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FLORIAN SCHEUBA

SCHRÖDINGERS ENTE

WARUM EINE LÜGE KEINE MEINUNG IST

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INHALT

SCHRÖDINGERS ENTE
– oder warum eine Lüge keine Meinung ist

DAS IST KEINE ÜBERSCHRIFT

DER FAKE-NEWS-FAKE

WER 100.000 MAL LÜGT

FACEPALM STATT FACEBOOK

FORSCHUNG DURCH FÄLSCHUNG

ZEITUNG FÜR SCHREIBER

ICH WILL, ICH WILL, WAS IHR NICHT WOLLT

DIREKTESTE DEMOKRATIE

WOHNEN KANN SICH LOHNEN

ANSICHT STATT AUFSICHT

ERFREUT UNS DRITTE!

TRAUMJOB INFORMATIONSMAKLER

UNTREUE IST DOCH KEIN LEERER WAHN

BIS WANN NOCH ZEIT IST

DIE SCHAM DER BESCHENKTEN

WENN DER FLEISCHMANN ZWEIMAL KLINGELT

ORF FÜR SIE

Orf Wie ORbán-Fernsehen

HALTET DEN DIEB?

DER FLUCHT- UND NACHBARSCHAFTSHELFER

DER ROSSTÄUSCHER

FAMILIENBANDE

MEIN NAME IST HASAN

ERDOĞANISCH FÜR ANFÄNGER

HERR KARL IST KEIN CHARLIE

WÜRSCHTL-LÄSTERUNG

GRENZEN DER KARIKATUR

BUMSTI RÄCHT DIE GRATIS-BUMSER

IDIOTENTUM ALS RELIGION

DANKE HC!

UNSCHULDSZUMUTUNG

DIE NOCH GEHEIMEN GRASSER-MAILS

BEI DEN GANZ GROSSEN

KAPPERL ODER TARNKAPPE

UNERHÖRTE SIGNALE

ABWRACKPRÄMIEN

VOM RAND INS ZENTRUM

ERSATZHANDLUNG MIT ERSATZLEUTEN

HASSPREDIGER UND SCHWEINEPRIESTER

ELITE FÜR ALLE

DER VERKANNTE SYSTEMERHALTER

GESCHENKT IST DOCH ZU TEUER

RACHE STATT RECHT

FASCHING ALS WETTKAMPF

DER ABLENKUNGSGORILLA

HÄUPTLING UND MEDIZINMANN

ZEIT FÜR VERLÄNDERUNG

TO BEPS OR NOT TO BEPS

WER NICHT ZAHLT, SCHAFFT AN

WIR HANDELSHEMMNISSE

BURKA-VERBOT FÜR CHLORHÜHNER

VON BÜCHERN UND PÜLCHERN

DER VOGEL IST EIN HUND

NEUN JAHRE AUF DER SEIFE

SCHMIER-KOMÖDIENSPIELE

WAS LIEGT, DAS PICKT

WOHIN FLIEGST DU, WAHRHEIT?

OLYMPIA-AUSSCHEIDUNG

DROHENDE AUSLÄNDERKRIMINALITÄT

1. APRIL 2018

IS-SCHLÄFER IM INNENMINISTERIUM?

MANN ODER MAUS?!

MUCKSMÄUSCHENSTILLE PRESSEFÖRDERUNG

NICHT DER ERSTE

KICK IT LIKE BASTI

MORAL IN BEWEGUNG

RICHTIGSTELLUNGEN

Zugabe:

JACKE WIE HOSE

Und noch eine Zugabe:

50 JAHRE DER STANDARD

VERBEUGUNG

NAMENSREGISTER

SCHRÖDINGERS ENTE

– oder warum eine Lüge keine Meinung ist

Auf die oft gehörte Frage „Ist nicht mittlerweile die Wirklichkeit das beste Kabarett?“ pflege ich stets zu antworten, dass es sehr wohl noch einen Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Komik gibt. Aber ich muss gestehen: Es passiert ab und zu, dass ich mir selbst nicht mehr sicher bin, ob man mich gerade mit einer beabsichtigten satirischen Idee zu erheitern versucht, oder ob das tatsächlich ernst gemeint sein soll.

Einen solchen Moment erlebte ich am 21. Jänner 2017. Es begann mit Sean Spicer, dem Pressesprecher des Weißen Hauses, der Zweifeln an den Angaben Präsident Trumps über die Besuchermenge bei seiner Amtseinsetzung mit den Worten entgegnete, es sei „das größte Publikum jemals bei einer Amtseinsetzung gewesen, sowohl physisch anwesend, wie weltweit“.

Kurz darauf wurden Fotos der Amtseinsetzung Trumps und jener seines Vorgängers Obama veröffentlicht, durch die Spicers Behauptung schonungslos als Lüge entlarvt wurde. Mit dieser Erkenntnis konfrontiert erklärte nun Trumps Chefberaterin Kellyanne Conway, Spicer hätte „alternative Fakten“ präsentiert. Was dieser wiederum zwei Tage später mit folgenden Worten bestätigte: „Sometimes the White House can disagree with the facts.“

Nun ist der Begriff „alternative Fakten“ für sich genommen ähnlich sinnvoll wie „viereckiges Dreieck“ oder „vegetarischer Schlachthof“. In seiner gestelzten Bemühtheit, den Sachverhalt „Lüge“ zu umschreiben, erinnert er an gewisse sprachliche Stilblüten der „Politischen Korrektheit“ – ein Themenfeld, das wiederum überhaupt nicht zu Donald Trump zu passen scheint. Aber vielleicht findet ja hier ein Umdenken statt, und Trump wird in Zukunft „politisch korrekte“ Ausdrucksweise für den Umgang mit ihm selbst einfordern. Sollte dies der Fall sein, dürfen wir vermutlich bald mit weiteren Sprachregelungen rechnen. Statt „Bankrotteur“ wird es dann „bilanzbuchhalterisch anders Begabter“ heißen, „statt „Rassismus“ sagt man „Fremdpigment-Unverträglichkeit“, „Pussygrabbing“ wird als „vaginal orientierte Haptik“ bezeichnet, und „Arschloch“ wird durch „charakterlich Herausgeforderter“ ersetzt.

Es gibt allerdings einen Aspekt in der Groteske um „alternative Fakten“, bei dem – mir zumindest – das Lachen vergeht. Zwei amerikanische Wissenschaftler haben bekennenden Trump-Unterstützern die beiden Fotos der Amtseinsetzungen Trumps und Obamas gezeigt, und dazu die Frage gestellt: „Auf welchem dieser Bilder sehen Sie mehr Menschen?“

Jeder siebente hat geantwortet: „Auf dem von 2017“

Muss ich diese Menschen verstehen?

Und wenn mir das nicht gelingt, bin ich dann elitär?

Oder anders formuliert: Wenn man mir ins Hirn scheißt, bin ich dann nur ein Opfer? Oder muss ich mir die zumindest Frage gefallen lassen: Warum hast Du nicht rechtzeitig den Kopf weggezogen?

Nur um es kurz klarzustellen: Die Wahrheit ist kein für Menschen erreichbares Ziel, sondern eine Richtung. Mit der Wahrheit ist es ein bisschen so wie mit dem Erdkern. Es ist Menschen technisch bislang nicht möglich, bis zum Erdkern vorzudringen. Aber wir wissen: Wenn wir es versuchen wollen, müssen wir nach unten graben.

Und nicht nach oben.

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Angelobung Obama, 20.01.2009

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Angelobung Trump, 20.01.2017

Deshalb ist die Behauptung, dass auf dem Foto von 2017 mehr Leute zu sehen sind, auch keine Meinung, sondern eine Lüge.

Wenn wir aufhören, zwischen mehr und weniger wahren Aussagen zu unterscheiden, geben wir nicht nur das Projekt der Aufklärung auf, sondern auch jenes der Zivilisation.

Warum muss man solche Selbstverständlichkeiten heutzutage überhaupt betonen? Vielleicht liegt es ja an einem durch Fehlinterpretation von Wissenschaft ausgelöstem Missverständnis, beruhend auf dem als „Schrödingers Katze“ bekannt gewordenen Gedankenexperiment, in dem eine Katze nach den Regeln der Quantenmechanik gleichzeitig tot und lebendig sein kann.

Ein Zustand, der aber in der uns zugänglichen Welt nicht vorkommt. Deshalb waren bei der Amtseinsetzung Donald Trumps auch nicht mehr und weniger Menschen als bei jener von Obama 2009 anwesend – sondern nur weniger.

Meldungen, wonach es mehr gewesen seien, sind leicht als sogenannte „Enten“ zu entlarven. Ungeachtet dessen hat sich aber in der heutigen Medienwelt – befeuert durch die Allgegenwart sozialer Medien und den unzähligen Möglichkeiten ihres Missbrauchs – ein Umgang mit Fakten etabliert, den man als „Schrödingers Ente“ bezeichnen könnte. So erlogen kann eine Behauptung gar nicht sein, dass sich nicht irgendwo wer findet, der sie mit dem Argument „Das ist eben meine Wahrheit“ verteidigt und deshalb mit Aussagen über die Realität gleichbehandelt wissen will.

Gegen diese Form der Gleichbehandlung richtet sich dieses Buch. Es enthält einige meiner Kolumnen, die ich in den vergangenen fünf Jahren für die Tageszeitung „Der Standard“ geschrieben habe. Ich habe sie nicht chronologisch gereiht, sondern versucht, Querverbindungen aufzuzeigen und sie in den Überleitungen um die jüngsten Entwicklungen zu ergänzen. Gemeinsam ist diesen Texten meine darin zum Ausdruck kommende Überzeugung, wonach das heimliche Motto der Jünger des Postfaktischen „Es lügen doch eh alle!“ ein großartiges Geschenk für ganz bestimmte Leute ist: Nämlich für jene, die tatsächlich lügen.

Dafür, wie weit man es mit konsequentem Lügen bringen kann, hat Donald Trump neue Maßstäbe gesetzt. Es war interessant zu beobachten, wer sich hierzulande darüber besonders gefreut hat.

DAS IST KEINE ÜBERSCHRIFT

Auf der Suche nach Erklärungen für das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl kann sich ein Blick ins Archiv lohnen. Konkret in die Ausgabe des „Kurier“ vom 3. November 2006. Dort findet sich folgende Meldung:

„Aus Protest gegen ihren Bürgermeister haben die Bewohner von Müsküle im Nordwesten der Türkei absichtlich vier als Dorftrottel verschriene Männer in den Gemeinderat gewählt. Die Neo-Politiker sind begeistert, aber heillos überfordert. Der Bürgermeister unternahm angesichts der Schmach einen Selbstmordversuch – schoss sich aber nur in den Arm.“

Dazu muss man lediglich anmerken, dass die gedemütigten Demokraten sich nicht nach der Wahl in den Arm, sondern schon vorher mit der Festlegung auf Clinton ins Knie geschossen haben. Ansonsten trifft die Geschichte den Kern der Sache punktgenau, der da lautet: Protest ist Protest ist Protest.

Wer seine Wahlentscheidung konsequent nach diesem Prinzip ausrichtet, dem ist es letztlich vollkommen wurscht, ob er dafür seine Stimme Beppe Grillo, Frauke Petry, Norbert Hofer, Donald Trump, Kim Kardashian, Long Dong Silver, Bernie Madoff, Felix Baumgartner, dem Hustinettenbär oder einer alten Campingliege gibt.

Zu dieser Einsicht hat sich faszinierenderweise sogar Donald Trump im Januar 2016 bei einem Vortrag im US-Bundestaat Iowa selbst durchgerungen, als er feststellte: „Ich könnte mitten auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen und würde dadurch keinen Wähler verlieren.“

Abgesehen von der aus diesem Zitat folgenden Erkenntnis, dass es sich bei dem Erschossenen um keinen Trump-Wähler handeln darf, kann man festhalten: Das Motto „anything goes“ gilt hier also wirklich für „anything“, und das wiederum erklärt die Begeisterung über Trumps Sieg bei Leuten wie Heinz-Christian Strache. Jahrelang musste er sich anhören, eine nicht nur beim Sprach- und Stimmgebrauch misslungene Haider-Kopie zu sein, die versucht ohne Talent, Intelligenz und Charisma des Originals durchzukommen. Nun kann er diesen Kritikern ein herzhaftes „Wer lasst fragen?“ entgegenschmettern.

Sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein äußerte sich bereits am vergangenen Wochenende in einem Facebook-Eintrag des FPÖ-Obmanns, in dem er sich vorgeblich auf Trump bezieht, offensichtlich aber einen Frontalangriff auf den parteiinternen Rivalen Norbert Hofer reitet, dem Strache mit folgenden Worten in den Rücken fällt: „Wie wäre es, wenn man einfach ein demokratisches Wahlergebnis und den Willen der Wähler einmal respektiert und als Unterlegener auch akzeptiert, verloren zu haben.“

Der parteiinterne Machtkampf ist also eröffnet. Falls Strache sich auch dabei an Trump orientiert, werden wir wohl bald hören, dass Hofer nicht in Österreich geboren wurde, den IS gegründet hat, wo er die Paraglider-Selbstmord-Schwadrone kommandiert hat und eigentlich ins Gefängnis gehört.

Denn wenn uns der amerikanische Wahlsieg des psychopathischen Bankrotteurs etwas gelehrt hat, dann ist es die Falsifikation der These, dass Lügen ab einem gewissen Absurditätsgrad von niemandem mehr geglaubt werden.

Und deshalb: Sollte Ihnen dieser Text nicht gefallen haben, gibt es eine gute Nachricht für Sie: Er ist nämlich nie erschienen. Ich habe ihn nie geschrieben. Es gibt ihn gar nicht. Und dafür gibt es Beweise: Diese Kolumne hat nicht nur keine Überschrift, sondern auch kein Ende und hört deshalb niemals auf!

Nur zu Sicherheit: Den Facebook-Eintrag von HC Strache gab es wirklich. Die Bemerkung über die vom „Unterlegenen zu akzeptierenden Wahlergebnisse“ ließ, nachdem die FPÖ gerade die von Hofer verlorene Bundespräsidentenwahl angefochten hatte, eben unterschiedliche Interpretationen zu.

Meine Behauptungen bezüglich der Überschrift, der gleichzeitigen Nicht-Existenz und Unendlichkeit der Kolumne hingegen, erfüllen alle Kriterien von Fake-News. Wobei man diesen Begriff auch gleich hinterfragen sollte.

DER FAKE-NEWS-FAKE

Nein, früher war nicht alles besser.

Aber manches schon. Zum Beispiel das:

„Es existiert ein Mensch, der alleine schuld an allen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen von heute hat.“

„Wer?“

„DER STEINSCHEISSER-KOARL!!!“

Wer Zeuge eines solchen Dialogs wurde, hatte früher zwei Reaktionsmöglichkeiten. Kenner des alten Tabuwort-Spiels, in dem es darum geht, den Mitspieler zum Stellen der Frage „Wer?“ zu verleiten, woraufhin man mit dem Ausruf „der Steinscheißer-Koarl!“ seinen Triumph feiert, ließen sich ein anerkennendes „G‘schossen“ entlocken. Alle anderen reagierten mit belustigter oder distanzierter Ratlosigkeit.

In unseren Tagen ist noch eine dritte Möglichkeit dazugekommen: das Ernstnehmen. Es mündet nahezu zwangsläufig in auf diversen Internet-Portalen expliziten Enthüllungen, wonach es sich bei Karl Steinscheißer um einen von den Bilderbergern, George Soros, Andrea Merkel und der Homosexuellen-Lobby gedungenen Ostküsten-ISCIA-Trippelagentenfreimaurer handelt, dessen Name ganz eindeutig auf Karl Marx und den „Stein der Weisen von Zion“ Bezug nimmt.

Diese Tendenz zur Verblödung lässt sich noch anhand eines anderen Beispiels illustrieren. Wer früher den Satz „Das steht aber so in der ‚Prawda‘“ aussprach, gab mit dem Verweis auf die für ihre Realitätsferne legendäre russische Parteizeitung selbstironisch zu erkennen, dass ihm die Zweifelhaftigkeit einer Information bewusst war. Wer sich heute in dieser Art auf „Prawda“-Nachfolger wie „Russia Today“ oder „Sputnik“ beruft, erwartet ernsthaft ernst genommen zu werden.

Begünstigt wird diese Entwicklung noch durch die missbräuchliche Verwendung der Kategorie Fake-News. Unter diesem Begriff versteht man seit den 1980er-Jahren eine satirische Ausdrucksform, bei der eine Pointe im Stil einer Nachrichtenmeldung formuliert wird. Was Satire-Medien wie „Die Tagespresse“ produzieren, sind Fake-News. Meldungen über einen bevorstehenden Atomschlag Israels gegen Pakistan oder die Unterstützung des Papstes für Donald Trump sind keine Fake-News, sondern Lügen. Wenn ich behaupte, dass die Grünen eine Resolution planen gegen die in Nordsee-Filialen übliche Foltermethode des Waterboardings bei Fischen, bin ich Urheber einer Fake-News. Wer aber behauptet, Alexander Van der Bellens Vater war ein Nazi, ist ein Lügner. Oder im konkreten Fall eine Lügnerin, deren verwerfliches Verhalten auch nicht als „b‘soffene G‘schicht“ zu verharmlosen ist.

Darüber hinaus hat die allgemeine Verharmlosung des Lügens mittlerweile sogar dazu geführt, dass Betrug ganz offiziell als Dienstleistung in Form von Computerprogrammen angeboten wird, welche politische Unterstützung durch real nicht existierende Personen automatisiert vortäuschen. In Deutschland hat sich die AfD schon ungeniert zum künftigen Einsatz dieser Methode bekannt, andere werden wohl folgen. Vielleicht könnte man wenigstens die Millionen uns bevorstehenden Lügen-Accounts unter einem Benutzernamen zusammenfassen. Mein Vorschlag wäre: Steinscheißer-Koarl.

Das Geschäftsmodell „Betrug als Dienstleistung“ wird mittlerweile ohne Skrupel und ganz offiziell angeboten. Auch in Österreich. Hier ist ein besonders dreistes Beispiel dafür:

WER 100.000 MAL LÜGT

Als „größten Internetskandal seit Österreich online ist“ bezeichnen Stefan Apfl und Sarah Kleiner ihre Enthüllungen in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Datum“, und man ist geneigt, dieser Einschätzung zuzustimmen: Getarnt durch rund zehntausend Fake-Identitäten hat eine Wiener PR-Agentur mit dem im Geiste Orwells vorbildlichen Telling name „Modern Mind Marketing“ an die 100.000 Postings pro Jahr in verschiedenen Online-Foren gefälscht. Auftraggeber waren unter anderem die Großkonzerne ÖBB, Österreichische Lotterien, TUI oder Red Bull, aber auch Dienstleister mit randständigen Nischen-Angeboten wie beispielsweise die ÖVP Wien. Zwischen vierzig und fünfzig freie Mitarbeiter waren dafür engagiert, sich Namen, Alter und Hobbys fiktiver Personen auszudenken, als welche sie dann die Werbebotschaften der Kunden zu verbreiten hatten. Dabei war es laut internem Konzept „wichtig, nicht den Anschein einer Werbeinformation zu erwecken.“ Um „glaubwürdig zu bleiben“ waren sogar „Rechtschreibfehler erwünscht!“

Das ist höchst professionell. Wer jemals das bizarre Vergnügen hatte, den Originalbrief eines der gängigen „Kronen Zeitung“-Leserbriefschreiber in Händen zu halten, wird dieses vermeintliche Authentizitätsindiz – besonders in Briefen zum Thema „die deutschsprachige Kultur ist dem Untergang geweiht“ – bestätigen können.

Die so ins Netz gestellten Schwindeleien waren nicht immer harmlos. „Wenn du einem Spielsüchtigen in einem Wettforum vorgelogen hast, dass du seit Jahren gut vom Onlinezocken lebst, dann schläfst du nicht so gut“ berichtet eine ehemalige PR-Posterin. Hier lässt sich noch einwenden, dass Selbsterfahrungsberichte über regelmäßige Glücksspielgewinne die gleiche Glaubwürdigkeit haben wie Entführungserlebnisse durch Außerirdische oder Gesundheitstipps à la „bei Kopfschmerzen hilft ein Loch ins Knie bohren und Milch hineingießen“.

Aber es soll auch Fälle von gekauftem Negative Campaigning geben. Und ein nicht zu unterschätzender Kollateralschaden steht den Auftraggebern noch bevor: Solange die gefälschten Postings nicht gelöscht sind – und davon kann derzeit keine Rede sein –, wird auch jeder ehrlich gemeinte Kommentar nicht geglaubt werden. Denn vielleicht gibt es ja real existierende Menschen, die sich noch nie über die ÖBB geärgert haben, ihren Urlaub nur bei TUI buchen, Red Bull trinken, weil es so gut schmeckt oder die ÖVP Wien … äh … gut, man sollte dieses Gedankenexperiment nicht überstrapazieren.

Das von „Modern Mind Marketing“ seinen Kunden versprochene „Online-Reputation-Management“ könnte jedenfalls nach hinten losgehen, ganz abgesehen von möglichen rechtlichen Konsequenzen, die durch Klagen von Mitbewerbern der Auftraggeber ausgelöst werden könnten.

Immerhin verdanken wir dem Agentur-Chef Martin Kirchbaumer jetzt schon die kreativste Umdeutung des Jahres: Bei den bezahlten Fake-Postern handle es sich um „Onlinejournalisten“, die „recherchieren und ihre Meinung äußern“. So gesehen könnte man fortan Taxifahrer als „Car-Sharing-Aktivisten“, Prostituierte als „egalitär idealistische Promiskuitäts-Förderer“ und Lügen durchaus als „Modern-Mind-Reality“ betrachten.

Nach Erscheinen der Enthüllungsgeschichte im Magazin „Datum“ sind drei bemerkenswerte Dinge passiert: Erstens haben in der Geschichte genannte Firmen ihre Inserate im „Datum“ storniert, wodurch dem Magazin ein beträchtlicher finanzieller Schaden entstanden ist; zweitens hat die Agentur „Modern Mind Marketing“ zahlreiche neue Kunden gewonnen, die erst durch die Geschichte im „Datum“ erfahren haben, wo man sich so eine Betrugsdienstleistung kaufen kann; und drittens bieten mittlerweile auch diverse andere Agenturen gefälschte Postings als Kundenservice an.

Fragt sich nur: Warum hat man von dieser Geschichte nicht ganz groß in sämtlichen anderen österreichischen Zeitungen gelesen?

Antwort: Die gefälschten Postings erscheinen vor allem in den Online-Foren der großen heimischen Printmedien. Da diese von der Werbung leben, ist es für sie wichtig, dass diese Online-Seiten oft angeklickt werden. Online-Poster klicken besonders häufig, weil sie immer wieder schauen wollen, ob andere auf ihre Postings reagieren. Wenn sich jetzt plötzlich herumspricht, dass viele dieser Poster gar nicht wirklich existieren, ist das für die Werbung und somit für die Medien eher nicht so erfreulich. Deshalb sind sich bei diesem Thema die weltanschaulich unterschiedlichsten Zeitungen einig darüber, dass man das jetzt nicht an die ganz große Glocke hängen muss.

Wirklich originell in diesem Zusammenhang erscheint ein Kommentar von Frau Katrin Nussmayr in der Tageszeitung „Die Presse“, in dem sie zur Affäre um die Posting-Fälscher behauptet, in Österreich „haben praktisch alle Zeitungen, nicht nur einmal davon berichtet.“ Eine glatte Unwahrheit, die sich mit einem Minimum an Recherche hätte vermeiden lassen. Doch das scheint ein Grundproblem der Autorin zu sein, denn sie gibt auch noch den Namen einer falschen, an der Affäre völlig unbeteiligten Agentur an.

Die richtige Agentur, nämlich „Modern Mind Marketing“, ist nach wie vor aktiv und hat das Posting-Fälschen weiter im Angebot. Aber wie gehen die großen Social-Media-Anbieter mit solchen Problemen um?

FACEPALM STATT FACEBOOK

„Es ist unsere Verantwortung, deine Informationen zu schützen. Wenn wir das nicht können, haben wir diese Verantwortung nicht verdient.“ Dieses Zitat hat ähnliche Aussagekraft wie „wir finden es schön, wenn es dir gut geht und weniger schön, wenn es dir nicht gut geht“, und klingt wie aus einem Schimmelbrief, den alle im Internet aktive Firmen ihren Kunden schicken könnten, die zwischen den Begriffen „Verantwortung“ und „Vertrauen“ nicht unterscheiden können.

Im konkreten Fall beginnt mit diesen Worten ein von Mark Zuckerberg in deutschen Zeitungen geschaltetes Inserat, in dem er sich für den soeben enthüllten, von seiner Firma lange tolerierten Datenmissbrauch bei den Facebook-Usern entschuldigt.

Abgesehen davon, dass öffentliche Bitten um Verzeihung hierzulande noch viel zu selten vorkommen – wann entschuldigt sich beispielsweise die Gemeinde Wien für die Trotteleien beim Bau des KH Nord oder Wolfgang Fellner für sein journalistisches Lebenswerk? –, es schmerzt auch ein wenig, dass österreichische Konsumenten Zuckerberg keine eigene Entschuldigungsanzeige wert waren. Aber vielleicht kommt die ja noch. Hier ein kleiner Textvorschlag:

„Es ist unsere Verpflichtung, wenigstens so zu tun, als würden wir eure Informationen schützen. Wenn wir nicht einmal das schaffen, sollten wir uns nur mehr schamerfüllt die Hände vors Gesicht halten. Facepalm statt Facebook.

Liebe Österreicherinnen und Österreicher, es heißt, ihr durchschaut uneigentliches Sprechen – bei euch ‚Schmäh‘ genannt – rascher als eure nördlichen Nachbarn. Also will ich gleich Klartext reden und eine ehrliche Frage stellen: Warum soll ich mich plötzlich entschuldigen?

Schon vor Jahren wurde bekannt, dass ich einem Freund schriftlich meine Einschätzung verraten habe, warum so viele Menschen freiwillig ihr Leben auf Facebook dokumentieren: Weil sie Vollidioten sind. (Ich habe den Ausdruck ‚dumb fucks‘ verwendet, aber das sollte ich lieber nicht wörtlich übersetzen.) Man kann also wirklich nicht behaupten, ich hätte euch nicht gewarnt. Und das taten auch viele meiner Mitarbeiter. ‚Facebook zerstört Kooperation und zivile Diskussion, fördert Desinformation und Lügen und manipuliert Menschen. Meine Kinder dürfen diesen Scheiß nicht benutzen‘, hat einer meiner ehemaligen Top-Manager unlängst wieder erklärt.

Zum Thema ‚manipuliert‘ gibt es hübsche Zahlen aus Österreich: Von den 2,9 Millionen Kommentaren, die zu eurer letzten Nationalratswahl auf Facebook abgegeben wurden, stammt die Hälfte von gerade einmal 8900 Usern. Über eine Million dieser Kommentare wurden von überhaupt nur 4100 Usern verfasst. Wie viele davon real existierende Menschen waren, weiß niemand.

Verratet das einmal eurer Staatssekretärin im Innenministerium, die neulich gemeint hat, als Gesetzgeber müsse man ‚stärker in Facebook schauen‘, da sich dort ‚die Stimmung in der Gesellschaft widerspiegelt‘. Vielleicht könnt ihr die Dame darüber aufklären, dass Facebook mit der Stimme des Volkes so viel zu tun hat wie eine Flatulenz Anna Netrebkos mit dem Klang der Oper.“

Angesichts solcher Zahlen darf man sich von den sozialen Medien keine Abbildung der Realität erwarten. Aber vielleicht könnte man darauf hoffen, dass noch viel mehr gefälscht wurde, als bislang bekannt. Zum Beispiel im Vorfeld der letzten Nationalratswahl.

FORSCHUNG DURCH FÄLSCHUNG

Selten war die Tröstung „lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ so zutreffend wie im Wahlkampf 2017. Hatten die Enthüllungen über die Machenschaften Tal Silbersteins zunächst einen Schock ausgelöst, so zeigt sich nun, dass sie vieles im Nachhinein zumindest nachvollziehbar erscheinen lassen, was uns auf den ersten Blick nur fassungslos gemacht hat. Wir verdanken diese Einsicht dem PR-Berater Peter Puller, der die von ihm im Auftrag Silbersteins gestalteten Schmutzkübelkampagnen als „professionelles Marktforschungsprojekt“ beschreibt.

Familie PutzIkeaBilla-HausverstandSparWestbahnSchärdinand