image

Jan Martin Ogiermann

image

ZUKUNFT

EINE BIOGRAPHIE

Vom antiken Orakel zur
künstlichen Intelligenz

image

INHALT

EINLEITUNG –
VIEL ZUKUNFT VORAUS

DER HIMMEL UND DIE LEBER

DIE ZUKUNFT DER KIRCHE

DIE ENTDECKUNG DES FORTSCHRITTS

DIE ZUKUNFT WIRD GEMACHT

DIE KRISE DES FORTSCHRITTS

ZWISCHEN MACHBARKEITSWAHN UND UNTERGANGSÄNGSTEN

DER LANGE LEBENSWEG DER ZUKUNFT

LITERATUR UND QUELLEN

I

EINLEITUNG

VIEL ZUKUNFT VORAUS

Wie das Leben von einer beschreiben, die noch so viel vorhat? Die Zukunft ist im Wortsinn das, was auf uns zukommt, und das ist einiges. Europa und die Welt erleben seit Jahrhunderten einen sich beschleunigenden Wandel, der sich unabsehbar fortsetzen wird. Eine Biographie der Zukunft schaut im Jahr 2019 also weit zurück, zieht aber kein Resümee. Am besten stellen wir uns die Heldin dieses Buchs als vitale Sechzigjährige vor, die bereits genießt, was die Wissenschaft in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich erreichen wird: unerschöpfliche Jugendkräfte.

Schon ein Blick auf die Schlagzeilen zeigt, wie viel Zukunft vor uns liegt, wie viele Befürchtungen und Hoffnungen uns umtreiben: „Die Natur stirbt – und die Welt schaut weg“.1 Es versteht sich von selbst, dass mit der Zukunft der Natur auch die des Menschen bedroht ist. Er verbraucht Ressourcen, verändert das Klima, und seine Zahl wächst. Seit den siebziger Jahren stellt sich die bange Frage, ob eine ökologische Katastrophe eintreten und die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert ein Massensterben wird erleiden müssen. Dieses würde wohl vor allem jene Milliarden von Menschen treffen, die nach wie vor in großer Armut leben und geringe Chancen haben, ihr Leben zu verbessern.

In der internationalen Politik tobt ein „Kampf um die Weltherrschaft“.2 China und die USA, die unterschiedliche Gesellschaftsmodelle vertreten, stehen einander zunehmend feindlich gegenüber, von einem neuen Kalten Krieg ist die Rede. Beide Mächte konkurrieren unter anderem in der Telekommunikation, was sich wiederum auf die Politik auswirkt. US-amerikanische Stellen haben offiziell davor gewarnt, Mobilfunkausrüstung des chinesischen Herstellers Huawei einzusetzen, da diese für Spionagezwecke genutzt werden könnte. Washington hat den staatsnahen Konzern auch wegen Verstößen gegen die Iran-Sanktionen im Visier. Die Grenzen zwischen globaler Marktmacht und weltpolitischer Einflussnahme verschwimmen zusehends.

Aus China kam die Meldung über die Geburt der ersten genmanipulierten oder, freundlicher formuliert, genetisch optimierten Menschen. Das Erbgut der Zwillingsmädchen soll mittels der Genschere CRISPR/Cas auf die Immunisierung gegen HIV programmiert worden sein.3 Im Juli 2018 hatte der Europäische Gerichtshof die Anwendung von CRISPR auf Pflanzen faktisch eingeschränkt.4 Obgleich der Eingriff in China nicht autorisiert war, zeichnet sich ab, dass für technologische Innovationen je nach Weltregion überaus verschiedene Bedingungen herrschen. Die Innovationsmotoren stehen in China und den USA, weniger in Europa, dem Mutterkontinent der Hochtechnologie und des Fortschrittsglaubens.

Eine umfangreiche Literatur erläutert dem Laien, welche Wunder der Wissenschaft in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten sind.5 Als das nächste große Ding wird die Künstliche Intelligenz gehandelt, dann die Quantencomputer. Die digitale Revolution ist noch am Rollen und wird sich, so die Annahme, eines Tages mit der gentechnischen Revolution verbinden. Dank exponentiell gewachsener Rechenleistung können Erbinformationen immer schneller ausgelesen und somit manipuliert werden. Sogar der Alterungsprozess einfacher Organismen lässt sich damit bereits bremsen. In einigen Jahrzehnten wird es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Menschen geben, die nicht altern, auch anderweitig genetisch optimiert sind und deren Gehirne direkt mit leistungsstarken Computern verbunden sind. Winzige Roboter werden durch ihre Blutbahnen schwimmen und jede Krebszelle schnell und zuverlässig eliminieren, ihre Körperkräfte mittels technischer Bauteile verstärkt sein. Im Vergleich zu diesen „Gottmenschen“ sind wir jämmerliche Mängelwesen.

An solche atemberaubenden Zukunftsbilder schließen sich unzählige Fragen an. Welche Regeln sollen für gentechnische Eingriffe gelten? Welche Instanz stellt sie auf? Wer darf länger leben? Soll nur der Markt darüber entscheiden, wer zuerst in den Genuss solcher Innovationen kommt? Und noch grundsätzlicher: Wird der Mensch, wenn er demnächst alles über sich weiß, die humanistische Grundidee beibehalten, dass er einen höheren, heiligen Wert hat? Wird er den Zauber, mit dem er sich umgibt, aufrechterhalten, wenn er genau weiß, wo die Grenze zwischen seiner genetischen Programmierung und seiner Freiheit verläuft? Oder sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es diese Freiheit nie gab?

Nicht zum ersten Mal wird sich zeigen müssen, ob die christlich-aufklärerische Idee vom Menschen, die wie jeder Glaubensinhalt nicht allgemein und kulturübergreifend begründbar ist, einen dauerhaften, weltumspannenden Einfluss behält. Selbst wenn ihr dies gelänge, wäre nicht zu erwarten, dass der humanistische Mainstream unverändert aus diesen Umbrüchen hervorgeht. Er wird sich mit Strömungen wie dem Transhumanismus auseinandersetzen müssen, die den Umbau des Menschen enthusiastisch begrüßen und betreiben.

Das Geld und das Wissen

Die Lebensverlängerung ist ein Projekt von GV, vormals Google Ventures. Die technologische Avantgarde prägen überhaupt diverse Großunternehmen, insbesondere die „großen Vier“ Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Apple. Das war nicht immer so. Im 20. Jahrhundert bestimmten Militär und Regierungen über Schlüsselbereiche wie Atomenergie und Raketentechnik. Globalisierung aber heißt bisher vor allem, dass Kapital, Wissen und Güter sich immer leichter um den Planeten bewegen. Davon profitieren transnationale Akteure wie Unternehmen wesentlich stärker als Einzelpersonen oder Staaten.

Die beträchtlichen Migrationsströme verstellen den Blick darauf, dass der auf seinen Körper angewiesene Einzelne in der vernetzten Welt immer im Nachteil ist. Für einen jungen Mann aus Westafrika, der mit den Familienrücklagen auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa aufbricht, gilt das ganz offensichtlich. Ihn zieht es aus der globalen Provinz in die europäischen Metropolen, wo die Geld- und Informationsströme dicke Knoten bilden. Ein Mitglied der englischsprachigen, mobilen, akademischen Klasse bewegt sich zwar auf denselben Pfaden wie Kapital und Wissen, aber immer noch viel langsamer als diese. Nie könnte er mit dem Tempo mithalten, in welchem riesige Summen von einem Kontinent auf den anderen fließen, doch kann er ihnen wenigstens folgen. Der einsprachige, sesshafte Europäer verspürt weder den Leidensdruck des Armutsmigranten, noch hat er die Kompetenzen des Weltbürgers. Er bleibt, wo er ist – und fühlt sich als Verlierer.

Den Geld- und Wissensströmen stehen nach wie vor territorial definierte Staaten gegenüber und versuchen, diese zu lenken, allen voran die USA und China. Oft erscheint der Staat schwach. Die in der EU zusammengeschlossenen Regierungen können sich nicht einmal darüber einigen, die US-amerikanischen Tech-Riesen gemeinsam zur Kasse zu bitten, geschweige denn darüber, ihre unverhältnismäßige Marktmacht einzudämmen. Internationale Zusammenarbeit tut Not, doch selbst die transatlantischen Handelsbeziehungen werden von einem US-Präsidenten angegriffen, der den menschlich verursachten Klimawandel leugnet und für seine Wähler Arbeitsplätze in Kohleminen zurückholen will.

Nach zwei Jahren Trump sitzt Washington an erstaunlich langen Hebeln. Wie groß die Macht Washingtons auch in der vernetzten Welt noch ist, zeigt das Schicksal des (kremlfernen) russischen Oligarchen Oleg Deripaska, der von einem Tag auf den nächsten aus dem Geschäftsleben verschwand, als US-Behörden ihn mit Sanktionen belegten. Entsprechend groß ist die Sorge europäischer Unternehmen, auch sie könnte im Zuge der amerikanischen Iranpolitik dieser Bannstrahl treffen. Zugleich hat der Präsident der – nach dem Crash von 2008 gründlich sanierten – Wall Street erlaubt, weitgehend ungehindert Kapital zu bewegen. Er verflüssigt damit die Ströme, die er an anderer Stelle umzuleiten versucht.

Die Konkurrenz zu China hat die US-Administration unter Trump verschärft. Damit sinkt nochmals die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden großen Zukunftsmächte den Unternehmen wirksame Regeln oder gar humanistisch begründete Ziele auferlegen werden. Aktuell ist es deshalb am wahrscheinlichsten, dass sich die Entwicklung zum Gottmenschen zwar vorwiegend nach Gewinninteressen, nicht aber auf einem einigermaßen freien Weltmarkt vollziehen wird. In welchem Maß Washington und Peking diesen Wettlauf aktiv beeinflussen werden, ist schwer zu sagen, aber sie tun es längst und werden es weiterhin tun. Unter ökonomischen Gesichtspunkten wären die Europäer deshalb besser beraten, wenn sie versuchten, die Welle zu reiten, statt sie zu kanalisieren oder gar aufzuhalten. Ihr Rückstand wächst täglich.

Gut gedacht ist weit daneben

Wie wenig die soeben angedeuteten Vorhersagen und Empfehlungen wert sein könnten, offenbart ein Blick in die jüngere Vergangenheit. 1995 sagte der US-amerikanische Publizist und Zukunftsforscher Alvin Toffler (1928–2016) in einem Interview:6 „Zukünftig wird es viel mehr kleinere, hochspezialisierte Firmen geben. Größere Unternehmen wiederum werden nichts mehr mit dem gemein haben, was heute eine Firma ausmacht, multinationale Organisationen ähneln dann nicht mehr General Motors oder Siemens. Es kommt, jetzt schon, zu neuartigen, vorübergehenden Firmenzusammenschlüssen, die projektgebunden arbeiten.“ Über das, was damals plausibel erschien, können die Vorstände von Alphabet – früher Suchmaschine, heute Unsterblichkeitsforschung – nur müde lächeln. Zwar können in der digitalen Gründerzeit findige Programmierer-Unternehmer in wenigen Jahren ein Vermögen verdienen. Doch wer kauft ihnen das Start-up für viel Geld ab? Alphabet zum Beispiel.

Schon in den sechziger Jahren kam die Vision einer „Computerdemokratie“ auf, in der sich die Bürger direkt und aktiv einbringen würden. Toffler 1995: „Im Internet, an das schon Millionen Menschen angeschlossen sind, gibt es keine zentrale Kontrolle. Das bedeutet ganz neue Spielregeln. Hitler hätte es schwer in einer Medienwelt, die interaktiv funktioniert, mit direktem Rückkanal. Statt ‚Heil Hitler‘ würde es wahrscheinlich heißen: ‚Verzapp dich.‘ Die neuen Medien werden die Politik grundlegend verändern.“ Ja, nur eben nicht so, wie es einmal gut gedacht war. Manchmal bringt gerade die Schlichtheit der Botschaft ihrem Absender viele Likes ein. Ein twitternder Trump mit seinen Unwahrheiten und Ressentiments genügt schon, da stellt man sich einen twitternden Hitler lieber nicht vor.

Noch einmal Toffler: „Computer und Telekommunikation wirken in hohem Maße dezentralisierend: Dadurch lässt sich die Warenproduktion auf die ganze Welt verteilen, sie findet nicht mehr nur in wenigen, hochgradig überbevölkerten Ballungszentren statt. Das könnte einen Prozess der Deurbanisation zur Folge haben, der wiederum die Umwelt entlastet. Wir könnten den Berufsverkehr radikal verringern, auf diese Weise ließen sich auch Energieverbrauch und Autoabgase reduzieren.“ Heute nutzen viele Arbeitnehmer das Angebot, pro Woche einen Tag „Home-Office“ einzulegen, aber sonst lautet der Befund: sich leerende Landschaften, rapide wachsende Städte, immer mehr Autos. Und doch könnte Toffler immer noch recht behalten, nur eben nicht für 2019, sondern für 2029 oder 2039.

Eine Vorhersage zu treffen ist das eine, den Zeitpunkt ihres Eintretens zu prophezeien das andere. Im Jahr 2011 stellte der Physiker und Zukunftsautor Michio Kaku fest, dass trotz anderslautender Vorhersagen – man könnte bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgehen7 – die US-amerikanischen Einkaufszentren noch immer gut besucht waren.8 Sieben Jahre später ist das retail massacre in vollem Gange, eine mall nach der anderen macht dicht. Es dauerte eben nur ein paar Jahre länger, bis eine kritische Masse von Konsumenten sich entschied, das Sofa für den Einkauf nicht mehr zu verlassen. Dieses Zeitproblem kannten bereits die Weissager des Alten Orients, die in den Lebern von Schafen lasen. Sie gaben deshalb immer den Zeitraum an, auf den sich ihre Frage an die Götter bezog.

Da viele Neuerungen sich gegenseitig beeinflussen, ist es von großer Bedeutung, wann genau welches Ereignis eintritt. Zum Beispiel darf man davon ausgehen, dass es immer mehr Bakterienstämme geben wird, die gegen Antibiotika resistent sind. Und man darf davon ausgehen, dass sich Bakterien genetisch verändern lassen werden. Doch was kommt zuerst? Es wäre für viele Menschen eine Frage von Leben und Tod. Ähnlich verhält es sich mit der Perspektive des Geoengineering. Wird der Klimawandel so schnell ablaufen, dass der Mensch ihn durch gezielte Eingriffe nicht mehr wird aufhalten können? Oder wird der Mensch genug Zeit haben, um in wirksamer Weise Wetterveränderungen herbeizuführen und Sonnenstrahlen abzulenken?

Ein weiteres Problem der Vorhersage liegt in der menschlichen Neigung, einmal erkannte Prozesse schnurstracks in die Zukunft fortzuschreiben. Zum einen drohen stets unvorhergesehen Ereignisse, denn diverse Supervulkane könnten jeden Augenblick ausbrechen, und eine mögliche Anwendung von Atomwaffen ist schon allein durch deren Existenz gegeben. Zum andern geben Verschiebungen im menschlichen Verhalten solchen Prognosen Unrecht. So gingen bis in die siebziger Jahre die Bevölkerungstheoretiker regelmäßig von mehr Geburten in den westlichen Ländern aus, als dann tatsächlich eintraten. Unterläuft den Demographen für die südlichen Länder derselbe Fehler?

Ohne vernünftigen Zweifel wird die Weltbevölkerung weiterhin wachsen, doch wie lange, und wie schnell? Wird 2050 das Maximum erreicht oder doch erst nach 2100? 1972 prognostizierte die Studie Die Grenzen des Wachstums einen Höchststand von 9,2 Milliarden Menschen in den frühen 2040er Jahren. Die UNO ging 2014 bei 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit von 9,6 bis 12,3 Milliarden im Jahr 2100 aus.9 In dieser Schicksalsfrage wurden die problematischen Szenarien also nicht von der Realität widerlegt, sondern wegen aktueller Vorgänge verschärft. Aber auch die kurzfristigen Konjunkturen sind uneindeutig. Während das südliche Afrika schneller wächst als erwartet, sank in Marokko oder Bangladesch die Geburtenrate überraschend früher als gedacht.

Und dann ist da noch die qualitative Seite des Wandels. Wir werden nie wissen, ob die Geburtenrate in Europa auch ohne die Antibabypille derartig abrupt gesunken wäre. Fest steht nur: Sie war plötzlich da und die Frauen gebaren weniger Kinder. Wissenschaftliche Fortschritte, die sich aufgrund ökonomischer Interessen schnell durchsetzen, können die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens kurzfristig ändern. Darauf können sich selbst behutsame Prognosen kaum einstellen.

Europa, Mutter der Zukunft

Solche Erkenntnisprobleme werden das Zukunftsdenken nicht aufhalten. Konfrontiert mit der immensen Dynamik der globalen Zivilisation können wir gar nicht anders, als zu spekulieren, wohin die Reise geht. Die Entfaltung dieser Dynamik ging von Europa aus, das – ungefragt – die Welt globalisiert hat. Die Erfahrung dieses Energieschubs musste das Nachdenken darüber anregen, woher all die Veränderung kam und wohin sie führen würde. Mit dem wirkungsvollen Handeln der Entdecker und Erfinder wuchs die Frage nach dessen Konsequenzen. Auf christlichem Nährboden erwuchs der Fortschrittsglaube der Aufklärer, der wiederum die europäische Tatkraft zusätzlich beflügelte. Die Zukunft im heutigen globalen Sinne ist somit ursprünglich ein Phänomen des europäischen Weltteils, der folgerichtig im Mittelpunkt dieser Biographie steht.

Da die Zukunft nie ist, sondern immer nur sein wird, existiert sie allein in unserer Vorstellung. Unser kritisches Denken und unsere Phantasie machen sich Bilder von Welten, die vielleicht einmal entstehen werden. Das beginnt mit Statistiken und ihrer mutmaßlichen zeitlichen Fortschreibung, es endet mit abenteuerlichen Science-Fiction-Technologien, die erst in einigen Jahrtausenden die letzten Grenzen menschlicher Existenz sprengen könnten. Diese Biographie konzentriert sich auf jene erdachten Zukünfte, die von ihren Urhebern als einigermaßen realistische Möglichkeiten gemeint waren. Ihr Zeithorizont liegt in der Regel bei einigen Jahrzehnten, höchstens wenigen Jahrhunderten.

Der Lebensweg unserer Heldin „Zukunft“ beginnt im Alten Orient, wo sie, wie alle Kinder, vieles ausprobierte und auch gerne an Zusammenhänge glaubte, die für Erwachsene keinen Sinn ergeben. Diese frühe Zukunft war noch ganz anders als die heutige, nämlich disparat, kurzsichtig und ängstlich. Und sie war der unseren ähnlich, war sie doch von den eigenen Kenntnissen begeistert und doch fatalistisch.

II

DER HIMMEL UND DIE LEBER

„Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“

André Malraux

In der Alten Welt gehörte Weissagung zum Alltag der Menschen und beeinflusste politische Entscheidungen. Sie versprach, Ereignisse zu kennen, bevor sie geschahen. Die dem Menschen unzugängliche Zukunft, aber auch verborgenes Wissen über Vergangenheit und Gegenwart sollte mit Hilfe der Götter und ausgefeilter Methoden in Erfahrung gebracht werden. Weissagung, lateinisch divinatio, was sich von divinus – göttlich – ableitet, war laut dem Philosophen Chrysipp „eine Kraft, die die von den Göttern den Menschen gegebenen Zeichen erkennt, wahrnimmt und erklärt“. Sumerer, Babylonier, Griechen, Etrusker und Römer lasen aus der Leber von Opfertieren Hinweise auf das, was auf sie zukommen könnte.

Unsere Kenntnisse der Divination ähneln einem beschädigten Wandbild, das an einigen Stellen viele Details wiedergibt, aber viel mehr noch unsere Phantasie herausfordert, große und kleine Fehlstellen zu füllen. So geben auf Tontafeln geschriebene Protokolle aus dem Zweistromland ein detailliertes Zeugnis darüber ab, wie eine Leberschau ablief, doch sind die weiteren Ereignisse oft unklar. In der griechischen Geschichtsschreibung sind die großen Zusammenhänge deutlicher, nicht aber die Details der Entscheidungsfindung. Verhältnismäßig viele Texte liegen aus der späten Römischen Republik vor, wo Weissagungen zu Gegenstand und Waffe in mörderischen Staatskrisen wurden.

Über Jahrtausende wurde die Leberschau vom Iran bis an den Atlantik praktiziert, so dass sich die Alte Welt auch als Zivilisation der Leberschau bezeichnen lässt. Die Methode offenbarte Wissen über eine Zukunft, die unmittelbar vorausliegt. In einer Welt voller unsichtbarer, göttlich gewollter Wirkungen machte sie diese im Vorhinein sichtbar. Dabei konnte es vorkommen, dass die Götter dem Weissager einer feindlichen Stadt eine gegenteilige Nachricht übermitteln. Das aber störte nicht weiter in einer Zeit, als die Menschen eine große Akzeptanz für Uneindeutigkeit aufbrachten. Dieses inkonsequente und magische Denken erlaubt es, die Epoche der Leberschau mit der Kindheit der Zukunft gleichzusetzen.

Ein König sieht klar

Assurbanipal, König von Assyrien, ist ein gebildeter Mann und stolz darauf, wie eine Inschrift verkündet: „Ich … bin in die Wissenschaft von den Vorzeichen am Himmel und auf der Erde eingeweiht, diskutiere in der Versammlung der Gelehrten, deute mit den erfahrensten Leberschauern die Leberomen. Ich kann komplizierte, undurchsichtige Divisions- und Multiplikationsaufgaben lösen, habe schon immer kunstvoll geschriebene Tafeln in schwer verständlichem Sumerisch und mühsam zu entzifferndem Akkadisch gelesen, habe Einblick in die Schriftsteine aus der Zeit vor der Sintflut, die ganz und gar unverständlich sind.“1

image

Assurbanipal, König des Assyrischen Reichs

Wissen, das ist für diesen Herrscher des siebten Jahrhunderts vor Christus zunächst die Kenntnis von den „Vorzeichen am Himmel und auf der Erde“, dann erst folgen Mathematik und alte Sprachen. Die Zeichen sind überall: im alltäglichen Lebensumfeld, in Krankheitssymptomen, in Träumen, vor allem aber in den Gestirnen und in den Organen von Opfertieren. Der König zieht sie für seine Entscheidungen beinahe täglich zu Rate.

Im Jahr 652 v. Chr. fällt sein Bruder und Vasall Schamasch-schumaukin, König von Babylon, von ihm ab, ein Bürgerkrieg ist die Folge. Mindestens dreizehn Mal – so viele Tontafeln zu dieser Sache erhielten sich im assyrischen Staatsarchiv – wendet sich Assurbanipal in dieser Sache an die Götter und bittet sie, mittels der Leber von Opfertieren zu signalisieren, ob seine Vorhaben erfolgreich sein werden. Soll die Armee zu Felde ziehen? Habe ich den richtigen Kriegsplan? Wird der Rebell meinen Truppen in die Hände fallen? Werden sich andere Herrscher in der Region am Krieg beteiligen? Werden die Streitkräfte Assyriens den Gegner überwinden?

Wichtigster Adressat der Fragen ist der Sonnengott Schamasch, der mit stets derselben Formel angerufen wird: „Schamasch, großer Herr, antworte mir mit einem klaren Ja auf das, was ich Dich frage.“ Die Zeremonie findet mit den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen statt, oft nach einer mit Beschwörungen verbrachten Nacht. Der Rauch von Zedernholz verlockt Schamasch dazu, sich mit sechs Götterkollegen den Angelegenheiten eines Sterblichen zu widmen und über dessen Anliegen einen Rechtsentscheid zu fällen. Die Frage flüstert der „Seher“ (Opferschauer) – besser gesagt nuschelt er, denn er trägt Zedernholzspäne im Mund – einem idealerweise makellosen, leuchtend weißen, männlichen Lamm ins linke Ohr, bevor er es mit einem Schnitt durch die Kehle schlachtet. Im Moment der Opferung schreiben die Götter dem Körper des Lammes ihre Botschaft ein. Der Wettergott Adad überbringt sie mit dem Wind und beschriftet die Leber. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Das Organ heißt auch „Tontafel der Götter“ und tatsächlich ähnelt sie dem mesopotamischen Beschreibstoff in Form, Farbe und Größe. Die Kerben, welche der Seher in Augenschein nimmt, erinnern an die Kerben, die er selbst oder sein Assistent mit ihren keilförmigen Griffeln in den Ton des Opferprotokolls drücken.

image

Tonmodell einer Orakelleber

Der Seher löst Fleisch aus der Schulter, grillt es und legt es zusammen mit dem Bauchfett auf einen Opfertisch. Dann zieht er die Leber des rücklings auf einem Tisch liegenden Schafs mit der rechten Hand aus dessen Bauch und inspiziert nacheinander zwölf Leberregionen, die im Kreis gegen den Uhrzeigersinn angeordnet sind – sie entsprechen dem Himmelsrund mit den Tierkreiszeichen. Die Regionen des Organs heißen unter anderem der „Blick“, der „Pfad“, das „Palasttor“ oder, im Falle der Gallenblase, die „Bittere“. Der Lesende achtet auf Knoten, Kerben, Blasen, Löcher oder die Spuren von Parasiten, und darauf, ob sie sich im jeweiligen Bereich auf der rechten oder linken Seite befinden. Am Ende des Rituals verkündet der Lesekundige dem König, wahrscheinlich von einem Richterstuhl herab, das Ergebnis. Dazu wägt er die zwölf Befunde gegeneinander ab, um zu einem „Günstig“ oder einem „Ungünstig“ zu gelangen. Aber auch ein „Unentschieden“ ist möglich.

Als der mächtige Assurbanipal Schafslebern nach einem göttlichen Fingerzeig begutachten ließ, hatte die mesopotamische Kultur schon etliche bewegte Jahrhunderte hinter sich. Es herrschte der Glaube an menschen- und zugleich sternengestaltige Götter, die ihren Verehrern Unterstützung gewährten, indem sie ihnen Zeichen schickten. Diese Hilfe entsprang dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Göttern und Menschen. Die Menschen waren zu dem Zweck geschaffen worden, den Göttern die mühselige Feldarbeit abzunehmen und sie mit den in den Tempeln dargebrachten Gaben zu ernähren. Die Himmlischen wiederum schickten den Irdischen Sonne, Regen und Fluten und ließen die Früchte der Erde gedeihen – und sie sandten ihnen Fingerzeige für die Zukunft.

Die Zeichendeutung gehörte zu den Königshöfen und Tempeln wie auch zum Alltag der Menschen. Professionelle Opferschauer verkauften zulässige Opfertiere an ratsuchende Privatleute, wobei sich manche verschuldeten und die Wahrsager vermögend machten. Für weniger solvente Mandanten waren Begutachtungen von geopferten Vögeln oder von dargebrachtem Mehl, Räucherwerk oder Speiseöl im Angebot.

Am Anfang der Zeremonie stand ein gründliches Gespräch zwischen dem Lesekundigen und seinem „Mandanten“, denn die Antwort der Götter lief auf eine günstige oder eine ungünstige Antwort hinaus und verlangte also eine präzise gestellte Frage. Man konnte dazu auf Musterbücher zurückgreifen, die Fragen wie diese enthielten: Werde ich im kommenden Jahr von Mord, Verleumdung, Hexerei, Sonnenstich, Überschwemmung, Alpträumen, Unfällen, Schlangenbissen, Löwenangriffen und so weiter verschont bleiben? Wird mein kranker Vater gesund werden? Wird meine Frau einen Sohn gebären, und falls nicht, soll ich eine zweite Frau nehmen? Wird mein angehender Schwiegervater den von mir vorgeschlagenen Brautpreis akzeptieren? Soll ich eine Reise antreten? Soll ich ein Feld mit Sesam oder Gerste bepflanzen? Werden Heuschrecken meine Ernte vernichten?

Die Zeichen am Himmel – die Gestirne waren Götter – ergänzten die Zeichen in der Leber. Die enge Verwandtschaft von Leber und Sternenhimmel im Denken der Babylonier und Assyrer gründete auf Schöpfungsgeschichten, wonach Himmel und Erde ursprünglich eins gewesen, dann aber, „wie zwei Hälften eines Stockfischs“, getrennt worden seien und sich jetzt als zusammengehörige Hälften desselben Kosmos gegenüberlägen. Der babylonische Schöpfungsmythos Enuma elisch erzählt, dass der Gott Marduk aus dem Leichnam der von ihm getöteten Urgöttin Tiamat Himmel und Erde geformt und in ihrem Bauch den Himmel gewölbt habe. Somit lag nahe, dass die Organe im Bauchraum und die Sterne nach denselben Grundsätzen gestaltet waren. Das Große und das Kleine, der Himmel und die Lebewesen, die Planeten und die inneren Organe, Makro- und Mikrokosmos, waren miteinander verbunden und spiegelten sich ineinander. Die kosmischen Gesetze schlossen auch die menschlichen Angelegenheiten mit ein, die somit unverrückbar feststanden.

Für den Blick in die bereits feststehende Zukunft bot die Astrologie allerlei Vorzüge. So mussten die Zeichen nicht eigens in einer Opferhandlung erbeten werden, sondern standen in jeder klaren Nacht – und solche gab es viele im Nahen Osten – zur Verfügung. Haarklein einzuhaltende Rituale fielen weg, so dass man gar nicht Gefahr lief, die um Auskunft ersuchten Götter zu verärgern. Da die Planeten als die Götter in ihrer Sternengestalt galten, erlaubte ihre Beobachtung Schlüsse zu ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen. Helle oder dunkle Erscheinungen rechts oder links eines Gestirns waren gute oder schlechte Omen. Zunehmend kam es darauf an, wie Gestirne zueinander standen. Die Konstellationen beantworteten nicht nur Ja-Nein-Fragen, sondern verrieten allgemeine Entwicklungen, nach denen man sich nicht erst zu erkundigen brauchte: „Wenn Stern Salbatanu (= Mars) den Planeten (= Saturn) immer wieder umrundet: Das Getreide wird teurer werden.“ Und noch besser: Während die Leber sich nur auf einen einzelnen Fragesteller bezog, bildete der Himmel die Erde als sein Gegenüber vollständig ab. Ein Sternbild stand für ein bestimmtes Gebiet, so dass es dem Kundigen zum Beispiel Entwicklungen im Feindesland offenbarte.

Wegen ihrer Spezialisierung auf politische Fragen dienten die Astrologen ausschließlich Königen und Tempeln. Nach anfänglicher Konkurrenz arbeiteten sie zur Zeit Assurbanipals schon längst eng zusammen. Die Eingeweideschauer schenkten mittlerweile auch dem Zeitpunkt Beachtung, in welchem ein bestimmtes Zeichen auftrat. Die zuvor eher vage Gleichsetzung der zwölf begutachteten Leberregionen mit dem Tierkreis wurde nun perfektioniert: Jede Region entsprach einem Gott und einem Monat. Experten beider Richtungen wühlten in ihren Archiven, verglichen ihre Ergebnisprotokolle und harmonisierten die verschiedenen Anzeichen; es entstanden umfangreiche Wenn-dann-Listen, insbesondere zu Himmelszeichen, Planetenständen, der Wetterlage und der Preisentwicklung, die eng mit den Ernteergebnissen zusammenhing. In den langen, genau protokollierten Beobachtungen entdeckten die Astrologen langfristige astronomische Zyklen und konnten Sonnen- und Mondfinsternisse vorhersagen. Die Astronomie begann ihre Karriere als Magd der Astrologie – mit Folgen bis heute. Die Einteilung des (Himmels-)Kreises in 360 Grad und die Sieben-Tage-Woche gehen auf babylonische Politik- und Lebensberater zurück.

Der Alte Orient fuhr offensichtlich gut mit seiner Prognostik. Die blühenden Länder beherbergten die Metropolen ihrer Zeit, die Völker im Westen schauten zu ihnen auf. Griechen und Römer übernahmen die Praktiken, und ganz zu Recht galten ihnen die Babylonier als Erfinder und Meister der Wahrsagekunst. Der griechische Historiker Diodor schrieb im ersten Jahrhundert vor Christus: „Seit langer Zeit schon beobachten sie die Gestirne, wissen über deren Bewegung und die ihnen innewohnenden Kräfte besser Bescheid als alle Menschen und vermögen daher aus diesen vieles den Menschen über die Zukunft vorauszusagen (…). Sie sagen auch Privatleuten die Zukunft voraus, und dies so treffend, dass der, der es einmal erlebt hat, staunt, und es für etwas Übermenschliches hält.“2

image

Bruchstück einer Sternen-Tafel aus der Bibliothek des Assurbanipal

Götterzeichen im Krieg

Die Griechen, als Begründer der Wissenschaften dem Westen in guter Erinnerung, pflegten intensiv Leberschau und Sternenkunde, sie hatten einen festen Platz in Politik und Kriegswesen. Den präzisen Umgang mit diesen Wissensquellen lernten sie vom Alten Orient, dessen Techniken präzise überliefert sind. In den griechischen Texten wiederum wird gelegentlich sichtbar, wie sie mit dem so gewonnenen Wissen umgingen.

Der Geschichtsschreiber Xenophon berichtet aus eigener Anschauung über einen Feldzug im vorderen Asien und die Verwendung divinatorischer Zeichen. Im Jahr 399 v. Chr. befanden sich mehrere tausend griechische Söldner auf einem gefahrvollen Marsch. Prinz Kyros hatte sie während eines innerpersischen Thronstreits angeworben, war dann aber in der Schlacht bei Kunaxa getötet worden, so dass die Kämpfer auf sich allein gestellt den Heimweg antreten mussten. Nach monatelangem, verlustreichem Marsch durch das feindliche Mesopotamien und die Gebirge Kleinasiens hatten die griechischen Söldner die rettende Küste des Schwarzen Meeres fast erreicht. Nun war die Lage mehr als bedrohlich. In den umliegenden Bergen lauerte das Aufgebot der Bithynier, die Vorräte waren nahezu verbraucht. Sollten die Männer vorrücken und ausschwärmen, um Nahrung zu beschaffen?

Die Organe der Opfertiere sprachen dagegen, also wurde weiter geopfert, bis kein Opfertier mehr vorhanden war. Xenophon, selbst einer der Anführer, sprach daraufhin vor dem zur Beratung versammelten Heer: „‚Vielleicht haben sich die Feinde zusammengezogen und wir müssen kämpfen. Wenn wir also das Gepäck auf einem festen Platz zurückließen und in Schlachtordnung vorrückten, so würden uns die Opfer vielleicht günstiger sein‘ – Als die Soldaten dies hörten, schrien sie: Es sei kein fester Ort nötig, man solle nur aufs Eiligste opfern. Da man nun keine Schafe mehr hatte, wurden Zugochsen gekauft und geopfert. Xenophon ersuchte den Arkadier Kleanor, sich gründlich auf eine Unternehmung vorzubereiten, falls jetzt die Opfer günstig wären. Allein auch diesmal waren sie es nicht.“3

Am nächsten Morgen stand Xenophon sehr früh auf, opferte erneut und erhielt sogleich ein vielversprechendes Ergebnis. Und besser noch: „Schon am Ende der Zeremonie erblickte der Seher Arexion aus Parrhasia einen Glück verheißenden Adler und forderte Xenophon auf, die Truppen anzuführen.“ Hatte Xenophon das Opfer in aller Frühe vollzogen, um unbeobachtet das gewünschte Ergebnis zu gewinnen? Auszuschließen ist das nicht, denn schon bei einem anderen Opfer war Xenophon verdächtigt worden, dem Seher „die Worte in den Mund gelegt“ zu haben. Es erscheint jedoch wahrscheinlicher, dass er, wie er schon am Vortag empfohlen hatte, das Ritual in einer Situation vollziehen wollte, die ein günstiges Vorzeichen versprach. Vielleicht opferte er so früh, um den gesamten Tag nutzen zu können. Am Ende besiegten die Griechen die Einheimischen und raubten reichlich Feldfrüchte, Vieh und Menschen, ehe sie per Schiff zurück nach Westen gelangten.

Xenophon zog die Orakel außerdem für seine persönlichen Angelegenheiten zu Rate. Er hatte ursprünglich rein beobachtend an dem Feldzug teilgenommen, wurde aber im Laufe des Unternehmens nach dem Tod der Generäle zu einem der Heerführer gewählt. Später trug ihm das Heer den Oberbefehl an. Das Angebot reizte ihn, aber er zweifelte. Also befragt er mit Hilfe eines Leberschauers Zeus. „Da Xenophon also opferte, gab ihm die Gottheit sehr deutliche Winke, weder um den Oberbefehl anzuhalten, noch ihn, wenn er ihm auch übertragen würde, anzunehmen.“4 Seinen Lehrer Sokrates zitiert er so: „(Sokrates) sagte, was die Götter für den Menschen lernbar hielten, sollten wir lernen, und was den Menschen nicht klar sei, sollten wir von den Göttern durch Weissagung lernen: denn die Götter geben jenen Zeichen, denen sie gnädig sind.“5 Die Gründergestalt der abendländischen Philosophie begreift hier die Weissagung als selbstverständlichen und zuverlässigen Zugang zu entscheidungsrelevanten Informationen.

image

Xenophon

Leber- und Vogelschauer gehörten in den sieben Jahrhunderten nach Xenophon zum Stab eines jeden größeren griechischen und römischen Heeres. Nicht nur während des Krieges, auch in den Entscheidungen vor einem Feldzug hatten die Vorzeichen ihren Platz. Xenophons älterer Historikerkollege Thukydides deutet dies in seiner Darstellung des Peloponnesischen Kriegs an. Im Jahr 413 erfuhren die Athener vom Scheitern der äußerst ehrgeizigen Expedition gegen Syrakus. Erst wollten sie die Nachricht kaum glauben, dann „waren sie wütend auf diejenigen unter den Rednern, die sich an der Kampagne für die Expedition beteiligt hatten – als ob die Menschen nicht selbst den Beschluss gefasst hätten –, richteten ihren Zorn auch gegen die Seher und Orakeldeuter und alle, die ihnen damals mit Verweis auf göttliche Winke Hoffnung auf die Eroberung Siziliens gemacht hatten“.6 In den Reden vor dem Feldzug hatten die athenischen Politiker die Erfolgsaussichten der Unternehmung äußerst unterschiedlich eingeschätzt. Für die Bürger war es also darum gegangen, die vorgetragenen Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Und die Weissagung lieferte genau diese Art von Information.

Die Entscheidung betraf den Großteil der Abstimmenden auf das Direkteste – sie würden in dem Krieg, den sie beschlossen, selbst kämpfen. Die Bürger Athens – Frauen, Sklaven und Fremde gehörten nicht dazu – waren gleichermaßen politischer Souverän, Streitmacht und Kultgemeinschaft. Sie entschieden gemeinsam, fochten gemeinsam und opferten gemeinsam den Göttern, so auch zum Dank für den Sieg in der Schlacht. Das meiste von den Opfertieren aßen sie selbst, ein Fest für Athene war ein großes Schlacht- und Grillfest mit viel Rotwein. Je größer der Sieg und die Beute, desto rauschender die Feier – was mit dem Opfer zum Zweck der Leberbegutachtung begann, endete mit Dankesopfern. Götter und Menschen bildeten eine politisch-kultische Gemeinschaft, sie triumphierten gemeinsam und verewigten einander. Der enge Zusammenhang zwischen den zahlreichen Tieropfern und der Eingeweideschau verankerte diese Form der Weissagung fest im Leben der Stadt.

Thukydides selbst hielt wenig bis nichts von der Weissagung und schildert, wie verhängnisvoll sich der Zeichenglaube auswirken konnte. Als die Lage der Athener vor Syrakus sich immer mehr verschlechterte, beschlossen sie Aufbruch und Heimkehr. Als alles bereit war, ereignete sich eine Mondfinsternis. Die verunsicherten Soldaten wollten abwarten, allen voran ihr Befehlshaber Nikias, der sich zwei Jahre zuvor in der Volksversammlung verzweifelt gegen das Unternehmen ausgesprochen hatte. Dieser aber „nahm es mit Götterzeichen und solchen Dingen ohnehin übertrieben genau“ und wollte unbedingt die von den Zeichendeutern empfohlenen dreimal neun Tage abwarten. Dieses Zögern führte letztlich zum Untergang der Streitmacht und der Hinrichtung des in Gefangenschaft geratenen Nikias.

Leicht entgeht uns, dass die Griechen jener Epoche nicht nur richtungsweisende Gedanken formulierten und beeindruckende Kunstwerke schufen, sondern auch kriegslüstern, versoffen, rachsüchtig und leichtgläubig waren. Und sie waren auf eine uns fremde Art religiös. Nachweislich haben längst nicht mehr alle von ihnen die Götter ernst genommen, die, wie Zeus, von ihrem Vater erst verschlungen wurden und diesen dann kastrierten, oder, wie Apollon, einem musischen Konkurrenten die Haut abzogen, oder, wie die meisten von ihnen, sterblichen Frauen nachstellten. Ihre Zweifel bewegten die Menschen jedoch in aller Regel nicht dazu, die Ansprüche der Unsterblichen zu ignorieren. Wer nämlich den Göttinnen und Göttern, die man mit dem eigenen Gemeinwesen identifizierte, nicht die gebotene Ehre erwies oder sich gar über die heiligen Handlungen lustig machte, rüttelte an den Pfeilern der staatlich-kultischen Ordnung.

Zu den die Ordnung zementierenden Ritualen gehörten auch die Weissagungen. Jedem stand offen, in allen möglichen Lebenslagen ihren Rat einzuholen; für staatliche und militärische Angelegenheiten gehörte dies zum selbstverständlichen Vorgehen und hatte bei den Abstimmungen im demokratischen Athen großes Gewicht. Orakelsprüche wurden diskutiert, Opferschauen mit Sicherheit gelegentlich manipuliert, wie schon der Verdacht gegen den zeichengläubigen Xenophon zeigt, der vergeblich vorschlug, durch kluges Handeln ein gutes Zeichen zu erhalten. Trotz mancher Skepsis hatten die Zeichen die Kraft, die Menschen erst zum Krieg zu verführen und dann grausam scheitern zu lassen. Wo in den Köpfen dieser Menschen die Grenze zwischen dem Abwägen des Ersichtlichen und dem Wink der Unsichtbaren verlief, können wir nur ahnen. Anders sieht es bei den Römern aus, wo die Rolle der Weissagungen im politischen Leben während der späten Republik wesentlich deutlicher hervortritt.

Römische Verhältnisse

Das Jahr 56 vor der Zeitenwende steht unter schlechten Vorzeichen. Es wurde von einem von Norden nach Süden schießendem Lichtstrahl berichtet, von einem in die Stadt gelangten Wolf, von durch Blitzschlag getöteten Bürgern, von unterirdischem Lärm in Latium, von einem kleinen Juno-Tempel, der sich von Osten nach Norden gedreht hatte. Die Götter Jupiter, Saturn, Neptun, die Himmelsgötter und Tellus, die Mutter Erde, bekundeten auf diese Weise ihre Kränkung. So stand es im Gutachten der Leberschauer, das der Senat angefordert hatte, um die Ursachen der bösen Zeichen herauszufinden.

Marcus Tullius Cicero, politischer Aufsteiger und prominente Figur der adeligen Optimaten-Partei, muss reagieren, denn die Aussagen der Leberschauer scheinen auf ihn als Verursacher der bösen Omen hinzudeuten. Der berühmte Redner zitiert die Experten in seiner Verteidigungsrede Punkt für Punkt. Demnach seien verunreinigte Spiele zu Ehren der Götter eine Ursache der Omen gewesen, was Cicero auf die Festspiele zu Ehren der Mutter Erde bezieht. Dabei habe nicht etwa bloß ein Tänzer seinen Tanz unterbrochen, sei trotz Verbots ein Waisenkind vor Ort gewesen oder habe ein Beteiligter ein falsches Wort gesprochen, nein, weit schlimmer. Kein anderer als Ciceros Widersacher Clodius, der für diesen Kult verantwortliche Beamte und außerdem ein allseits berüchtigter Unruhestifter, habe die ehrenwerten Bürger durch ihm ergebene Sklaven von der Feier ferngehalten, was das Beben der Erde – die Unmutsäußerung der Erdgöttin – erkläre.

Cicero erinnert daran, dass Clodius sechs Jahre zuvor für einen haarsträubenden Skandal gesorgt hatte. Während der Feier für die Bona Dea, die damals in Gaius Julius Caesars Villa stattfand und an der allein Frauen teilnehmen durften, war er als Frau verkleidet dort eingedrungen, laut Gerüchten, um sich mit der Frau des Hausherrn zu vergnügen. Dieser Frevel sei keineswegs gesühnt, wie Clodius behaupte. Dass dieser anschließend vor Gericht freigesprochen worden sei, gehe nämlich allein auf die Bestechung des Gerichts zurück. Das Gutachten warne ferner davor, so Cicero weiter, dass den Senatoren ein Blutbad drohe, wenn sich die führenden Männer entzweiten. Die Zwietracht säe natürlich Clodius, der sich der Respektlosigkeit gegenüber den Göttern schuldig gemacht habe, gewalttätige Banden anführe, reihenweise Gesetzesverstöße begangen habe und käuflich sei.

Was sich für das demokratische Athen nur erahnen lässt, ist für die späte Römische Republik wörtlich überliefert: Weissagungen sind eine allgemein anerkannte Quelle von höherem Wissen, die man nicht einfach beiseite wischen darf. Die Feststellung göttlicher Zeichen und ihre Sühnung sind tief im Staatsleben verankert. Noch die kleinsten Verstöße gegen die Kultvorschriften können den Zorn der Unsterblichen anziehen. Und die Botschaften der Götter und ihre Deutung sind scharfe Waffen in politischen Machtkämpfen. Denn Ciceros Botschaft, die er aus der Leberschau ableitet, ist klar: Clodius, der Frevler am Staat und an den Göttern, muss weg!

Die Staatsvorzeichen

Neben den Leberschauern gab es römische Weissagungsbeamte, zum Beispiel die Fünfzehnmänner, die in besonders bedrohlicher Lage die uralten, geheimnisvollen Sibyllinischen Bücher einsahen, um Abhilfe gegen den göttlichen Zorn zu finden. Die Auguren bezeichneten mit dem Krummstab, ihrem Amtssymbol, vier Himmelsregionen und hielten Ausschau, ob sich dort Vögel bestimmter Arten zeigten. Sie beobachteten auch, ob die heiligen Hühner des Mars fraßen und dabei Futter aus ihren Schnäbeln auf den Boden fiel. Sie registrierten Zeichen des Himmels, und wenn sie Donner meldeten, konnten keine Volksversammlungen stattfinden. Die amtlichen Zeichendeuter konnten somit Abstimmungen vertagen, was einem Vetorecht gleichkam. Cicero nennt ihr Amt deshalb einmal das mächtigste im Staat.

Nicht nur das Kollegium der Auguren, auch die Spitzenbeamten mussten die Grundzüge der Weissagung beherrschen, um Maßnahmen in Krieg und Frieden regelgerecht anzuordnen. Die Rechte der Konsuln reichten sogar besonders weit, da sie schon vor einer Versammlung den Himmel beobachten durften. Zum Ende ihres Amtsjahres legten sie dem Senat die in demselben beobachteten Zeichen vor, der dann deren Deutung und Entsühnung besprach. Den Vollzug übertrugen die Senatoren wiederum den Konsuln. Jahr für Jahr wurden die Vorzeichen auf Tafeln eingetragen, woraus sich die römische Geschichtsschreibung entwickelte, als die Schreiber bemerkenswerte Ereignisse eines Jahres den Listen beifügten. Kultische Aufgaben gehörten also fest zum Amt des Konsuls, während umgekehrt die Auguren Zuständigkeiten im Bereich des Handels hatten.

In besonders schweren Krisen genügten die üblichen Sühneleistungen und Prozessionen nicht mehr. Nach der vernichtenden Niederlage bei Cannae im Jahr 216 v. Chr. unterwarf sich die römische Führung uneingeschränkt den Hinweisen der Seher, die ein Vergehen aus dem Jahr 220 für die Niederlage verantwortlich machten. Damals habe einer der römischen Befehlshaber in Cannae einen besonders hübschen Knaben dazu ausgewählt, auf dem Triumphwagen die Attribute des Jupiter zu halten. Dessen eifersüchtige Gattin Juno habe sich dafür bei Cannae gerächt. Eine Gesandtschaft ging nach Delphi, wo das Orakel die Verführung zweier zur Keuschheit verpflichteten Priesterinnen der Göttin Vesta anzeigte. Eine wurde nach altem Brauch lebendig begraben, die andere beging Selbstmord. Die Sybillinischen Bücher rieten zu einem Menschenopfer, so dass ein keltisches und ein griechisches Paar in einem unterirdischen Verließ ohne Versorgung dem Tod überlassen wurden. Diese äußerste Maßnahme durften die Römer als Bestätigung ihrer politisch-religiösen Vorstellungen auffassen, denn Hannibal kam nicht nach Rom und verlor den Krieg.

Die Krise