image

image

INHALT

1. Vorwort: Feministin sagt man nicht

Die Errungenschaften engagierter Feministinnen und Feministen der letzten Jahrzehnte sind keineswegs etwas, auf dem wir uns heute ausruhen können. Vielmehr müssen wir auch heute sicherstellen, dass sie nicht rückgängig gemacht werden – bis hin zur Selbstaufgabe.

2. Den eigenen Platz finden

Solange auf Panels, die nur mit Frauen besetzt sind, ausschließlich über »Frauenthemen« gesprochen wird, solange hauptsächlich die für uns sprechen, die es nicht zu unseren Gunsten tun, müssen wir die Quotenfrauen sein, die, die aktiv etwas sagen und handeln. Auch, wenn es manchmal verführerischer scheint, sich lähmender Angst zu ergeben.

3. Das Patriarchat, das sind wir

Alles Übel der Welt ging von Männern aus. Das Etablieren faschistischer Regime, Weltkriege, die Verseuchung des Bikini-Atolls durch Kernwaffentests. Doch für den Erhalt des Systems sind eben nicht nur Männer verantwortlich. Das Patriarchat, das sind nicht nur Männer, das sind wir alle. Denn würden wir Frauen für die Vergangenheit sämtliche Handlungsfähigkeit absprechen, könnten wir auch nicht glauben, sie könnten nun etwas ändern, jetzt, wo das Patriarchat ums Überleben kämpft.

4. Hass

Schon die Suffragetten wurden Anfang des 20. Jahrhunderts mit Gegenständen beworfen, man ließ Ratten auf sie los und schickte ihnen hasserfüllte Briefe. Hass auf Feministinnen ist so alt wie der Feminismus selbst. Aber nichts legitimiert Feminismus mehr als die, die ihn und ihre Vertreterinnen und Vertreter bekämpfen.

5. Macht und Gewalt

Das erschütternde Unvermögen, den Unterschied zwischen dem Bekunden von Zuneigung, zwischen einem sich Annähern von zwei Personen und sexueller Belästigung oder gar Gewalt zu erkennen, war wohl immer schon ein Problem, nur wurde zu lange von niemandem verlangt, den Unterschied zu erkennen. Nun enden Karrieren deswegen. Oder man wird zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Wir sind noch lange nicht dort, wo wir sein sollten.

6. Pornografie: Wie die Maschinen

Mann und Frau treffen aufeinander, haben Sex, Mann kommt im Gesicht der Frau. Sein Orgasmus ist Höhe- und Schlusspunkt. Sie ist Mittel zum Zweck. Mainstreampornografie ist ernüchternd unoriginell. Und gewaltverherrlichend. Die Vorstellung einer Sexualität des heterosexuellen Mannes ist die Blaupause für den Großteil der konsumierten Pornos. Und wir verinnerlichen sie mit allen Konsequenzen.

7. Schlachtfeld Körper

Es gibt keinen Körper, dem sich nicht etwas Abstoßendes andichten lässt. Und gleichzeitig eine vermeintliche Lösung für dessen Beseitigung vorgeschlagen werden kann. Und wir kaufen. Die Magazine, die uns einreden, wir seien nicht perfekt und die Cremes, die uns sagen, sie würden dagegen helfen. Wir müssen nicht lernen, unsere Fehler zu lieben. Wir müssen von Grund auf unsere vermeintliche Fehlerhaftigkeit hinterfragen.

8. Feministin sagt man doch

Mitte der 1980er-Jahre starben in Kenia einige Paviane, weil sie kontaminiertes Fleisch gegessen hatten. Und lehrten uns so etwas über Feminismus, Menschlichkeit und Utopien.

Literatur

Weshalb es toll ist, heute Frau zu sein:

Mehr Zeit für das Ausüben von Hobbys aufgrund von Teilzeitbeschäftigung!

(30 % der Frauen in der EU arbeiten in Teilzeit. In Österreich sind es sogar 49,8 %, in Deutschland 46,4 %.)

Keine Verantwortung als Aufsichtsrat oder Geschäftsführerin übernehmen müssen!

(Der Frauenanteil in den Geschäftsführungen der Top 200 Unternehmen in Österreich liegt bei 8,4 %. Bei den Aufsichtsratsmitgliedern sind es 18,5 %, und nur 5 % der großen globalen Unternehmen werden von Frauen geführt)

Ausleben kulinarischer Kreativität!

(Frauen bereiten weltweit 85 bis 90 % aller Mahlzeiten zu)

Selbstbestimmung und keine Kompromisse in Sachen Haushalt und Kindererziehung eingehen müssen!

(Knapp 86 % der Alleinerziehenden in Österreich sind Frauen. In Deutschland sind es 84,1 % (Alleinerzieherinnen mit Kindern ohne Altersbeschränkung) bzw. 87,7 % (Alleinerzieherinnen mit Kindern unter 18 Jahren))

Auch mal das nächtliche Fernsehangebot nutzen können.

(Laut einer US-amerikanischen Studie sorgen Kinder nur für Schlafmangel bei Müttern, nicht bei Vätern.)

Abwechslung durch vielfältige Aufgaben in bezahlter und unbezahlter Arbeit wie das Planen und Besuchen von Events wie Kindergeburtstage oder Elternabende.

(Nur ein Drittel der von Frauen erbrachten Arbeit wird bezahlt)

Gemeinsame Zeit mit Angehörigen!

(Drei Viertel der pflegenden Angehörigen sind Frauen)

Einfach mal eine Auszeit nehmen!

(Nur 19,02 % der Väter gehen in Karenz)

Die Möglichkeit, Namensgeberin einer Straße in der Wiener Seestadt Aspern zu werden.

(Nur 8 % der Straßen in Wien sind nach Frauen benannt. Nun wird darauf geachtet, in neuen Vierteln, Plätzen und Straßen vermehrt Frauennamen zu geben)

Keine Reichensteuer!

(Zwei Drittel der weltweit 1,3 Milliarden Menschen, die in Armut leben, sind Frauen, Frauen machen aber mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung aus – besitzen aber nur 1 % des Eigentums)

1

image

Die Welt könnte anders sein, wenn man sie ließe. Bisher war sie von Männern gebaut, von Männern geprägt. Es ist noch nicht lange her, da durften Frauen nicht studieren, nicht wählen, es ist noch weniger lange her, da mussten Frauen ihre Ehemänner fragen, ob sie arbeiten gehen oder ein Konto eröffnen dürfen und sie durften nachts nicht arbeiten. Vergewaltigung in der Ehe wurde nicht als solche gesehen.

Gesetze wurden von Männern verabschiedet, und das werden sie zu einem großen Teil auch heute noch, Wissenschaft wurde und wird von Männern gemacht – Film, Kunst, Werbung, Literatur. Über Männer, ihre Körper, ihre Lust, ihre Krankheiten wurde geforscht; Frauen, ihre Körper, ihre Lust, ihre Krankheiten vernachlässigt. Das Bild, das die Öffentlichkeit von Frauen hatte, wurde – und wird auch heute noch – zu einem großen Teil von Männern geschaffen, bisher dagewesene Gesellschaftsmodelle und Moralvorstellungen von Männern entworfen und geprägt. »Der Mann hat für Mann und Frau das Bild der Frau bestimmt«, schrieb VALIE EXPORT in ihrem Manifest Women’s Art. Die Frau hat in der Kulturgeschichte zwar Spuren hinterlassen, nur war sie selbst daran kaum aktiv beteiligt. Es ist eine von wenigen für wenige geschaffene Welt und seit mehr als 150 Jahren fordern Frauen nun lautstark eine andere, wollen alles neu, freuen sich über Erfolge und sehen zu, wie sie ihnen zum Teil wieder genommen werden – meistens von Männern, immer öfter auch von Frauen.

Frauen sind vielleicht die einzige Bevölkerungsgruppe, die mit fortschreitendem Alter radikaler wird.

– Gloria Steinem

Die Errungenschaften engagierter Feministinnen und Feministen der letzten Jahrzehnte sind keineswegs etwas, auf dem wir uns heute ausruhen können. Dass sie durchgesetzt wurden, bedeutet nicht, dass sie auch weiterhin bestehen werden. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass man Erfolge zwar feiern, jedoch nie aufhören kann, für ihren Erhalt zu kämpfen. Feminismus als ewige Litanei, ein ewiges Wiederholen gleicher Forderungen, die längst niemand mehr hören kann. Rückschritt verkauft sich dieser Tage besser als Fortschritt. Aus »I have a dream« wurde »Genauso falsch wie die Hetze ist die Träumerei« (Sebastian Kurz). Ja, die Welt könnte anders sein, wenn man sie ließe, und mit dem Ende utopischen Denkens jener, die Machtpositionen besetzen, wohl eher schlechter.

Es ist ermüdend und ein wenig Selbstaufgabe für das größere Ganze: »Ich sehe, wie ich schrumpfe«, schrieb die Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr schon Ende der 1980er. »All the women. in me. are tired«, schrieb die Lyrikerin Nayyirah Waheed 30 Jahre später. Feministisches, humanistisches Engagement als Agonie, als langsame Selbstzerstörung. Es ist, als würden wir versuchen, ein heruntergekommenes Haus zu renovieren, weil es sich dort kaum noch leben lässt – und während wir das Dach reparieren, damit es nicht immer reinregnet, schlägt uns jemand alle Fenster ein.

Frauen, die sich für ihre und die Anliegen anderer einsetzen, beuten sich oftmals selbst aus, sie nehmen sich meist nicht nur einer Aufgabe an, sondern vieler – neben einem Leben, das ihnen eigentlich schon alle Energie raubt, die sie haben. Einzelne Frauen in meinem Umfeld haben sich durch ehrenamtliches Engagement in völlige psychische und physische Erschöpfung getrieben. Oder sind getrieben worden. Von Medien, politischen Entscheidungen, von Fremden, von denen, die Feministinnen und Feministen als Feindbild sehen, von denen, die kein Verständnis für eine andere Form des Feminismus haben als die, die sie selbst vertreten.

Widerstand bedarf einer Perspektive und Vorbildern

Wir müssen uns, um voranzukommen, distanzieren, von männlichen Verhaltensmustern (nicht aber von »den Männern«, die es so wenig gibt wie »die Frauen«), der von ihnen geschaffenen (Un-)moral, dem von ihnen idealisierten Verhalten von Frauen wie auch ihrem eigenen. Doch es funktioniert nicht, alles Männliche abzulehnen und abzulegen und schlicht ein vermeintliches Gegenteil zu verfolgen. Die Ablehnung des bisher Dagewesenen alleine gibt keine Richtung vor – und schon gar kein Ziel. »Widerstand bedarf einer Perspektive, eines Wohin, und er bedarf mehr als eines Individuums«, sagt Frigga Haug. Und Judith Butler: »Der Versuch, den Feind in einer einzigen Gestalt zu identifizieren, ist nur ein Umkehrdiskurs, der unkritisch die Strategie des Unterdrückers nachahmt, statt eine andere Begrifflichkeit bereitzustellen.« Also müssen wir uns ebenso verbünden mit ihnen, auf sie zugehen, sie in die Diskussion einbeziehen, bisher dagewesene illusorische Vorstellungen in Frage stellen und an anderen, neuen, arbeiten.

Weil mehr als 90 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland und Österreich Frauen sind, weil es großteils Frauen sind, die Angehörige pflegen, weil Frauen meist von Männern (sexuelle) Gewalt angetan wird, Transfrauen misshandelt und getötet werden, die Genitalien von Frauen und Mädchen verstümmelt werden, die Genitalien von Menschen verstümmelt werden, denen bei ihrer Geburt nicht eindeutig eines der beiden vorgegebenen Geschlechter zugeordnet werden kann, Mädchen als Kinder gezwungen werden, erwachsene Männer zu heiraten, weil sie zu Sexarbeit gezwungen werden, weil Frauen ab einem gewissen Alter noch weiter aus der Öffentlichkeit, aus Filmen, aus Nachrichtensendungen, der Politik, aus der Musikbranche gedrängt werden.

Weil Forderungen, sobald sie als feministische Forderungen bezeichnet werden, diskreditiert werden. Weil Frauen, die endlich als gleichwertig gesehen werden wollen, zum Schweigen gebracht werden. Weil: Reg dich nicht auf. Wenn du dich benachteiligt fühlst, dann tu etwas dagegen. Aber wehe dir, du tust tatsächlich etwas dagegen. Wehe dir, du sagst was oder bist zu präsent. Wehe dir, du nennst dich Feministin. Dann bist du vogelfrei. Also merke dir: Feministin sagt man nicht.

Weil Frauen und Mädchen zu wenige Vorbilder haben. Weil das Weibliche in der Kulturgeschichte kaum vorhanden war, ihr Schaffen, ihre Ideen kaum Teil sind in der geschriebenen Geschichte des Menschen, weil wir in der Schule von Homer, Aristophanes oder Sophokles lesen, nicht aber von Sappho, Hypatia und Korinna. Weil wir über Konrad Zuse, Nikola Tesla, Robert Koch sprechen, nicht über Hedy Lamarr, Lise Meitner, Eunice Foote, Gertrude Belle Elion, Margaret Hamilton, Maria Telkes, Clatonia Dorticus; über Heinrich Böll und Günter Grass, nicht aber über Doris Lessing oder Herta Müller.

Wenn Frauen kaum weibliche Vorbilder gegeben werden, wie können wir dann glauben, selbst etwas verändern zu können? Wenn Entwicklung scheinbar nur durch Männer passiert, Probleme nur von Männern gelöst, Erfindungen, Gesetze, Nachrichten, Geschichte scheinbar nur von Männern gemacht wird, wie sollen Mädchen und Frauen ihren Platz, ihre Fähigkeiten, Talente und Möglichkeiten erkennen?

Als ich eine junge Frau war, dachte ich, in der Gleichstellungspolitik geht es immer in eine Richtung, es geht mal schneller und mal langsamer, aber immer voran. Das ist nicht der Fall.

– Katarina Barley

Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, tolle Menschen nicht zu beneiden, sondern glücklich darüber zu sein, sie auf unserer Seite zu haben. Und angefangen, mir selbst Vorbilder zu suchen.

Die Omas gegen Rechts, die zeigen, dass man mit dem Alter nicht verdrossener und unpolitischer wird, sondern vielleicht sogar noch politischer.

Emma Gonzales, die den Amoklauf an ihrer Schule in Florida überlebte, seither unermüdlich für eine Verschärfung der Waffengesetze kämpft, und zeigt, dass man nicht erst in einem bestimmten Alter noch politischer werden kann.

Die Frauen, die die beiden Frauenvolksbegehren ins Leben gerufen haben und all die Frauen und Männer, die monatelang ehrenamtlich dafür gearbeitet haben.

Der etwa 70-jährige Mann, der bei einer Diskussionsrunde über Feminismus im Publikum saß und dessen Hand als erste hochschnellte, als das Publikum angehalten war, Fragen zu stellen. Der dann aufstand, die Faust in die Luft reckte und rief: »Ich frage mich schon sehr lange: Wie kann man nicht nur das Patriarchat zerstören, sondern auch den Kapitalismus!«

Aber niemand hat mich so geprägt wie die Menschen in meinem Umfeld, und oft werde ich gefragt, was denn besonders an ihnen sei. Jede und jeder einzelne von ihnen hat mir etwas mitgegeben, das ich versuche, auch selbst zu leben:

Kira, die immer nur gut von Frauen spricht.

Kat, die Menschen mit unfassbar viel Liebe begegnet.

Gwendolyn und Vanessa, die ich den Großteil meines Lebens kenne, liebe, bewundere – für ihre Klarheit, ihre Intelligenz, ihre Wesen.

Leon, der morgens im Bus fragt, ob alles erlaubt sei, wenn Gott tot ist und bei Kaffee über den Irrsinn spricht, dass Frauen erst die Schule abschließen, studieren und Karriere machen sollen, um dann am Ende ihrer Fruchtbarkeit noch schnell zwei Kinder zu bekommen, um die demographische Entwicklung des Abendlandes zu stabilisieren.

Verena, die in den Jahren, die ich sie nun kenne, immer mutiger wurde, immer selbstbewusster, immer mehr gelernt hat, auf sich und andere zu achten und in ihrer Stärke inspirierend ist.

Johannes und Franz, die es nicht leicht hatten, den Menschen in ihrem Leben zu sagen, dass sie auf Männer stehen, aber den Drang und Mut hatten, es trotzdem zu tun und ihre Familien, die dadurch gelernt haben, dass sie das in keiner Weise zu schlechteren Menschen macht. Meine zwei Brüder, die die größten Herzen haben. Mein Vater, der alles kann und alles weiß, offen ist, annimmt, hilft. Und meine Mutter, die herzlich ist und laut lacht, die für andere sorgt, gezeigt hat, wie man gleichzeitig studieren, arbeiten und als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern trotzdem strahlen und den Kindern vermitteln kann: Am stärksten sind wir als Team.

Merkwürdige Wesen mit merkwürdigen Gedanken

»Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt wegzuschauen«, erklärte einmal der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago. Es ist ein schmaler Grat zwischen: »Nichts darf so bleiben, wie es ist« und »Bleibt, wie ihr seid«. Es kann sich nicht alles um uns herum verändern müssen, nur wir uns nicht, wenngleich es schon einer Revolution gleichkäme, würden sich Frauen endlich einmal nicht biegen und beugen. Denn sich die Absolution zu geben, so bleiben zu können, wie man ist, birgt die Gefahr, dass alles so bleibt, wie es ist.

Bücher und Kunst haben mir immer geholfen, Lieder, Fotografien, Filme, Begegnungen, bei und in denen Menschen ehrlich ihr eigenartiges, fehlerhaftes, mutiges, wunderbares Innerstes zeigen. Weil wir vielleicht nicht unbedingt glauben, dass wir schlecht, ungenügend, mangelhaft sind, aber oft, dass es andere nicht sind. Mir haben immer die geholfen, die Einblick gewähren. Die zeigen, dass auch sie merkwürdige Wesen mit merkwürdigen Gedanken und Angewohnheiten sind. Ich möchte versuchen, für jene, die dieses Buch lesen, einer dieser Menschen zu sein. Und ich möchte versuchen zu zeigen, dass wir weit entfernt sind von einer Welt, in der Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht beurteilt werden.

Feminismus heißt nicht, Frauen stärker machen. Frauen sind bereits stark. Es geht darum, zu ändern, wie diese Stärke von der Welt wahrgenommen wird.

– G. D. Anderson

2

image

Manchmal sagt meine Mutter, sie fragt sich, was sie bei mir falsch gemacht hat. Warum ich mich so wenig traue, warum ich viel zu schnell an allem zweifle, warum ich Angst davor habe, vor Menschen zu sprechen.

Sie hat nichts falsch gemacht – vielmehr hat sie mir immer die Rolle einer starken Frau vorgelebt. Aber irgendwann sind Mütter nicht mehr die ganze Welt. Irgendwann übernimmt der Rest.

Als ich acht bin, zieht meine Familie von einem unendlich kleinen Ort in Deutschland nach Österreich. In meinem Tagebuch von damals habe ich den Satzzeichengebrauch einer Wutbürgerin, hunderte Rufzeichen – und ich vermisse meine Freunde, vor allem meine beste Freundin. Mein Bruder ist damals sechs. Kurz nachdem wir umgezogen sind, besucht ein Radioteam seine Klasse. Sie interviewen die Kinder und als sie hören, dass mein Bruder ein so deutsches Deutsch spricht, fragen sie ihn, weshalb er hier in Österreich sei. »Weil mich mein Papa gezwungen hat!« Das glauben mein Bruder und ich damals tatsächlich, heute sind wir froh darüber, umgezogen zu sein. Was er von Österreich halte, fragen sie ihn noch: »Zu viele Österreicher!«

Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich ein extrem offenes Kind, liebe Menschen, möchte den Postboten regelmäßig zu uns nachhause einladen oder mit ihm mitfahren, spreche mit jedem, bin mutig, umarme fremde Schuhverkäuferinnen, traue mir alles zu, springe mit drei vom Drei-Meter-Turm und rette Freundinnen vor dicken schwarzen Spinnen. Nach dem Umzug ist dann alles anders. Alle Kinder in der Klasse sind von hier. Meine Lehrerin kritisiert mich für meine Sprache und entschuldigt sich beschämt bei Studentinnen und Studenten, die uns besuchen, dass ich nicht mehr die alte Schreibschrift erlernt habe. Sie gibt mir schlechtere Noten, weil ich »langweilen« statt »fadisieren« schreibe, Kinder aus meiner Klasse verfolgen mich nach der Schule und zwingen mich, vor ihnen niederzuknien, weil sie mir sonst die Finger brechen würden. Also werde ich still. Ich gehe nicht mehr so auf Menschen zu, traue mich nicht mehr, zu sein wie ich bin. Ich lasse mich verdrängen in der Überzeugung, es verdient zu haben. Ich verliere meine Unbeschwertheit, passe mich an und verhalte mich, wie ich denke, mich verhalten zu müssen. Mein Privileg in dieser Zeit ist, dass ich nicht auffalle, solange ich den Mund nicht aufmache.

Die Zunge verwelkt, wenn man sie nicht gebraucht.

– Astrid Lindgren

Mein Bruder ist der Mensch, der mir damals am stärksten vorlebt, dass ich nicht still und angepasst sein muss, dass ich nicht entsprechen muss, dass ich nicht gefallen muss, dass ich ganz anders sein kann. Er ist jeher ein Mensch, dem es egal ist, was andere denken. Als er zwölf ist, bringt mein Vater von einem turkmenischen Kamelmarkt Hüte aus Ziegenfell mit. Sie stinken erbärmlich und sehen nicht aus wie irgendetwas, das jemals in Österreich von irgendjemandem getragen wurde. Mein Bruder geht damit in die Schule und es ist ihm vollkommen egal, was andere von ihm halten – er findet den Hut super, das ist das einzige, was zählt.

Mit sechs weiß er, dass ein Obdachloser kaum Geld hat, um sich etwas zu essen zu kaufen. Also holt er aus der Küche ein Stück Brot und geht zu einem obdachlosen Mann, der an der Gartenmauer unseres Hauses sitzt. Er hat Angst vor dem Mann, hält es aber trotzdem für wichtig, ihm etwas zu essen zu geben. Zur Sicherheit steckt er das Stück Brot also an das Ende eines Stocks, um es ihm so zu geben. Der Mann nimmt das Brot und geht. Er ist oft in unserer Straße und Jahre später erzählt mir mein Bruder die Lebensgeschichte des Mannes, der sich damals über die Scheibe Brot gefreut hat. Er hatte nie Berührungsängste, auch nicht vor jenen, vor denen die Welt einem einredet, Berührungsängste haben zu müssen. Er nimmt in Kauf, sich zu blamieren, wenn er dabei jemandem helfen kann, er sagt etwas, wenn er Ungerechtigkeit sieht, er stützt, hilft, trägt, verteidigt. Er ist mutig, liebevoll, vorbildhaft.

Mit vierzehn komme ich dann wieder ein wenig zurück. Ich erlebe meinen ersten Kuss, kurz darauf habe ich meinen ersten Freund, bin für eine kurze Zeit schrecklich verliebt. Wir lernen uns im Internet kennen, telefonieren stundenlang, bevor wir uns das erste Mal treffen. Manchmal schlafen wir abends beide ein mit dem anderen noch am anderen Ende der Leitung. Er erzählt von den unzähligen Freundinnen, die er bereits gehabt habe, sagt, dass meine Brüste ein wenig größer sein könnten. Ich bin nicht böse, stattdessen kaufe ich Push-up-BHs.

Sein Vater ist tot, seine Mutter Alkoholikern. Der Stiefvater schlägt regelmäßig die Kinder, vor allem seine Schwestern. Er ist der Älteste und fühlt sich oft schuldig, weil er nicht weiß, was er tun soll und zwar versucht, die Schwestern zu schützen, es aber oft nicht schafft. Wir sind nie bei ihm, immer draußen, in Cafés, im Kino oder bei mir, weil er nicht möchte, dass ich diesen Menschen begegne.

Nach drei Monaten beende ich die Beziehung und er versteht nicht, weshalb. Ein paar Tage später ruft er an und sagt, er säße im Wald und hätte sich ein Messer in den Bauch gerammt. Ich sei schuld an allem, ich sei schuld, dass er jetzt sterben müsse. Im Telefonbuch suche ich nach der Nummer seiner Mutter, völlig hysterisch rufe ich an und schreie ins Telefon, was für ein schrecklicher Mensch sie sei, dass sie nicht mitbekäme, wie ihr Sohn gerade in einem Wald Selbstmord begehe. Sie versteht die Welt nicht mehr, wusste bis zu meinem Anruf nicht einmal, dass ich existiere, sagt mir, ich solle mich beruhigen. Er sitze in seinem Zimmer, nicht im Wald, und nein, ein Messer habe er ganz bestimmt nicht im Unterleib.

Ein paar Tage später übernimmt meine Mutter, als sie merkt, wie überfordert ich bin. Sie telefoniert mit dem Hausarzt der Familie, die er seit Jahrzehnten behandelt. Nie sei mein Ex-Freund wegen einer Stichverletzung bei ihm gewesen, erklärt er, und meine Mutter fragt weiter. Sein Vater ist nicht tot, er hat keinen Stiefvater, keine Schwestern, die Mutter ist keine Alkoholikerin. Nicht einmal sein zweiter Vorname stimmt.