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INHALT

Einleitung

TEIL I:

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DIE NEUE UNÜBERSICHTLICHKEIT

Europas böses Erwachen: Die Wiederkehr von Geografie und Geschichte als Triebkräfte der Politik

1979 – vom Annus Gravis

… zum Annus Mirabilis – 1989

Der Balkan – europäischer Brennpunkt seit rund 150 Jahren

Die Türkei – auf dem Weg in den Nahen Osten?

Ein neuer „Kalter Krieg“ mit Russland?

Naher und Mittlerer Osten – nirgendwo brennt der Ring of Fire so intensiv wie hier

Die Vereinigten Staaten von Amerika: vom benevolenten Hegemon zur unberechenbaren Macht?

Das europäische Projekt in existentieller Gefahr: Die hausgemachten Probleme der EU

Die europäische Integration – eine Geschichte von Fortschritt und Rückschlägen

Vormoderne, moderne und postmoderne Staaten – die neue Welt(un)ordnung

Deutschland als unfreiwilliger Hegemon?

Der Euro – oder: die Politik des “muddling through”

Demokratiedefizit – ein Vorwurf, der die europäische Integration seit Anbeginn begleitet

Die Flüchtlingskrise als Spaltpilz der EU?

Der Brexit als Weckruf

Nationalismus und reaktionärer Populismus

Die Welt im Wandel: Europa und die großen globalen Herausforderungen

Im Zeitalter des Anthropozän

Der Mensch heizt die Erde auf: die globale Erwärmung

Der Hunger nach Rohstoffen und die knapper werdenden Ressourcen

Umweltverschmutzung als eines der größten Risiken für die Menschheit

Wachsende, alternde und schrumpfende Bevölkerungen

Mobiler, urbaner, ungleicher: die Gesellschaften im Wandel

Neue Technologien und ihre Folgen

Wirtschaftlicher Wandel: Transformation oder Disruption?

Die letzte Konsequenz: Flucht und Migration

TEIL II

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EUROPA ZWISCHEN MYTHOS UND UTOPIE

Das Ende der großen Erzählungen und die Erschöpfung utopischer Energien

„Das erste Zeitalter war das goldene“

Die Erfindung der Zukunft

Das neue Denken

Die Utopie als Projekt der Moderne

Der zerstörte Traum

Vom Mythos zur Weltmacht (und zurück): Europas Vergangenheit und Gegenwart

Mythos Europa

Vom Mythos zur Weltmacht

Die Europäisierung der Welt

Der Abstieg Europas und der Aufstieg der anderen

TEIL III

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PERSPEKTIVEN FÜR EUROPA

Die Neuerfindung Europas

Die Macht der Zahlen

Nur gemeinsam ist Europa stark

Sieben Thesen zur Zukunft Europas

Die Pflicht zur Zuversicht

Anmerkungen

Literatur

Abbildungsnachweis

Für unsere Lieben,
denen wir – wie dem Rest der Welt – eine Zukunft in Frieden und Freiheit wünschen

EINLEITUNG

„Auch in schwierigen Zeiten gibt es
eine gewisse Pflicht zur Zuversicht.“

IMMANUEL KANT

“United we stand, divided we fall.”

DONALD TUSK

„Nur gemeinsam ist Europa stark.“

HANNES ANDROSCH

Bereits Mitte der 1980er-Jahre konstatierte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas angesichts der globalen Entwicklungen in einer zunehmend vernetzten Welt eine neue Unübersichtlichkeit sowie die Erschöpfung utopischer Energien.1 Mehr als 30 Jahre später hat die Komplexität unserer Welt noch weiter zugenommen und ist zudem fixer Bestandteil unseres Alltags. In gleichem Ausmaß aber, wie die Unübersichtlichkeit größer geworden ist, hat die Bedeutung utopischer Entwürfe und großer, visionärer Erzählungen abgenommen.

Dabei hatte es wenige Jahre nach Habermas‘ Feststellung ganz anders ausgesehen. Schon unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Rede vom „Ende der Geschichte“2. Euphorischer Optimismus machte sich breit, der die hegemoniale Dichotomie zwischen Ost und West für endgültig überwunden erklärte und davon überzeugt war, dass sich die Prinzipien des Liberalismus und damit auch Demokratie und Marktwirtschaft ein für allemal global durchsetzen würden. Die Vorstellung einer geeinten, freien und demokratischen Welt unter dem alleinigen Führungsanspruch der USA – sowohl in wirtschaftlicher wie in militärischer Hinsicht – hatte Hochkonjunktur. Inzwischen ist von dieser optimistischen Perspektive nur wenig übrig, und der Rückblick zeigt, dass sie schon damals global betrachtet bei Weitem nicht so attraktiv war, wie im Westen vermutet.3

Das heute vor allem in westlichen Gesellschaften4 dominierende Unbehagen speist sich aus einer unübersichtlich gewordenen Welt, einer aufgewühlten und aus den Angeln geratenen Welt voller Umbrüche und Umwälzungen. Unsere Gegenwart ist gekennzeichnet durch Umweltverschmutzung und Klimawandel, durch explosives Bevölkerungswachstum einerseits und schrumpfende, alternde Gesellschaften andererseits, durch ungelöste Probleme der Weltwirtschaft und des Finanzwesens, und nicht zuletzt durch eine Vielzahl an Kriegen und Konflikten, die nicht lösbar erscheinen. Unsere Zeit ist aber auch gekennzeichnet durch eine unvergleichliche Verbesserung des Lebensstandards großer Teile der Menschheit sowie bis dato ungeahnte Chancen, die der wissenschaftliche, medizinische und technologische Fortschritt eröffnet. Diese Paradoxie des Fortschritts hat dazu geführt, dass tiefgreifende Veränderungen an der Tagesordnung und alte Gewissheiten brüchig geworden sind. Gleichzeitig greifen einfache Lösungsansätze nicht mehr.

Die Erfolge im Bereich von Medizin, Hygiene und Nahrungsmittelversorgung haben zu einem beispiellosen Bevölkerungswachstum geführt. Lebten im Jahr 1500 rund 500 Millionen und um 1800 rund eine Milliarde Menschen auf der Erde, sind es heute bereits mehr als sieben Milliarden. Die UNO geht davon aus, dass bis zum Jahr 2030 jährlich rund 83 Millionen Menschen geboren werden. Aufgrund der gleichzeitig steigenden Lebenserwartung werden laut UN-Prognosen bis 2050 rund 9,7 Milliarden und bis 2100 sogar über elf Milliarden Menschen auf der Erde leben. Das bleibt nicht ohne Folgen, denn eine wachsende Weltbevölkerung erhöht den Druck auf die ohnehin bereits knappen Ressourcen wie Wasser, Nahrung oder Energie und befeuert zudem den Klimawandel und die Umweltverschmutzung. Doch auch der Flächendruck steigt, denn eine wachsende Bevölkerung benötigt mehr Siedlungsraum sowie Acker- und Weideland.

Umweltverschmutzung, Klimawandel und die Ausbeutung von Ressourcen haben allerdings bereits heute so dramatische Ausmaße angenommen, dass einige Wissenschaftler von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, sprechen – und damit den homo sapiens mit einer globalen Naturkatastrophe gleichsetzen. Die Auswirkungen der anthropogenen, d.h. vom Menschen verursachten Eingriffe in die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde sind bereits so groß, dass dadurch – sofern nicht bald ein konsequentes Gegensteuern der Staatengemeinschaft erfolgt – selbst konservativen Einschätzungen zufolge alle Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zunichte gemacht werden könnten.

Nach ihrem Ausbruch 2008 bewirkte die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise über Jahre hinweg ein niedriges Wirtschaftswachstum und förderte dadurch die Instabilität in vielen Regionen – vor allem auch in wohlhabenden Ländern. Zudem vergrößerte sich die Kluft zwischen Arm und Reich: Die soziale Ungleichheit hat sich im letzten Jahrzehnt weltweit verschärft – nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Staaten – und befeuert damit zusätzlich gesellschaftliche Spannungen. Die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft – mit weitreichenden, in ihrem tatsächlichen Ausmaß noch gar nicht absehbaren Veränderungen der Arbeitsprozesse –, steigende Qualifikationsanforderungen sowie die Globalisierung der Arbeits- und Kapitalmärkte werden diesen Trend weiter beschleunigen. Denn der technologische Wandel – Stichwort Digitalisierung – und die Vierte Industrielle Revolution treiben einen fundamentalen Transformationsprozess von Wirtschaft und Gesellschaft an, der einerseits bislang ungeahnte Chancen und Möglichkeiten eröffnet, andererseits aber auch Risiken birgt, die bis dato nicht abschätzbar sind. Nimmt man das Voranschreiten der Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche als gegeben an, so wird es eine systematische Auseinandersetzung mit der Frage geben müssen, wie Produktionsbedingungen, Arbeitswelt und Gesellschaft gestaltet werden sollen und können, um die Chancen zu nutzen und die Risiken zu minimieren.

Diese Umbrüche und Umwälzungen sind ein Resultat der wissenschaftlichen und industriellen Revolution, die nach der neolithischen Revolution und der Erfindung des Ackerbaus vor rund 10.000 Jahren die zweite große Zäsur der Menschheitsgeschichte darstellte. Durch den Ersatz der Muskelkraft durch Maschinen und die damit angestoßenen Möglichkeiten des Industriezeitalters begann eine einzigartige Entwicklung, die zu unvergleichlichem Wirtschaftswachstum und Wohlstandszuwachs geführt hat. Mit den rezenten wissenschaftlichen Erfolgen und technologischen Innovationen befinden wir uns nun aber in einer neuen Revolution – der digitalen –, die unsere Art zu leben und zu arbeiten grundlegend verändern wird. Das transformative und disruptive Potential dieses technologischen Wandels ist so weitreichend, dass es nicht nur unsere gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen grundlegend verändern, sondern den homo sapiens selbst revolutionieren könnte.5 Die digitale Revolution birgt das Potential einer Epochenwende. Mit ihr steht die Menschheit nach dem erst kürzlich erfolgten Übergang vom Holozän ins Anthropozän nun vor dem Eintritt in das digitale Zeitalter.

Und auch die geopolitischen Veränderungen durch die Erosion der globalen Nachkriegsordnung stellen die Staatengemeinschaft fast täglich vor neue Schwierigkeiten.6 Das absehbare Ende der monopolaren Hegemonie der USA ließ in vielen Weltregionen hybride Kriege und terroristische Aktivitäten aufflammen, die zu einer neuen WeltUNordnung führten und damit zu einer massiven Verunsicherung, mancherorts gar zur Destabilisierung ganzer Gesellschaften.

All diese Entwicklungen bewirken unter anderem eine dramatische Zunahme weltweiter Migrationsbewegungen. Allein im Jahr 2015 wurden aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen mehr als 20 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben. Die Zahl der Menschen auf der Flucht war mit insgesamt über 65 Millionen so hoch wie nie zuvor. Es sind allerdings eher wirtschaftliche Perspektivenlosigkeit, politische Instabilität, soziale Ungleichheit oder die Auswirkungen von Umweltverschmutzung und Klimawandel, die Menschen dazu motivieren, ihre Heimatländer zu verlassen. Schätzungen zufolge lebten 2015 rund 250 Millionen Menschen in Ländern, in denen sie nicht geboren wurden – Tendenz: stark steigend.

Europa7 ist in besonderer Weise mit den Auswirkungen dieser neuen Weltunordnung und der daraus resultierenden sogenannten „Flüchtlingskrise“8 konfrontiert, liegt es doch in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem Krisenbogen an Instabilität, der sich von der Ukraine und den Konfliktregionen im Kaukasus über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Nordafrika zieht.

Das sind nur einige Stichworte zu den Themen, die über die Medien täglich verbreitet werden und den Blick auf die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägen. Unter der Mannigfaltigkeit der Ereignisse droht dieser Blick bisweilen trüb zu werden. Dies spiegelt sich in den öffentlichen Diskursen, die häufig den Eindruck vermitteln, als würde die Vielzahl an Informationen eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen. Vor allem in Europa scheinen die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen diesen Trends keine ausreichende Aufmerksamkeit zu schenken. Während etwa China ganz konkrete Ziele formuliert und auch Schritte zu deren Realisierung setzt, überwog hier bis vor Kurzem noch die Ansicht, dass der Status quo ohne nennenswerte Anstrengungen, Reformen oder Innovationen überdauern würde. Die Nachkriegsordnung und ihre Errungenschaften schienen selbstverständlich, gar unverwüstlich. Selbst nach Hereinbrechen der neuen Unübersichtlichkeit reagierte Europa kaum oder zu zögerlich auf die geopolitischen Umbrüche an seinen Rändern und war mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise hoffnungslos überfordert.

Doch es sind nicht nur die skizzierten Veränderungen und die Zunahme der Unübersichtlichkeit seit dem Ende des Kalten Krieges sowie das langsame Abklingen der damals weit verbreiteten Hoffnung auf das Ende der Geschichte, die Europa zu schaffen machen. Gleichzeitig macht sich in der EU, aber auch in anderen Industriestaaten eine Erschöpfung utopischer Energien bemerkbar. Die Stimmungslage in den meisten westlichen Ländern verschlechtert sich seit Jahren. Dies kommt nicht zuletzt im Aufstieg populistischer Politik in vielen Ländern der EU, im Brexit-Votum der Briten oder der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA zum Ausdruck.

Trotz der Errungenschaften der Wissenschaften, einer verbesserten medizinischen Versorgung, einer nie dagewesenen Ernährungssicherheit, gut ausgebauter Wohlfahrtsstaaten vor allem in Europa und einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung wird in einer Vielzahl von Staaten die öffentliche Diskussion von Krisenrhetorik und düsteren Zukunftsszenarien dominiert. Die Liste der Verwerfungen scheint dabei unaufhaltsam länger zu werden.

Gerade in der EU, die die längste Friedensperiode in der Geschichte ihrer Mitgliedstaaten erlebt und in der die meisten Menschen im Vergleich zu anderen Teilen der Welt einen relativ hohen Lebensstandard genießen, scheinen die positiven Errungenschaften als selbstverständlich genommen zu werden, während Probleme und Herausforderungen, die gemeinschaftlich durchaus lösbar wären, zu Katastrophen hochstilisiert werden. Europaskepsis macht sich in allen Mitgliedstaaten breit; in manchen ist sie bereits in Europafeindlichkeit umgeschlagen.

Dabei hat die Europäische Union nach den Erfahrungen zweier Weltkriege als große Utopie begonnen: Die europäischen Gründungsväter verfolgten das visionäre Ziel der Überwindung des Nationalismus, der die internationale Staatengemeinschaft zweimal in den Abgrund gestürzt und die globale Dominanz Europas zunichte gemacht hatte. Nach der vom US-amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan so bezeichneten Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges und seiner apokalyptischen Fortsetzung im Zweiten Weltkrieg hat Europa seine dominierende Rolle in der Welt faktisch völlig eingebüßt. Die Utopie eines geeinten, von Nationalismen befreiten Kontinents konnte aus den unmittelbaren Kriegserfahrungen große visionäre Kraft erzeugen.

Zwar gab es schon in der Anfangszeit immer wieder Rückschläge, aber die Idee des europäischen Friedensprojekts, später des gemeinsamen Binnenmarkts oder der Reisefreiheit hatten ausstreichend Strahlkraft, um immer wieder neue Aufbrüche zu ermöglichen. Heute fehlt eine große, begeisternde Erzählung, ein neuer emotionaler Zugang zu Europa ist daher essentiell. Weitsichtig hatte der langjährige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, einst betont: „[Man] verliebt sich nicht in einen großen Binnenmarkt.“9

Eine solche Erzählung könnte sich nicht mehr wie in der Nachkriegszeit ausschließlich auf die Vergangenheit beziehen, sondern müsste vielmehr die großen Herausforderungen der Welt im 21. Jahrhundert adressieren, die kein einzelnes Mitgliedsland allein lösen kann. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie Europa im Zeitalter der Globalisierung seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und neben den USA, China, Indien und Russland als global agierender Partner im Quintett der Weltmächte seine Interessen vertreten kann.

Ohne ein gemeinsames Ziel, ja eine neue europäische Vision wird dies jedenfalls nicht gelingen. Ein geeintes Europa kann die anstehenden Probleme und Herausforderungen besser und effizienter lösen, als dies auf nationalstaatlicher Ebene der Fall wäre. Es ist daher hoch an der Zeit, Europa neu zu denken.

Dabei wird man bei aller Zukunftsorientierung nicht auf die zentralen Errungenschaften und Werte Europas – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder ökologische Nachhaltigkeit – verzichten können. Vor allem aber wird ein neu gedachtes Europa auf eine Neubewertung des europäischen Bildungsideals zurückgreifen müssen. Denn Bildung war und ist – in besonderem Ausmaß seit der Renaissance und der Aufklärung – ein wesentlicher Aspekt Europas. Die Institutionalisierung der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden hat zur Herausbildung von Universitäten geführt, die „eine, ja die europäische Institution par excellence10 darstellen und in der Folge eine zentrale Rolle bei der wissenschaftlichen und der industriellen Revolution spielten. In Zeiten erhöhter Unsicherheit und Unübersichtlichkeit können durch Bildung Kreativität und Innovationen gefördert und neue Lösungsansätze entwickelt werden.

Dieses Buch nimmt eine bewusst eurozentristische Perspektive ein. Es fokussiert auf die notwendige Erneuerung Europas und versteht sich als Diskussionsbeitrag zu der längst fälligen Zukunftsdebatte, die von dem am 1. März 2017 von der EU-Kommission vorgelegten White Paper on the Future of Europe angestoßen wurde. Dort werden fünf Szenarien zur zukünftigen Ausgestaltung des europäischen Projekts skizziert, die von einer Reduktion der EU auf einen gemeinsamen Binnenmarkt bis hin zu einer weitreichenden Integration bzw. politischen Union reichen.11

Der vorliegende Text versucht, einige Streiflichter auf die mittel- und langfristigen Veränderungen, soweit sie heute absehbar sind, und die drängendsten Herausforderungen zu werfen, um in der Folge mögliche Konsequenzen aufzuzeigen, die aufgrund der Unübersichtlichkeit der Welt und der hausgemachten Probleme der EU nach Ansicht der Autoren zu ziehen wären. Dabei gibt es naturgemäß keine einfachen Antworten auf die komplexen Fragestellungen, die uns heute beschäftigen. Vielmehr geht es darum, ein grundsätzliches Nachdenken über die schnellen und vielfältigen Veränderungen anzuregen, die die moderne Welt charakterisieren, und mögliche Lösungsansätze zu skizzieren. Es muss nicht eigens betont werden, dass Zukunftsprognosen de facto unmöglich sind. Möglich ist hingegen, die Rahmenbedingungen für ein strategisches Nachdenken über potenzielle Zukünfte und die daraus resultierenden Implikationen für unser heutiges Handeln zu definieren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger will dieses Buch erreichen.

Gegliedert ist es in drei Teile. Der erste Teil ist eine umfassende Bestandsaufnahme der Verfasstheit der Gegenwart, wobei es uns um die longue durée, die lange Zeitlinie, oder anders formuliert: um die Entwicklungen hinter den Entwicklungen ging. Diese nämlich brachten jene globalen und geopolitischen Umbrüche, die zur Unübersichtlichkeit unserer Welt führten. Die daraus resultierenden Herausforderungen verlangen ein ebenso visionäres wie geschlossenes Agieren der Europäischen Union. In der Realität erleben wir jedoch – auch aufgrund gravierender hausgemachter Probleme der EU, die das europäische Projekt substantiell gefährden – genau gegenteilige Tendenzen: Wo die europäische Einheit und weitsichtige Strategien für die Lösung der großen Herausforderungen im Kontext der neuen Unübersichtlichkeit und der sich ausbreitenden Weltunordnung geboten wären, feiern nationalstaatliches Denken und Handeln sowie geschichts- und zukunftsvergessene Visionslosigkeit ein unerwartetes Comeback.

Der zweite Teil geht daher zunächst der ideengeschichtlich motivierten Frage nach, wie sich in der europäischen Geschichte utopische Zukunftsvisionen herausgebildet und danach ein neues, fortschrittsoptimistisches Denken mit all seinen Konsequenzen – Stichwort: wissenschaftlich-industrielle Revolution – befeuert haben, dessen Strahlkraft mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts an ein Ende gelangt zu sein scheint. Heute schüren populistische Parteien die Sehnsucht nach einer mythisch-verklärten Vergangenheit der Nationalstaaten, die in dieser Form nie wirklich existiert haben. Doch der Mythos der Nation entfaltet nach wie vor starke Faszination.

Ein Mythos stand auch am Beginn der europäischen Entwicklung. Der bekannten Darstellung Ovids im zweiten Buch seiner Metamorphosen zufolge raubte der griechische Gott Zeus die schöne Königstochter Europa in Kleinasien und brachte sie nach Kreta, wo sie die europäische Zivilisation begründete. Der Mythos korrespondiert mit der tatsächlichen Entwicklung, denn die ersten europäischen Hochkulturen, die zumindest bis zum Ende des Imperium romanum mediterrane Kulturen waren, standen tatsächlich lange unter dem Einfluss Asiens oder entwickelten sich aus der (kulturellen) Auseinandersetzung mit den dortigen Reichen. Der Weg Europas vom Mythos zur Weltmacht wird hier im Überblick nachgezeichnet. Dabei fungierte das seit der Renaissance und der Aufklärung entstandene neue Denken als wesentliche Grundlage für die europäische Expansion, die schließlich zur weltweiten Dominanz Europas führte. Diese weltweite Vormachtstellung hatte Europa jedoch spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig eingebüßt.

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung im Jahr 1989 waren die USA die einzige Weltmacht mit globaler Reichweite; es war ihr „unipolarer Moment“. Inzwischen aber droht die Pax americana und die auf ihr basierende liberale Ordnung aufgrund der geopolitischen Umbrüche in eine neue Weltunordnung überzugehen. Dies bedeutet auch für Europa ein zunehmendes Sicherheitsrisiko, nicht zuletzt wegen der skizzierten Konfliktherde in seiner Nachbarschaft. Die einzelnen europäischen Nationalstaaten stehen diesen Entwicklungen fast gänzlich machtlos gegenüber. Mit dem Ringen der USA und Chinas um die Vormachtstellung in der Welt wird die Situation noch zusätzlich verschärft. Aus einer globalen Perspektive droht den europäischen Nationalstaaten angesichts dieser Trends eine Rückkehr in die Bedeutungslosigkeit.

Einen Ausweg gibt es – so wird im dritten und letzten Teil argumentiert – lediglich über ein starkes und geschlossen agierendes Europa. In sieben Thesen zur Zukunft der Europäischen Union werden mögliche Perspektiven für die Erneuerung des europäischen Projekts präsentiert, deren Stoßrichtung auf eine Weiterentwicklung der EU zu einer Art „Vereinigte Staaten von Europa“ sowie zur Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationsunion abzielt.

TEIL I:

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DIE NEUE UNÜBERSICHTLICHKEIT

Europas böses Erwachen: Die Wiederkehr von Geografie und Geschichte als Triebkräfte der Politik

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“In a sense, the past is still with us.”

ROBERT COOPER

„Ja, es umgibt uns eine neue Welt.“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

„Es mag Jahre dauern, bis politische Missgriffe offenkundig werden und ihre letzten Konsequenzen tragen, dann aber legt die Geschichte Rechnung vor für jeden Fehler, und sie nimmt es dabei sehr genau.“

OTTO VON BISMARCK

Im Vorfeld des Jubiläumsgipfels zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge12 richtete EU-Präsident Donald Tusk Ende Januar 2017 ein Schreiben an die 27 Staats- und Regierungschefs, in dem er warnte, dass die Europäische Union aktuell „vor den gefährlichsten Herausforderungen seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge“ stehe. Konkret nannte er drei Bedrohungen, die es zuvor nicht gegeben habe, zumindest nicht in diesem Ausmaß:

„Die erste Bedrohung ist externer Art und steht im Zusammenhang mit der neuen geopolitischen Lage auf der Welt und in der Nachbarschaft Europas (von China über Russland, den Nahen Osten und Afrika bis zur neuen Präsidentschaft in den USA) […].

Die zweite Bedrohung ist interner Art und steht im Zusammenhang mit der Zunahme der europafeindlichen, nationalistischen, zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung in der EU selbst […] Die Dritte Bedrohung ist die Geisteshaltung der pro-europäischen Eliten [und] das schwindende Vertrauen in die politische Integration […].“13

Ungewöhnlich war dabei, dass Tusk neben der aggressiven Politik Russlands und Chinas sowie der Bedrohung durch radikale Islamisten auch die neue amerikanische Regierung unter Donald Trump zu den größten außenpolitischen Risiken zählte und damit Europas bisher wichtigsten Verbündeten, die USA, als Unsicherheitsfaktor definierte. Die Weltordnung, die sich seit Ende des Kalten Krieges etabliert hatte, scheint Geschichte zu sein.

Dabei hatte es so gut begonnen, im Jahr 1989, dem Annus Mirabilis, als der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen und sich jene bipolare Welt auflöste, die seit den späten 1940er-Jahren Europa in zwei Hälften geteilt und das Denken beider Seiten anhand der schematischen Kategorien „Gut“ und „Böse“ geprägt hatte. Der Westen – so die (zumindest dieserorts) weitverbreitete Meinung – konnte die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Modell marxistisch-leninistisch-stalinistischer Prägung sowohl aufgrund wirtschaftlicher und militärischer, vor allem aber auch moralischer Überlegenheit für sich entscheiden. Entsprechend groß war daher auch die Euphorie, und so manchem schien mit dem Sieg von Demokratie und freier Marktwirtschaft sogar das „Ende der Geschichte“14 gekommen. Übersehen wurde vielfach, dass die osteuropäischen Völker es als ihren Sieg betrachteten, waren es doch sie gewesen, die in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen waren und die kommunistischen Regime gestürzt hatten. Die Inanspruchnahme des Sieges durch den Westen hat deshalb durchaus Verärgerung ausgelöst. Einig war man sich jedoch in der Hoffnung, dass mit der Implosion der Sowjetunion die Kriegsgefahr – zumindest in Europa – gebannt sei, und selbst der nur kurze Zeit später, im Sommer 1991 ausbrechende Zerfallskrieg Jugoslawiens konnte diese Erwartung nicht zerstören.

Rund 25 Jahre später ist diese Euphorie Ernüchterung und herber Enttäuschung gewichen. Wovor die Europäer, aber auch die Amerikaner, so lange ihre Augen verschlossen hatten, traf sie spätestens 2013 mit dem Aufflammen der Ukraine-Krise und der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim-Halbinsel durch Russland im Februar 2014 mit umso größerer Wucht: die Erkenntnis nämlich, dass unter Rückgriff auf historische Begründungen die Geopolitik und mit ihr auch der Krieg als Mittel zum Zweck nach Europa zurückgekehrt sind. Zudem mussten sie erkennen, dass die Annahme, die Entwicklung nach 1989 müsste zwangsläufig zur globalen Durchsetzung von Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft führen, nicht nur naiv, sondern auch überheblich war. Inzwischen gibt es selbst im Westen Bewegungen, die diese politischen und wirtschaftlichen Ordnungsmodelle und die ihnen zugrundeliegenden Werte ablehnen.

Doch warum ließen sich die Hoffnungen von 1989 nicht realisieren? Was war schiefgelaufen in der Zeit zwischen 11/9, dem Datum des Mauerfalls, dann 9/11, dem Terrorangriff in New York und Washington, und schließlich 9/15, dem Tag der Lehmann-Pleite und dem Beginn der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts? Warum steht Europa etwas mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges vor einer Situation, die in letzter Konsequenz auch das Scheitern der Europäischen Union bedeuten könnte? Es lohnt sich der Blick zurück in die Geschichte

1979 – vom Annus Gravis

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die politische Realität zu entziffern:15 Man kann seine Aufmerksamkeit der kurzen Zeitlinie der Tagespolitik bzw. den je aktuellen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen widmen. Oder man beobachtet die mittlere Zeitlinie, die zumindest in Jahren, oftmals auch Jahrzehnten gemessen wird, um die darin erkennbaren geopolitischen Verschiebungen und wirtschaftlichen Konjunkturen zu entdecken. Und schließlich ist es möglich, die lange Zeitlinie soziokultureller Entwicklungen zu analysieren, die longue durée, wie der französische Historiker Fernand Braudel sie nannte.16 Dabei geht es um die über lange Zeiträume geschaffenen Identitäten und Bindungen, die die grundlegenden Bedingungen für die anderen Handlungsebenen bilden, die daher auch immer wieder politisch wirksam werden und oftmals darüber mitentscheiden, wer sich in Auseinandersetzungen mit wem auf welcher Seite wiederfindet. Eine Analyse der Gegenwart kann also niemals ohne den historischen Rückblick auskommen, der auch die soziokulturellen Hintergründe umfassen muss. Auf eben diese langen Entwicklungsstränge werden wir im Folgenden immer wieder zurückkommen.

Tatsächlich haben die Entwicklungen, die unsere Welt, im Besonderen aber Europa heute prägen, nicht erst 1989, sondern schon Jahre zuvor eingesetzt17. Von besonderer Bedeutung war dabei die Einigung auf die Schlussakte von Helsinki, die im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) ausgearbeitet worden war und im Juni 1975 von den USA, der Sowjetunion, sowie sämtlichen Mitgliedern der NATO und des Warschauer Paktes unterzeichnet wurde. In diesem Dokument spiegelte sich neben der alten auch eine neue Form der Geopolitik wider: Einerseits verpflichtete die Schlussakte die Unterzeichner zur „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ und zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, andererseits aber gab es auch die Klauseln über die „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“ und das Ziel, „freiere Bewegung und Kontakte auf individueller und kollektiver (…) Grundlage (…) zu erleichtern“18, was letztlich als „Recht auf Ausreise“ interpretiert werden konnte. Dieses Tauschgeschäft, das dem Ostblock die Anerkennung der Nachkriegsordnung im Gegenzug für die Beachtung der Menschenrechte brachte, wurde anfangs als großer Sieg für die Sowjetunion betrachtet, da hiermit ihre territorialen Zugewinne nach 1945 bestätigt wurden. Doch tatsächlich war es die Fortsetzung des Kalten Krieges „mit anderen, subtileren Mitteln“.19 Indem er „allgemein die Ansteckung mit der Freiheit verbreitete“, gelang es dem Westen, im Ostblock jenes „Trojanische Pferd“ einzuschleusen, welches die Staaten des Warschauer Paktes langsam von innen her aushöhlte. Es kam in der Folge zur Gründung mehrerer „Helsinki-Gruppen“ und Bürgerrechtsbewegungen in diversen osteuropäischen Staaten, zum Beispiel der Charta 77 in der ČSSR und der Solidarność in Polen. Im Ergebnis musste die sowjetische Führung eineinhalb Jahrzehnte später erkennen, „dass das Instrument, mit dem sie die territorialen Regelungen hatte garantieren wollen, das gesamte Sowjetsystem aus den Angeln hob.“20

Daneben gab es eine Reihe weiterer Ereignisse, die allesamt im Jahr 1979 stattfanden und damit genau ein Jahrzehnt vor den Umbrüchen von 1989, und die hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht sofort in voller Tragweite erkennbar waren, da sie ihre Wirkung erst über einen längeren Zeitraum, dann aber umso gravierender entfalteten:21

Im Januar 1979 verließ der iranische Schah Reza Pahlewi nach Unruhen und Protesten sein Land und ging – nach 37 Jahren auf dem Pfauenthron – ins Exil. Nur zwei Wochen später, am 1. Februar, kehrte Ruhollah Musawi Khomeini, als Ajatollah politischer und religiöser Anführer der Opposition, in den Iran zurück, um seine bisher aus dem Pariser Exil geführte „Islamische Revolution“ zu vollenden.

Diese war eine späte Antwort auf den Putsch, durch welchen 1953 der damalige iranische Staatspräsident Mohammad Mussadegh wegen der Verstaatlichung der iranischen Erdölindustrie durch eine britisch-amerikanische Aktion („Operation Ajax“) gestürzt worden war – und damit auch die einzige demokratische Regierung, die es im Mittleren Osten gab. Als Ergebnis dieses Putsches besitzen die USA seit damals „als Hüter der Demokratie keine Glaubwürdigkeit im Iran – und (auch) weil sie seitdem nie Interesse an der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft im Iran gezeigt haben.“22

Zwei Monate nach der Islamischen Revolution rief Khomeini die „Islamische Republik Iran“ aus und verlangte die Auslieferung des Ex-Schahs durch die Vereinigten Staaten. Die US-Regierung kam dieser Forderung nicht nach, und so stürmten am 4. November 1979 geschätzte 500 Iraner die US-Botschaft in Teheran und nahmen rund hundert US-Amerikaner als Geiseln. Dies begründete nicht nur die bis heute anhaltende Feindschaft zwischen den USA und dem Iran, sondern brachte erstmals auch den „islamischen Fundamentalismus“ ins Bewusstsein einer breiten Weltöffentlichkeit.

Auch im östlichen Nachbarland des Iran, in Afghanistan, war es in den 1970er-Jahren zu einer religiös begründeten politischen Gegenbewegung gegen die Machthaber gekommen. Hier waren es Sunniten, die als Mudschahedin23 gegen die säkulare, kommunistisch orientierte Regierung unter Präsident Tariki kämpften. Um die kommunistische Regierung der „Demokratischen Republik Afghanistan“ zu unterstützen, sah sich die sowjetische Regierung in den Weihnachtsfeiertagen 1979 veranlasst, dort einzumarschieren.

Doch die sowjetische Intervention in Afghanistan blieb nicht nur erfolglos, vielmehr beschleunigte der schmachvolle Rückzug der Sowjets im Jahr 1989 auch den Untergang der Sowjetunion selbst. Darüber hinaus aber wurde in dieser Zeit und durch diesen Konflikt, in dem sich die säkularen Kräfte Afghanistans und die Sowjets auf der einen Seite und die Mudschahedin mit US-amerikanischer Unterstützung auf der anderen Seite gegenüberstanden, auch die Grundlage für den Aufstieg radikaler sunnitischer Gruppen, allen voran Al-Quaidas gelegt.

Das seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts sich entwickelnde Streben nach religiöser Erneuerung war jedoch nicht allein auf den islamischen Raum beschränkt. Auch in der katholischen Kirche gab es immer öfter und immer lautere Forderungen, der zunehmenden Säkularisierung entgegenzutreten. Im Oktober 1978 wurde Karol Wojtyla als Johannes Paul II. zum Papst gewählt, womit nicht nur erstmals ein Kirchenvertreter aus Polen auf den Heiligen Stuhl beordert wurde, sondern vor allem ein entschiedener Kämpfer gegen den Kommunismus.

Im Juni 1979, nur wenige Monate nach seiner Wahl, flog Johannes Paul II. im Rahmen seiner zweiten Auslandsreise in sein Heimatland und wurde dort von Millionen Katholiken aus Polen und anderen Warschauer Pakt-Ländern begrüßt. Als er in seinem Gebet bat: „Sende aus deinen Geist! Erneuere das Angesicht der Erde! – Dieser Erde!“24, wurde dies von den Anwesenden nicht nur als Aufruf zu moralischer Erneuerung verstanden, sondern auch als Vorhersage politischer Veränderungen – und damit als Fanal, das die kommunistische Herrschaft in ganz Osteuropa erschütterte:

“No one suspected that it would catalyze a campaign of nonviolent moral and cultural resistance to a twentieth-century totalitarian regime. For all his determination to undermine Marxism-Leninism, the pope himself could not foresee how his efforts would hasten the collapse of the Soviet empire within his own lifetime.”25

Bereits kurz zuvor, im Jahr 1978, war in Polen mit der Solidarność eine freie Gewerkschaftsbewegung entstanden. Für sie, aber auch für andere zivilgesellschaftliche Kräfte bedeutete der Papstbesuch die nötige moralische Kraft im Kampf gegen die kommunistischen Regime Osteuropas.

Im Mai 1979 wurde in Großbritannien mit Margaret Thatcher erstmals eine Frau in das Amt des Premierministers gewählt. Mit ihr – und dem bald darauf gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan – begann die Durchsetzung des als „Neoliberalismus“, treffender jedoch als „Monetarismus“ bezeichneten wirtschaftspolitischen Konzepts in weiten Teilen der Welt.26

Seit den frühen 1970er-Jahren war die Krise des nach 1945 etablierten Keynesianismus, der als „gemäßigter Kapitalismus“ bezeichnet werden kann, deutlich geworden. Der Neoliberalismus, von seinen Kritikern als „Markt-darwinistisches“ Modell im Sinne eines survival of the fittest27 gebrandmarkt, bedeutete zuerst für Großbritannien, anschließend einen „internationalen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik vom Keynesianismus, der allgemein als gescheitert galt, zum Monetarismus, (also) zur Steuerung der Wirtschaft über die Geldmenge.“28 Weitere wesentliche Instrumente dieser neuen Wirtschaftspolitik, die auf dem sogenannten Washington Consensus basierte, waren Privatisierungen von Staatsunternehmen, Deregulierung von Märkten und Preisen, Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte sowie der Handelspolitik (durch Abbau von Handelsbeschränkungen), Zurücknahme wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen, Abbau von Subventionen und ganz allgemein die Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft. Und wenngleich bereits seit den späten 1980ern29 die Schattenseiten des „Neoliberalismus“ deutlich wurden, hat sich an der grundsätzlichen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bis heute nichts Substantielles geändert.

Die Überzeugung von der Kraft der Märkte kennzeichnete noch einen weiteren Politiker, der ab 1979 wirkmächtig wurde: Im Dezember 1978 hatte Deng Xiao Ping bei der Dritten Plenumssitzung des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas de facto die Macht übernommen. Orientiert am Beispiel Singapurs und dessen Premierminister Lee Kuan Yew läutete er in der Folge Wirtschaftsreformen ein, die nicht nur das Antlitz des bevölkerungsreichsten kommunistischen Landes veränderten, sondern die Koordinaten der Weltwirtschaft insgesamt.

Inzwischen ist die Volksrepublik China nach den USA die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und hat begonnen, ihre zunehmende wirtschaftliche Bedeutung auch auf geopolitischer Ebene einzusetzen, speziell im südchinesischen Meer. Der Aufstieg Chinas steuert mittlerweile auf einen hegemonialen Ausscheidungskampf zu. Vor allem aber stellt der (bisherige) Erfolg des chinesischen Modells die in den 1990er-Jahren von westlichen Experten vertretene Grundannahme in Frage, wonach die Entwicklung von Marktwirtschaft und Demokratie notwendigerweise miteinander verbunden ist.

Nun gab es neben diesen fünf skizzierten Ereignissen von 1979 selbstredend auch noch eine Reihe anderer bedeutender Begebenheiten, so beispielsweise die Unterzeichnung des Camp-David-Vertrages zur Aussöhnung zwischen Ägypten und Israel, die Machtübernahme Saddam Husseins im Irak, den Sturz der Somoza-Diktatur und die marxistische Revolution der Sandinisten in Nicaragua, sowie den NATO-Doppelbeschluss zur Nachrüstung atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa. Doch im Gegensatz zu diesen veränderten die fünf zuvor genannten Ereignisse im Iran, in Afghanistan, Großbritannien, Polen und China nicht nur die globalen Rahmenbedingungen, in denen Europa sich bewegt; sie veränderten darüber hinaus vor allem auch unsere Denkweise über Politik, Religion und Wirtschaft:

“The year 1979 was also a watershed in the history of ideas. Before that year, terms such as ‚political Islam’ and ‚privatization’, ‚jihad’ and ‚deregulation’ barely figured in global discourse. After 1979, it was almost impossible to imagine a world without them. They still define the world in which we live today.”30

… zum Annus Mirabilis – 1989

Die wohl bedeutendste Folge der Ereignisse von 1979 war der Fall der Berliner Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ im Spätherbst 1989. Im Gegensatz zum späteren Narrativ, wonach US-Präsident Reagans Rede vom 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor in Berlin mit den berühmten Worten “tear down this wall”,31 noch mehr aber die massiven Rüstungsausgaben der USA die Sowjetunion in die Knie gezwungen haben, waren die Gründe tatsächlich weitaus vielfältiger und der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa das Ergebnis einer Verknüpfung und Wechselwirkung unterschiedlichster politischer Handlungsfelder und -ebenen:32 So hatte das Engagement der Sowjetunion in Afghanistan nicht nur die Wirtschaft des Landes schwer belastet, sondern auch das Vertrauen in das System untergraben und eine moralische Krise im Land ausgelöst. Zudem musste die Sowjetunion schon seit den frühen 1970er-Jahren immer wieder Getreideeinkäufe, vornehmlich in Kanada und den USA, tätigen – und dies bei achtmal so vielen Landarbeitern wie in den Vereinigten Staaten. Die Erkenntnis, dass alle Reformversuche33 nicht nur ohne langfristige Verbesserungen geblieben waren, die Sowjetunion vielmehr in völliger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verkrustung erstarrt war, veranlasste den ab 1985 im Amt befindlichen sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, zu einer Neuausrichtung, die nicht nur die Wirtschaft, sondern den gesamten Staat erfassen sollte. Unter den Stichworten Glasnost („Offenheit“)34 und Perestroika („Umbau“)35 wurden unter anderem die Rechte und Möglichkeiten der Betriebe gestärkt, auf lokaler Ebene Wahlen mit mehreren Kandidaten (jedoch nicht mehreren Parteien) zugelassen, erstmals auch Privatunternehmen (vor allem im Dienstleistungsbereich) gestattet und den Medien die kritische Berichterstattung über politische und gesellschaftliche Ereignisse ermöglicht. Auch friedliche Demonstrationen wurden möglich und die Unterdrückung der Kirchen zurückgenommen. Zudem sollten laut Gorbatschows Vorstellungen auch andere Ostblockstaaten diese Reformpolitik übernehmen, waren doch auch dort die Probleme der Planwirtschaft fundamental und weithin sichtbar.

Die Reformen hatten dann tatsächlich Auswirkungen auf den gesamten Warschauer Pakt, wenngleich auf eine nichtintendierte Weise. Die politischen Führungen – allen voran jene der DDR unter Erich Honecker und Rumäniens unter Nicolae Ceaușescu – lehnten die neue sowjetische Politik der Öffnung vehement ab, gleichzeitig aber fühlten sich die oppositionellen Gruppen gestärkt. Es entstanden zivilgesellschaftliche Organisationen und Bürgerinitiativen, die dazu beitrugen, dass die kommunistischen Parteien ihre öffentliche Autorität zunehmend verloren. Zudem setzten die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion die Tektonik der internationalen Politik in Bewegung. Gorbatschows Signale, in den Ländern des Warschauer Paktes nicht mehr intervenieren zu wollen, ließ die bis dahin gültige Breschnew-Doktrin36 ins Wanken geraten, und damit auch die unverzichtbare Existenzgarantie für die DDR, die als einziger Staat des Ostblocks ausschließlich ideologisch legitimiert war.37

Mit der Anerkennung der Solidarność als erster freier Gewerkschaft Anfang 1989 in Polen und der Zulassung des Mehrparteiensystems in Ungarn begann schließlich der Zerfall des sozialistischen Systems. Im Zuge der sogenannten „Montagsdemonstrationen“ in Leipzig forderten immer mehr Menschen Freiheit und die Öffnung der Grenzen. In der Nacht zum 11. September öffnete die ungarische Regierung die Grenze nach Österreich, um DDR-Bürgern auf diesem Weg die Ausreise zu ermöglichen, und auch aus der Tschechoslowakei wurden Tausende DDR-Bürger38, die sich in die westdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet hatten, ab Oktober in verriegelten Sonderzügen nach Westdeutschland gebracht. Der Versuch der ostdeutschen Regierung, durch ein neues Reisegesetz die Entwicklung aufzuhalten, wurde zum Bumerang, als die DDR-Bürger die am Abend des 9. November 1989 angekündigten Regelungen als „sofort geltende Reisefreiheit“ interpretierten.

Tausende Ostberliner erschienen innerhalb weniger Stunden an den Grenzübergängen zu Westberlin, und mit der Öffnung der Grenzbalken war die Berliner Mauer gefallen! Als Tags darauf der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse erklärte, dass sein Land die „Ereignisse in der DDR als eine ureigene Angelegenheit ihrer neuen Führung und ihres Volkes“39 betrachtete, war klar, dass Moskau nicht eingreifen würde, um die Entwicklungen zu stoppen.

In der Folge kam es noch im November 1989 zum Umsturz in Bulgarien und zur sogenannten „Samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei, sowie im Dezember zum blutigen Sturz des neostalinistischen Diktators Nikolae Ceaușescu in Rumänien. Und nach dem unwiderruflichen Ende der DDR durch die deutsche Wiedervereinigung im Oktober 1990, der Loslösung der baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion und schließlich der offiziellen Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 war die Nachkriegsordnung endgültig kollabiert.

Der Westen, vor allem die USA, fühlte sich als Sieger auf allen Ebenen. Der Untergang der Sowjetunion galt als endgültiger Beweis für das Ende des Kommunismus als politisches und wirtschaftliches Modell, noch mehr aber für die Überlegenheit von Liberalismus und Marktwirtschaft. In Europa sollte der Vertrag von Maastricht endgültig ein Zeitalter des Friedens einläuten, und trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen, Massenmorde und ethnischen Säuberungen im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens, die sehr schnell als „Einzelfall“ bzw. als „nicht typisch für das neue Europa“ abgetan wurden, war man angesichts des vermeintlichen „Endes der Geschichte“ von London über Paris, Brüssel und Berlin bis nach Budapest und Warschau vereint im Vertrauen auf eine liberal geprägte und prosperierende Zukunft.

Umso ketzerischer musste es klingen, als 1995, nur wenige Jahre nach Ende des Kalten Krieges, Kishore Mahbubani in Foreign Affairs schrieb:

Europe as a continent is surrounded by a ‘ring of fire’ stretching from North Africa to the Caucasus. From the conflict in Georgia to the explosions waiting to burst in Kosovo, Macedonia, and Albania, more lives are lost daily on the periphery of Europe than in the entire Asia-Pacific region, which has a much larger population.”40

Mahbubani, ein Schüler Lee Kuan Yews, des ersten Premierminister Singapurs, und zum damaligen Zeitpunkt Staatssekretär im Außenministerium, mag aufgrund der exponierten Lage seines kleinen Staates eine besondere Sensibilität für die Bedeutung von Geografie besitzen, die ihm schon frühzeitig die unmittelbare Möglichkeit massiver Umbrüche und der damit verbundenen Gefahren gewaltsamer Konflikte im Umfeld Europas bewusst werden ließ. Der von ihm so bezeichente Ring of Fire, der sich von der Ukraine und den Konfliktregionen im Kaukasus über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Nord-, Ost- und Westafrika zieht, ist inzwischen jedenfalls tatsächlich in Brand geraten und nährt sich dabei aus vielerlei Quellen, wobei einige besonders hervorstechen: So ist er einerseits die Folge des Zusammenbruchs ehemaliger Vielvölkerreiche – des Osmanischen Reiches, des russischen bzw. sowjetischen Imperiums und der Habsburger Monarchie –, deren Hinterlassenschaften bis heute umkämpft sind und es in Form von „Erbfolgekriegen“ wohl auch noch für einige Zeit bleiben werden. Andererseits ist der Ring of Fire aber auch das Ergebnis des – missglückten – Versuchs der EU, ihre Sicherheit einzig durch interne Konsolidierung zu schützen, ohne dabei die Vorgänge an ihren Außengrenzen zu beachten. So hatten am Beginn der 1990er-Jahre in der Europäischen Union aufgrund einer weit verbreiteten Ignoranz gegenüber der Bedeutung historischer Erfahrungen, die ergänzt wurde um eine „Raumvergessenheit“41, nur die wenigsten einen Blick dafür, dass sich an ihren östlichen und südlichen Rändern ein postimperialer Raum erstreckt, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts nie wirklich stabile Verhältnisse entwickelt hat. Mahbubani fasste diese Situation in seinem Essay wie folgt zusammen: “All the efforts to either deepen unification via the Maastricht treaty or widen it by including similar European countries are tantamount to rearranging the living-room furniture while floodwaters are seeping in from the rising tides just outside the door.”42