Jahre ein aufrechter Bettkamerad; und ist es nun also auch für mich.

„Den geb‘ ich dir mit, Papa. Den kannst du jetzt brauchen.“ Mit diesen Worten lief mir unsere jüngste Tochter vor vier Tagen nach, als ich am Wiener Stadtrand das Haus in Richtung Flughafentaxi verließ. Wie so oft etwas unter Zeitdruck – Spannung muss sein –, aber frohgemut und mit Vorfreude auf das, was nun geschehen sollte. Ich steckte ihn in die rechte Tasche meiner Winterjacke, gab meiner Frau Irene nochmals einen Kuss und war schon unterwegs.

In Mumbai machte ich zwei Tage Zwischenstation im Hotel Empire, bescheiden, aber sauber und freundlich, über einen staubigen Straßenladen gebettet. Ein Stadtviertel, in dem ich der einzige Weiße unter einer Million Indern zu sein schien. Ich lief eine Stunde durch die Straßen und Gassen und erkannte keinen einzigen Ausländer außer mir. Das war spannend; und okay, ich wollte ja nach Indien. Aber ich war doch überrascht, wohin einen das Internet so spülen kann. Und nun bin ich – ebenfalls kurzfristig gebucht – im Süden des indischen Subkontinents in der Stadt Kottayam angekommen, im Athreya Ayurvedic Centre.

Ich gehe nochmals auf Augenkontakt mit meinem Bettgefährten. „Welche Sorge soll mich noch quälen? Immerhin habe ich vorgestern Abend dreieinhalb Stunden Fahrt auf einer zwei- bis sechsspurig befahrenen indischen Landstraße überlebt“, sage ich mir. „Naja, vielleicht mein schmerzender Rücken? Oder mein Bauchansatz?“ „Da wächst eine kleine Politikerwampe“, hat Irene zu Hause gespottet. Das kann allerdings nicht stimmen, denn ich bin jetzt ja kein Politiker mehr. Ich erfinde mich gerade neu. Und der Bauch wächst weiter. „Naja, vielleicht lass ich ihn hier in Kerala“, spreche ich mir Mut zu.

Dann gibt es da noch ein Thema, das mich zwar noch nicht quält, aber zunehmend beschäftigt. Ich habe vor drei Wochen – vier Tage vor Weihnachten – einen Buchvertrag unterschrieben und soll bis Mai liefern. Unmittelbar nach Indien werde ich mit dem Schreiben beginnen, sagt meine Planung. Vorerst will ich mich aber noch im Runterkommen und Loslassen üben. Vor allem die zwei Ferienwochen zum Jahreswechsel sollten nicht mit einer bindenden Tätigkeit belegt und auch Indien soll noch der Ruhe gewidmet sein.

Es ist wichtig, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.

„Nicht gleich in die nächste Obsession abgleiten“, habe ich mir bereits im letzten Frühjahr geschworen, als klar war, dass ich aus der Spitzenpolitik ausscheiden würde. Diese Entscheidung habe ich auch umgesetzt. Aber jetzt juckt es mich schon irgendwie in den Fingern. Gleichzeitig hat bisher die Klarheit bezüglich Gestalt und inhaltlicher Struktur des Buchvorhabens gefehlt. Es ist seltsam: Irgendwo in meinem Inneren gibt es diese Klarheit, aber ich habe sie noch nicht in eine äußere Form gebracht. Dazu bin ich noch nicht gekommen. Oder die Zeit war noch nicht reif. Auch habe ich diesen Fokus bewusst noch nicht gesetzt.

MICH BEIM NEUERFINDEN BEOBACHTEN

Mein Wecker klingelt und mahnt mich zum Aufbruch. Ich mache mich bereit für mein „Kräuterwasser-Erbrechen“, eine beeindruckende Behandlung zum Start meiner Ayurveda-Wochen: fröhliches Würgen – einmal rein, einmal raus. Wenn alles gut läuft, sollte ich in zwei Stunden erleichtert zurück im Zimmer sein.

Ich bin im Kontext der persönlichen Neufindung sehr fürs „Übergeben“, fürs Loslassen.

Es muss raus! Wir müssen uns leer machen, wenn wir neue Fülle anstreben. Also schreite ich entschlossen zu dem kleinen Häuschen im hinteren Teil des Grundstücks des Zentrums, wo es gleich losgehen wird. Das Kräuterwasser-Erbrechen, so lerne ich, wird der Höhepunkt dieser morgendlichen Anwendungen werden. Zuerst gibt es jedoch ein „Vorspiel“. Damit bin ich sehr einverstanden. Loslassen braucht liebevolle Vorbereitung, achtsame Einbettung und eben – Entschlossenheit. All das ist da.

In Sachen liebevolle Vorbereitung und achtsame Einbettung bin ich im Großen ja schon einige Monate unterwegs, wovon später noch die Rede sein wird. Im Kleinen, also im konkreten Hier und Jetzt, beginnt ein junger Mann namens Bibin um Punkt sechs Uhr mit einer Bauch- und Rückenmassage. Das tut gut. Die Schmerzen im unteren Rücken, die ich mitgebracht habe, sind zwar nicht gewaltig, aber doch so, dass sie mir zunehmend unangenehm werden.

Dort, am Ende der Wirbelsäule, hat sich in den letzten Jahren als Parteivorsitzender und Chef unserer Gruppe im Österreichischen Parlament einiges angestaut. Ich habe einen Kater, meint Dr. Sreejit, der gemeinsam mit seiner Frau das Ayurveda-Zentrum leitet. „Sie haben einen Hangover von ihren sieben Jahren in der Politik“, lautet seine Diagnose. Das empfinde ich genauso. Unter anderem deswegen bin ich ja hier – um den Kater loszuwerden; und hoffentlich auch die Rückenschmerzen. Zu meiner Freude sind sie schon am zweiten Tag etwas schwächer oder zumindest erstaunlich anders.

Ich liebe Massagen. Deshalb versuche ich, sie mir bei jeder Gelegenheit zu organisieren. Da habe ich schon einiges erlebt. Von ekstatischen Lumi-Lumi-Massagen im Hawaii-Stil über kunstfertige Thailänderinnen, die auf einem herumsteigen und mit allen möglichen Körperteilen hebeln, bis hin zur halbblinden Masseurin. Doch niemand hat mit nur einer Massage so viel Unterschied gemacht wie Bibin. Offenbar hat dieser leise lächelnde Inder „Magic Hands“. Der Schmerz wandert nach unten. Und von dort, so meine Hoffnung, ins Aus.

Direkt anschließend an die Massage folgt „Body Dhara“, ein 45-minütiger Körperguss mit warmem Kräuterwasser. Zu Bibin kommt Ashim, etwas größer, etwas breiterer Grinser, fröhlicher Oberlippenbart. Quasi ein schüchterner Skilehrer auf Indisch. Mit ihren zwei Schöpfkellen legen die beiden munter los. Als sie mich so von Kopf bis Fuß begießen, fühle ich mich plötzlich wie eine im Universum querliegende Galaxie, die mit warmem Morgentau getränkt wird. Ich treibe majestätisch durch das Nichts. Als sie sich die Beine vornehmen, bin ich eine ägyptische Sphinx, deren Vorderläufe in flüssiger Sonne baden. Als sie die Rückseite der Beine versorgen, bin ich ein chinesischer Terrakotta-Krieger, der friedvoll im warmen Sumpfbad steht. Als ich mich dann im Lotussitz aufrichte, mit einem wohligen Wasserstrom über den Schultern, bin ich ein kleiner Buddha.

Sodann werde ich auf den Bauch gedreht und muss kurz warten. Es fröstelt mich. Ich bin ein kleines, nasses Etwas. Die Bilder einer gewendeten Wasserleiche auf dem Seziertisch eines schlechten Krimis schießen mir durch den Kopf. „Sicher nicht“, sage ich mir. „Heiter weiter. Von so einem Bild lass ich mich jetzt nicht lähmen.“ Es funktioniert. Ach, wie schön, dass wir Herren unserer Gedanken sind. Zumindest immer wieder einmal.

BEHALTEN ODER LOSLASSEN?

Im Kopf ist viel los, doch nun folgt volle Konzentration. Denn es kommen ein mächtiger Krug mit Kräuterwasser und ein roter Eimer in den Raum. Innerhalb von drei Minuten nehme ich zwölf große Gläser zu mir, bis nichts mehr geht. Dann gebe ich sie in mehreren Anläufen wieder ab. Frisch geduscht und mit einem Lächeln verlasse ich zehn Minuten später den Ort der Tat.

Hinter einer verschlossenen Tür höre ich Didier ringen. Ein sympathisch und abenteuerlich wirkender Franzose, der seit 30 Jahren in der Baubranche in Afrika arbeitet und eine Lebensgefährtin in Schweden hat. Sein Job macht ihm keine Freude mehr und er ist so halb am Sprung, sich neu zu erfinden. Voll entschlossen scheint er noch nicht. Aber es gärt ganz offensichtlich in ihm. Er gießt 14 Gläser in sich hinein, kann dann aber nur zwei abgeben. Sein Vormittag ist also auf der Toilette gebucht. Loslassen ist nicht immer einfach.

Was wir – aus mitunter unerfindlichen Gründen – doch alles an Überflüssigem mit uns herumtragen!

Ich wiederum bin froh, das Prozedere problemlos absolviert zu haben. Stolz wie ein Pfau blinzle ich in die Sonne und begrüße den Tag hiermit ein zweites Mal. Wie ein junger Tropenprinz schreite ich über den gepflasterten Pfad durch die Reisfelder in mein Gästehaus.

Ein paar Minuten später stehe ich auf der Dachterrasse meiner Unterkunft, wärme mich in der Morgensonne und lasse den Blick in alle vier Richtungen schweifen. Die Szenerie kennen wir alle aus Vietnamfilmen: Reisfelder, Palmen und Laubbäume verschiedenster Art, ein paar Häuser zerstreut im saftigen Grün. Nur hier ohne Hubschrauber und sehr friedlich. Ich residiere mittendrin, die ganze Dachterrasse und den Rest der Welt für mich. „Nicht Vietnam, ich bin der Kaiser von China!“, grinse ich zufrieden. Vor mir das Tablet, das ich zu Hause verstohlen eingepackt habe, gebettet auf zwei keilartige Yoga-Sitzpölster, die auf der Terrassenmauer balancieren, steht es da wie eine Monstranz. „Das könnte ja für die nächsten zwei Wochen mein Stehtisch zum Schreiben werden“, sage ich mir und fühle mich kühn wie Ernest Hemingway.

Doch stopp. Wollte ich nicht innehalten, völlig zur Ruhe kommen und mich ganz der Kontemplation und dem Freiwerden hingeben? Wie viel Entleerung braucht gutes Loslassen?

Wie viel Entsagung braucht die Erholung? Wie viel Abschied braucht ein Neubeginn?

Diese Fragen beschäftigen mich nun schon ein Jahr. Nach dem Frühstück will ich mich ihnen nochmals widmen. Vielleicht sollte ich dazu ja auch meine schamanischen Krafttiere konsultieren? Doch erst mal geht es auf zur Morgenlabung. Die Küchenglocke von drüben ruft mich zum Essen.

DIE ZEIT IST REIF

Darf ich nun also Schreiben oder nicht? Die eindeutige Antwort nach diesem Frühstück ist: Ja. Ich sitze hier in meinem Bett mit vollumfänglicher Erlaubnis an den Tasten. Lea aus Berlin war der Meinung: „Warum nicht?“ Emily aus Australien – hier auf Zwischenstopp, bevor sie via Mongolei nach London zieht – meinte, ich könne ja einfach Notizen machen. So gehe nichts verloren. Unsere ayurvedische Ärztin, Dr. Sreejits Gattin, bei der ich zur Tagesbesprechung war, ermutigte mich ebenfalls: Das hier sei ein ruhiger Ort, hier werde die Kreativität sicherlich hervorbrechen. Ich könne mir dafür gut und gerne ein paar Stunden Zeit nehmen, möge mich davon aber nicht dominieren lassen. Auch ich selbst bin nun voll überzeugt, dass die Zeit reif ist, Form zu geben.

Die Klarheit des Inneren Ortes soll sich ab sofort auch ins Äußere übersetzen.

Davor befrage ich dazu, flach auf der Matratze liegend, noch meine schamanischen Hilfsgeister. Die Schlange sagt: „Machen!“ Der Hirsch meint lapidar: „Du hast eh schon entschieden.“ Der Hase, in meinem tierischen Trio vor allem für Nachhaltigkeit zuständig, meldet: „Freu dich doch, wenn die Kreativität sprudelt.“ Und der Wind, mein kraftvoller Weggefährte, spricht: „Lass es fließen!“

Diese Begleiter sind übrigens auch Neurekrutierungen der letzten Monate, spannende Bekanntschaften. Sie erinnern mich in ihrer Funktionalität an das „Innere Team“, ein Persönlichkeitsmodell des großartigen deutschen Psychologen Friedemann Schulz von Thun. Er gibt der Pluralität des menschlichen Innenlebens damit eine Metapher. In ambivalenten Situationen kann dieses Team aktiviert werden und rückt zur Unterstützung an. Entscheidungen werden damit leichter und klarer.

Auch mein schamanisches, inneres Team gibt nun also grünes Licht. Ich weiß jetzt außerdem nicht nur „dass“, sondern auch „was“. Denn worüber ich schreiben werde und in welcher Form, das hat sich in der letzten Nacht geklärt.

DIE KLARHEIT KOMMT IM DUNKELN

Mit der Verlagsführung war ein Selbstermutigungsbuch vereinbart. Im weitesten Sinne zum Thema „Self-Leadership“, mit autobiografischen Bezügen. Eventuell auch mit Bezügen zu meiner Verabschiedung aus der Spitzenpolitik, die viele Menschen überrascht hatte. Mehr war zu Weihnachten noch nicht definiert. Seither spuken gelegentlich Gedanken durch meinen Kopf, wie ich das Buch nun anlegen möchte und was der Inhalt sein könnte. Mit heute Nacht war plötzlich klar: „Es geht um die Grammatik der persönlichen Neuerfindung. Völlig offensichtlich und eindeutig.“ Wieso war mir das vorher nicht klar? Und wie komme ich zu dieser thematischen Festlegung?

Alle Menschen, die ich in den letzten zwei Tagen hier im Ayurveda Center getroffen habe – auch wenn ich noch nicht alle 25 „Mitbewohner“ kenne –, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind in einem Übergang, an einer Zäsur ihrer Biografie, am Ende eines Lebenskapitels. Also auch an einem Anfang. Didier offenbarte mir gestern Abend, dass ihm nicht nur der Job keine Freude mehr mache, sondern auch die Beziehung mit seiner schwedischen Lebensgefährtin rund um den Jahreswechsel grob ins Wanken kam. Lea aus Norddeutschland hatte noch vor ihrer Abfahrt ihren Job als Produktmanagerin in der Pharmabranche gekündigt. Von Emily, der australischen Krankenschwester, haben wir schon gehört, dass sie sich aus ihrem Heimatland in Richtung Großbritannien verabschiedet. Absara, meine indischstämmige Zimmernachbarin, die in Kenia aufgewachsen ist und nun in Kanada lebt, braucht ein „Rundum-Service“.

„Ich muss was ändern, sonst werde ich krank“, habe sie ihrem Mann gesagt, bevor sie ihre Reise buchte.

Sie wiegt rund 15 Kilo zu viel und soll die Kinder an ihrer kanadischen Schule in gesunder Lebensführung unterrichten. „In den Pausen stehle ich mich raus und rauche eine Zigarette, trinke eine Cola und esse einen Schokoriegel. Ich kann so nicht mehr weitermachen!“

All diese Erzählungen waberten mir gestern Abend durch den Kopf. Natürlich ist es naheliegend, dass in einem Ayurveda-Zentrum viele Menschen mit Aufbruchsgedanken zugange sind. Aber die Intensität der Geschichten, alle innerhalb von 24 Stunden auf mich einströmend, war dann doch heftig. „Ein klarer Fall von Synchronizität“, musste ich grinsen, als ich mich dem Schlaf überantwortete. Ich wusste, dass mir diese seltsame Häufung etwas bedeuten sollte und es in dieser Nacht in mir gären würde. Den Rest besorgte tatsächlich die Dunkelheit.

Am Morgen ist es nun offensichtlich: Mein Buch soll eines sein, das Lea, Emily, Absara und Didier gerne lesen würden, das ihnen die eine oder andere Inspiration und Hilfestellung geben soll. „Da draußen gibt es Millionen von Menschen, die auch im Umbruch sind, ebenfalls drauf und dran, sich neu zu erfinden“, sage ich mir halblaut. Wir alle kommen im Laufe der Zeit immer wieder an den Punkt, wo der Gang oder die Verwerfungen des Lebens uns zur Neuerfindung einladen oder zwingen. Es ist oft ein wildes Ringen, mit sich selbst und seiner Umgebung, mit Gott – so man einen hat – und der Welt. Ich bin nun selbst länger als ein Jahr sehr intensiv durch so einen Prozess gegangen. Es war keine einfache Zeit, weder für mich noch für meine Umgebung. Aber sie war spannend und tat und tut mir Gutes.

MEINER BERUFUNG FOLGEN

„In transition“, so lautete meine Antwort in den Gesprächen am ersten Abend hier in Athreya, wenn ich gefragt wurde, was ich mache. Ja, ich bin im Übergang. Ich war zwölf Jahre Unternehmer im Bereich der systemischen Organisationsentwicklung und begleitete dabei als Facilitator und Coach sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen und Non-Profit-Organisationen in Wachstums- und Veränderungsprozessen. Sodann folgte ich dem Ruf meines Herzens und gründete mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die politische Bewegung „NEOS – Das neue Österreich“. Wir führten sie nach nur eineinhalb Jahren, im Herbst 2013, ins Österreichische Parlament und nach weiteren acht Monaten auch ins Europäische Parlament.

2017 wurden wir, weiter gestärkt, wieder ins nationale Parlament gewählt, und ich ging in eine zweite Runde als Vorsitzender unserer parlamentarischen Gruppe. Einige Monate nach der Wahl wurde mir klar, dass meine Berufung nun erfüllt war. Ich sollte und wollte gemeinsam mit anderen beherzten Menschen unserer Republik von fast neun Millionen Menschen eine neue politische Kraft der Mitte stiften. Das hatte es dringend gebraucht. Nach sieben Jahrzehnten eines Machtkartells zwischen den konservativen und sozialdemokratischen Kräften hatte dieses Arrangement, das dem Land über viele Jahre sehr gute Dienste geleistet hatte, all seine Kraft und Lebendigkeit verloren. Stillstand, strukturelle Korruption und systemische Verkrustung lasteten schwer auf meiner Heimat. Das galt es aufzubrechen.

Mit unserem zweiten Einzug ins Parlament und weiteren Regionalwahlen, die bis hin zum Eintritt in die Salzburger Landesregierung sehr gut liefen, waren wir nun als nachhaltiger Faktor im politischen Getriebe Österreichs etabliert. Meine Mission war erfüllt. Jetzt weiterzumachen, war natürlich verlockend. Vor allem für mein Ego. Da gab es zahlreiche Verführungen – beispielsweise einen spürbaren Aufwind in den Umfragen und an den Wahlurnen, einen gut bezahlten Job als Fraktionsführer im Parlament, erstmals seit Jahren auch viel öffentliche Anerkennung für die gute Performance unserer Bewegung. Aber all das, so wurde mir bewusst, waren keine Gründe, die meinen Inneren Ort, von dem aus ich meine Lebensentscheidungen treffe, beeindrucken würden.

„Ist es wichtig? Ist es richtig?“ Das sind meine zwei Kontrollfragen, die immer auf Grün stehen müssen, sonst strebe ich Veränderung an.

Natürlich darf eine Ampel auch einmal flackern oder für ein paar Tage auf Orange blinken. Aber nun stand die Ampel zunehmend auf Rot. Die Aufgabe war weiterhin wichtig. Unser Gemeinwesen und unser politisches System brauchten diesen Innovationsschub durch unsere Bewegung und sie würden ihn auch in den nächsten Jahren brauchen. Mit dem Antritt einer konservativ-rechtspopulistischen Regierung kamen für uns als Oppositionsfraktion sogar zusätzliche Aufgaben hinzu, vor allem die der Hüterin der liberalen Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit.

Auch dass unsere Bewegung eine starke und entschlossene Führung brauchte, stand außer Streit. Doch die Frage, ob ich der Richtige in der Führungsrolle für die nächste Wachstumsetappe sein würde, war für mich nicht mehr eindeutig mit Ja zu beantworten. Dabei saß ich doch so sicher und strahlend im Sattel. Gerade erst zu Beginn des Jahres war ich bei einem großen Konvent mit 99 Prozent der anwesenden Mitgliederstimmen als Parteichef bestätigt worden. Doch durch den Tapetenwechsel und in der Ruhe der Weihnachtsfeiertage wurde mir klar, dass es nicht richtig wäre, zu klammern.

Für die Familie hatten sich die Zumutungen in den letzten Jahren gehäuft; die Vereinbarkeit von Familie mit Spitzenpolitik ist eine stete Gratwanderung.

Vor allem war für mich erstmals eine gute personelle Alternative für die Parteiführung sichtbar. Meine Stellvertreterin hatte an Reife gewonnen. Des Öfteren hatte ich in internen Führungszirkeln angekündigt, dass ich dann übergeben würde, wenn ich jemanden sähe, der oder die es gleich gut oder besser machen könnte als ich. Dieser „reife Zeitpunkt“, um die geordnete Übergabe anzugehen, war nun gekommen.

Ich beschäftigte mich intensiver als bisher mit Literatur über Gründer. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass rund drei von vier Gründern in der Wirtschaft zu lange bleiben. Zu viele mutieren irgendwann zu einem alles überwuchernden und kontrollierenden Patriarchen. Für die Politik würde ich den Wert in ähnlicher Größenordnung ansetzen. Vielen politischen Gründern muss der Stuhl vor die Tür gestellt werden. Sie müssen – weit jenseits des Höhepunkts ihres Wirkens – gegen ihren Willen gegangen werden. Sie lassen einfach keine andere Variante zu. Sie übersehen den stimmigen Zeitpunkt für eine Übergabe. Irgendwann wird das Ego so groß, dass es für das gemeinsame Ganze mehr verunmöglicht als ermöglicht. Es braucht so viel Platz auf der Bühne, dass daneben für Neues zu wenig Luft zum Atmen ist.

Der Schatten, den diese „Unersetzlichen“ werfen, ist so breit, dass darunter die vitale Selbstentfaltung von Organisationen leidet.

Ich nenne es das „Starke-alte-Männer-Syndrom“: Sie halten sich für kaum ersetzbar, sie sehen für sich persönlich keine attraktiven Alternativen, sie klammern sich an ihr Lebenswerk und ihr Ego.

Diese Krankheit wollte ich nie bekommen, das habe ich mir bereits zu Beginn meiner politischen Gründungsaktivitäten geschworen. Nun war es an der Zeit, das Versprechen einzulösen.

MANCHMAL TUT ES WEH

Die Umsetzung einer planvollen Übergabe war eine logistische Großaufgabe. Vor allem war es wichtig, das Vorhaben generalstabsmäßig vorzubereiten. Das brachte mit sich, dass die Kommandoaktion vorerst geheim bleiben musste. Im Sinne des großen Ganzen und für mich persönlich war es ein Anliegen, bis zum letzten Tag der zweistufigen Übergabe – im Sommer in der Partei, im Herbst im Parlament – das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Ich wollte in dieser kritischen Phase der Pilot und nicht ohnmächtiger Passagier sein. Das erschien mir zur Würdigung und Wahrung jener gemeinsamen Aufbauarbeit, die wir in den letzten sieben Jahren geleistet hatten, wichtig. Eine Übergabe im Chaos hätte vieles davon beschädigt. Angesichts der anstehenden Herausforderungen im Parlament war es für das Land wichtig, dass die Bewegung aus diesem Schritt Schwung mitnehmen und nicht geschwächt werden würde.