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Kurt Kotrschal

Wolf – Hund – Mensch

Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung

Gewidmet meiner Frau Rosemarie und unseren Kindern Katharina und Alexander, die es immer geduldig ertrugen, meine Zeit und Aufmerksamkeit im Übermaß mit der Zoologie zu teilen.

Kurt Kotrschal

Wolf Hund Mensch

Die Geschichte einer
jahrtausendealten Beziehung

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INHALT

Zum Beginn

Über dieses Buch

Auf den Wolf gekommen – eine persönliche Beziehungsgeschichte

Wolfsbeziehungen

Wolfsnacht

Partner Wolf?

Wölfe in den Köpfen der Menschen

Menschen, Wölfe und Raben: Eine ökologische Trias

Beutegreifer mit Familiensinn

Was Wölfe biologisch sind und wie das mit Menschen und Hunden zusammenpasst

Wir sind Säugetiere und als solche Wirbeltiere

Wolf – Hund – Mensch: Gemeinsames …

… aber auch Unterschiede: Zur sozio-sexuellen Effizienz der Wölfe und zur Ineffizienz der Menschen und Hunde

Wir teilen ein „soziales Gehirn“

Nur Wölfe und Hunde, nicht aber Menschen gehören zu den Fleischfressern: Die Sippschaft der Carnivora

Woher die Wölfe stammesgeschichtlich kamen

Wölfe wie Menschen sind soziale Jäger und Sammler

Wölfe und Menschen sind spezialisierte Laufjäger

Wölfe „schufen“ Pferde, Hirsche und andere Fluchttiere

Der soziale Erfolgsfaktor?

Wolfskulturen

„Traditionen“ oder „Kulturen“?

Kulturen schränken den Austausch der Gene ein

Sesshafte und nomadische Wölfe

Zu Wesen und Verhalten von Wölfen

Eine weise und familienorientierte Kriegergesellschaft?

Führung in Wolfsrudeln

Ähnlichkeiten zwischen Wölfen und Menschen

Wolfsverhalten: Zum Einsatz arteigenen Verhaltensinventars

Hormone modulieren Verhalten

Von Wölfen und Menschen – eine ewige Beziehungskiste

Biophilie und tiefes Interesse an Wölfen

Begeisterung, Ablehnung und spirituelle Wurzeln der Wolf-Mensch-Beziehung

Wölfe und die Spiritualität der Menschen

Wölfe und nordamerikanische Indianer

Die Wurzeln der Spiritualität im Animismus

Von gleicher Augenhöhe in die Abhängigkeit: Von Tieridolen zu Menschengöttern

Der „böse“ Wolf

Wölfe als Projektionsfläche blühender und schrecklicher Phantasien

Von den Einstellungen zum Wolf

Einstellungen zum Wolf in Deutschland und Österreich

Auch wild lebende Wölfe sind von Menschen abhängig, jene in Gehegen sowieso

Verdrängung und Wiederausbreitung der Wölfe

Schutz, Konflikte und Erfolgsgeschichten

Wölfe in Österreich

Wölfe essen gelegentlich Menschen, sind aber keine Menschenfresser

Tollwut und hungrige Wölfe: Wie Menschen durch Wölfe zu Schaden kommen können

Sicher leben mit immer mehr Wölfen

Vom gefährlichen Beutegreifer zum Partner in der Forschung

Wölfe im Freiland

Warum eigentlich Wolfsforschung?

Das Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn

Manager bei den Wölfen

Die Hunde am Wolfsforschungszentrum

Als Wolf am Wolfsforschungszentrum

Sind menschensozialisierte Wölfe „domestiziert“?

Intelligenzleistungen und dumme Einschränkungen

Experimentelle Forschung am Wolf und am Wolf-Hund-Interface

Wozu Intelligenz?

Was wir forschen und wie wir das tun

Aus Wölfen wurden Hunde

Das (falsche) Wolfsbild prägte lange den Umgang mit unseren „besten Freunden“

Was Wölfe und Hunde unterscheidet (?!)

Mensch und Hund sind im Team nicht zu schlagen

Hunde – unsere wichtigsten Tierkumpane, ganz nah am Wolf

Domestikation macht sanft, verfressen, sexsüchtig und blöd (?)

Wie sich Wölfe zu Hunden domestizierten

Nutzhund oder Schadhund?

Spezialisten entstehen

Menschengesellschaften sind Hundegesellschaften

Rassehunde

Hundehaltung heute

Ausblick

Dank

Ausgewählte Literatur

Ausgewählte Links

Abbildungsnachweis

Impressum

Zum Beginn

Wölfe und Hunde sind seit jeher in einem erstaunlichem Ausmaß unser wesensmäßiges Alter Ego. Wir lieben und hassen sie, wir achten und verachten sie, aber kaum jemand bleibt von ihnen unberührt. Seit etwa 60 000 Jahren leben Menschen mit Wölfen und ihrer mit uns sozial verträglichen Form, den Hunden, zusammen. Alle Kulturen des Homo sapiens sind in Beisein von Wölfen bzw. Hunden entstanden. Hunde sind nicht nur die längstgedienten, sondern auch die engsten Tierkumpane der Menschen. Sie sind uns wesensähnlich und können viel für uns tun, nicht nur als Polizei- oder Rettungshund. So fördert das Aufwachsen mit Hunden die körperliche, emotionale und geistige Entwicklung von Kindern und ihre emotionale Intelligenz. Menschen teilen mit vielen anderen Tieren, besonders aber mit Wölfen und Hunden, ihr soziales Gehirn und ihre soziale Intelligenz, die Stressphysiologie sowie andere Prinzipien der sozialen Organisation. Es ist daher nicht verwunderlich, dass echte Sozialbeziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren möglich sind. Als Teil des „philosophischen Moduls“ des menschlichen Gehirns und als eines unserer Alleinstellungsmerkmale sind Menschen „biophil“, d.h. nahezu „instinktiv“ an Natur und Tieren interessiert. Auch die menschliche Spiritualität entstand in dieser engen Naturbeziehung. Letztlich bleibt die Conditio humana ohne Bezug auf diese Natur- und Tierbeziehung unbegreifbar.

Von Wölfen geht eine eigenartige Faszination aus. Wölfe sind seit Urzeiten Brüder und Schwestern der Menschen. Und das nicht nur in den spirituellen Vorstellungen unserer steinzeitlichen Ahnen. Vielmehr sind uns Wölfe in ihrer Lebensweise ähnlicher als selbst unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen. Wölfe und Menschen sind jeweils die innerhalb ihrer Klans freundlichsten und kooperativsten Arten ihrer Verwandtschaftsrunden, den Menschenaffen bzw. den Hundeartigen. Wenn es jedoch um die Bekämpfung gruppenfremder Artgenossen geht, sind wir beide konsequent und grausam. Wölfe wie ursprüngliche Menschen leben in nach innen auf Zusammenarbeit ausgerichteten Kriegergesellschaften. Mit Nachbarn leben wir im Burgfrieden, wir tauschen uns freundlich mit ihnen aus und besuchen sie und gelegentlich bekämpfen wir sie bis aufs Blut. Zudem sind Wölfe und Menschen beide Top-Beutegreifer, die mit Hilfe ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrer Kooperationsbereitschaft und ihres klugen Köpfchens nahezu alle Lebensräume der Nordhemisphäre besiedelten. Meist eroberten Wölfe und Menschen sogar dieselben Lebensräume. Wenn sie sich arrangierten, hatten beide kaum andere Beutegreifer zu fürchten. Wo hingegen das Verhältnis kippte, war der Mensch des Wolfes schlimmster Feind; und manchmal auch umgekehrt. Mensch und Wolf sind zwar nicht bluts-, wohl aber wesensverwandt, sozusagen Mitglieder derselben ökologischen Familie, derselben geistigen Sippschaft. Familienmitglieder sind einander bekanntlich nicht egal. Meist liebt oder hasst man einander, hegt zueinander Einstellungen und Erwartungen, die man Fremden gegenüber gewöhnlich nicht hat.

So leben Wolf und Mensch seit Urzeiten in einer oft ambivalenten Nahebeziehung. Kein Wunder also, dass bereits vor sehr langer Zeit aus dieser ökologischen Nahebeziehung auch eine soziale wurde, dass man sich aneinander anschloss. Ob damit anfangs neben dem spirituellen Bezug der Menschen zu Wölfen eine Nutzanwendung verbunden war, ist unbekannt. Als gesichert kann hingegen gelten, dass von den vielen Annäherungen zwischen Menschen und Wölfen einige wenige lange genug andauerten, um die Wölfe genetisch zu Hunden zu wandeln. So kam es, dass der Wolf in Form des Hundes zum Gefährten der menschlichen Kulturentwicklung wurde, zu einem Wegbegleiter über Jahrzehntausende, zum treuen Wächter, Kämpfer im Krieg, Jagdgefährten, Abfallbeseitiger oder schlicht Sozialgefährten.

Wir wurden in Gemeinschaft mit Tieren, besonders aber mit Wölfen und Hunden, zu modernen Menschen. Das ist zu berücksichtigen, wenn wir uns selber verstehen wollen. Das System Wolf-Mensch -Hund bildet eine uralte Beziehungskiste, dynamisch moduliert über Raum, Zeit und Kulturen in Koexistenz und Gegnerschaft, Liebe und Hass, Nähe und Distanz. In gewisser Weise war diese Beziehungskiste immer auch eine Schicksalsgemeinschaft.

Über dieses Buch

Die Beziehung und Einstellung zu Wolf und Hund spiegelt – in grauer Vorzeit wie heute – die Verfasstheiten menschlicher Gesellschaften wider. Wölfe wie Hunde sind „Beziehungstiere“ und wichtige Projektionsflächen für menschliche Vorstellungen. Das ist eine der spannendsten Seiten an unseren vierbeinigen Partnern und einer meiner Hauptgründe, dieses Buch zu schreiben. Wenn man über Wölfe und Hunde spricht und schreibt, kann man versuchen, sich ausschließlich auf so genanntes „gesichertes Wissen“, also die neueren Erkenntnisse der Wissenschaft, zu beziehen und wird auf diese Weise ein recht lückenhaftes Bild zeichnen. Oder man traut sich, auch Szenarien zu entwerfen, die auf einer Mischung aus gesichertem Wissen, Erfahrung, Anekdoten und über Jahrzehnte entwickeltem Bauchgefühl beruhen – das natürlich auch falsch sein kann. Letztlich ist dieses Buch ein Versuch, Wölfe, Hunde und ihre wechselseitige Beziehung zu den Menschen zu beleuchten. Wölfe und unsere Wolfs- und Hundebeziehungen wirklich „verstehen“ und vollständig erklären zu wollen, wäre ein vermessener Anspruch.

Man kann kaum sinnvoll über Wölfe schreiben, ohne Hunde und Menschen einzubeziehen. Das Buch beginnt mit einem Aufriss dieser Beziehungskiste. Es folgen Kapitel zur Biologie des Dreigestirns Wolf-Hund-Mensch, zum Verhalten und Wesen, einschließlich der Ausbildung von Kulturen, bei Wölfen und schließlich zur eigentlichen historischen, spirituellen und materiellen Beziehung Mensch-Wolf. Ferner berichte ich, wie es zur Gründung des Wolfsforschungsinstitutes in Ernstbrunn (WSC; www.wolfscience.at) kam und wie unsere Arbeit dort aussieht. Hunde sind im Text immer präsent, der Schluss des Buches widmet ihnen einen kleinen Schwerpunkt. Denn Faszination Wolf hin oder her – Hunde sind heute für unseren menschlichen Alltag bei weitem wichtiger.

Dieses Buch wäre ohne mein Umfeld nicht möglich gewesen, ohne meine Arbeitsgruppen an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau und jener für Mensch-Tierbeziehung in Wien. Vor allem aber möchte ich meinen zwei Partnerinnen, Friederike Range und Zsófia Virányi, danken. Dies ist kein Buch über das WSC, aber ohne WSC und die dort gesammelte persönliche und wissenschaftliche Erfahrung mit Wölfen, Hunden und Menschen wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Wir konnten das WSC aufgrund der Komplexität dieses Projekts nur zu dritt gründen, betreiben es gemeinsam und in ständiger fachlicher Diskussion und verlangen voneinander, von unseren Mitarbeitern und unseren Studenten wohl meist zu viel. Die Arbeit mit unseren Wölfen und Hunden bedeutet tägliche Herausforderungen und große physische und psychische Anstrengungen, aber auch sehr viel schönes gemeinsames Erleben.

Auf den Wolf gekommen – eine persönliche Beziehungsgeschichte

Starkes Interesse an Tieren und Natur war bei mir wohl prototypisch frühgeprägtem Biologen von frühester Kindheit an vorhanden, wandte sich aber zunächst dem Krabbelgetier und den Fischen zu. Dem Vernehmen nach sammelte ich sie seit dem dritten Lebensjahr lebend und hielt sie in Gläsern und Aquarien. Ohne Hund aufgewachsen, las ich während meines Biologiestudiums an der Universität Salzburg die Bücher von Erik Zimen und Konrad Lorenz, etwa „So kam der Mensch auf den Hund“.

Als junge Familie kamen meine Frau und ich dann zeitgleich auf Kind und Hund. So war im Mai 1978 Schluss mit trauter Zweisamkeit und wir waren plötzlich zu viert. Der Welpe entwickelte sich zum großen schwarzen, menschenfreundlichen Mischlingsrüden Rolfi. Das Baby zu einer sehr gelungenen Tochter. Das ist eine andere Geschichte, könnte man meinen; doch das stimmt nicht ganz, denn Hunde können sehr viel zur Entwicklung von Kindern beitragen. Man weiß seit nicht allzu langer Zeit durch Zusammenschau der Ergebnisse der Psychologie, Pädagogik und Neurobiologie auch, warum das so ist. Rolfi kam von einem Bauernhof bei Oberndorf, etwa 20 km nördlich von Salzburg. Er war unerschütterlich freundlich zu Menschen, aber recht unverträglich mit seinesgleichen. Für den vom Lorenz’schen Idealismus geprägten Junghundehalter musste der arme Rüde als Wolfsersatz herhalten. Oder für das, was ein auf Basis der damaligen Literatur verbildeter Student für wölfisch hielt. Der arme Hund war dafür denkbar ungeeignet. Ich hatte Hundeerziehung wohl mit einem Übermaß an Kontrolle verwechselt. Den Kindern – Sohn Alex kam zwei Jahre nach Tochter Katharina – kam das zugute, reagierte ich doch Erziehungsprinzipien und Kontrollbedürfnis vorwiegend am Hund ab. Im Endeffekt waren wir sicherlich ein gutes Team, Rolfi und ich, aber meinen damaligen Interaktionsstil würde ich heute keinem Hund mehr zumuten wollen.

Bis 1990 forschte ich an Fischen, dann an Vögeln. Rolfis Tod 1991 bedeutete Familientrauer, besonders bei Tochter und Sohn, die mit ihm aufgewachsen waren. Wenige Jahre später kam der schwarzmarkenfarbenen Eurasierrüde Basko ins Haus. Er war ziemlich das Ge-genteil von Rolfi, eigensinnig, souverän im Umgang mit Artgenossen, Menschen gegenüber allerdings ein völlig respektloser Lustschnapper, ein Hobby, das er trotz aller Belehrungsversuche bis zu seinem Lebensende beibehielt. Insbesondere Macho-Männer mussten vor ihm beschützt werden. So „wölfisch“ war es mir nun auch wieder nicht recht, wobei ich damals noch nicht wusste, dass ein dermaßen überzogenes Selbstbewusstsein eigentlich gar nicht typisch wölfisch ist …

Die Lage besserte sich, als wir zwei Jahre später die sanfte und sozial sehr kompetente blonde Eurasierhündin Briska dazunahmen und nochmals, als Basko schließlich im fünften Lebensjahr kastriert wurde. Die Reduktion seiner männlichen Geschlechtshormone war eine Erleichterung für uns und offensichtlich auch für ihn. Nach Baskos Tod kam eine zweite Eurasierhündin ins Haus, die rot-wildfarbene Bolita, die seit Briskas Tod als alleinige Hündin in unserem Haushalt lebt. Bolita begleitete mich bei der Handaufzucht von nunmehr vier Jahrgängen von Timberwölfen, sozialisierte diese Wölfe hervorragend und gewann dabei derart an Selbstbewusstsein, dass sie zu unserem Leidwesen Eurasierrüden als Geschlechtspartner kaum mehr in Betracht zieht. Ihre heute einige Jahre alten Stiefkinder trifft sie immer noch gerne zu mehr oder weniger wildem Spiel.

Bereits seit längerer Zeit wollte ich unsere Forschungen an der Konrad Lorenz Forschungsstelle zur sozialen Komplexität von Vögeln durch die Arbeit an Wölfen ergänzen. Als ich dies auch auf unserer Homepage kundtat (www.klf.ac.at), meldete sich im Jahr 2004 die Kognitionswissenschaftlerin Friederike Range; unser Projektantrag floppte jedoch zunächst. Als sich im Herbst 2007 auch die Verhaltensbiologin Zsófia Virányi von der Eötvös Lorand Universität in Budapest in Wien aufhielt, war es aber endlich so weit: Zu dritt packten wir es an. Alle drei wollten wir aus jeweils etwas anderen Gründen mit Wölfen arbeiten. So stürzten wir uns ins Abenteuer – Optimisten zeichnen sich bekanntlich durch einen Mangel an Information aus. Der Aufbau unseres Wolfsforschungszentrums, zunächst im oberösterreichischen Grünau, an der Konrad Lorenz Forschungsstelle, dann im Wildpark Ernstbrunn, etwa 40 km nördlich von Wien, verlangt uns seitdem oft mehr ab, als wir eigentlich geben können, was Einsatz, Arbeitszeit und auch persönlichen materiellen Beitrag betrifft. Doch unsere wachsende Gruppe kooperativer Timberwölfe und gleich wie sie aufgezogener Hunde sowie die einzigartigen Möglichkeiten unseres Settings entschädigen dafür.

Die beste Möglichkeit, Tiere von Grund auf kennenzulernen und sie jenseits der wissenschaftlichen Zielsetzungen intuitiv zu verstehen, ist sie aufzuziehen. Auch Konrad Lorenz zog über sein langes Leben immer wieder unterschiedlichste Tiere auf, etwa die berühmte Graugans Martina. Tatsächlich ist sozial und emotional beteiligte Handaufzucht oft die Methode der Wahl, Wildtiere zu vertrauensvollen Partnern für die Forschung heranzuziehen. Das gilt für jene Graugänse, die ich im Frühjahr 1991 aufzog, für Raben, Papageien und natürlich auch für Wölfe. Im Team mit meinen Kolleginnen durfte ich die ersten Wölfe im Frühjahr 2008 aufziehen, drei weitere Aufzuchten sollten bis Frühjahr 2012 folgen. Es geht dabei nicht nur um die Erfüllung ihrer physischen Bedürfnisse, sie zu füttern und sauber zu halten, sondern vor allem auch um ihre sozialen Bedürfnisse nach emotional-empathischer Zuwendung. Dies muss natürlich bei Raben, Gänsen oder Wölfen jeweils etwas anders ausfallen. Als menschlicher „Ziehelter“ durfte ich viel über Wölfe lernen, ein gutes Gefühl dafür erwerben, wie sie ticken, und auch dafür, ihnen mit Respekt zu begegnen und sie tatsächlich als Partner auf gleicher Augenhöhe zu betrachten, nicht einfach als „Versuchstiere“. Denn auch eng menschenbezogen aufgewachsene Wölfe behalte ihren eigenen Kopf und halten wenig von hündisch-blindem Vertrauen, Gefallen-Wollen oder Unterwürfigkeit dem Sozial- und Arbeitspartner Mensch gegenüber. Ähnlich wie Graugänse und Raben – die viel weniger Zähne in ihren Schnäbeln tragen – aber ganz im Unterschied zu den gefallsüchtigen Hunden.

Natürlich wusste ich, dass Wölfe von vielen Menschen mythisch überhöht werden, von anderen aber immer noch gefürchtet oder sogar gehasst. Aber ich hatte keine Ahnung von Ausmaß und Intensität dieses Beziehungsspektrums. Was wir in den letzten drei Jahren mit Besuchern erlebten, aber auch die Wirkung der Wölfe auf uns, die wir ja eigentlich nüchterne Wissenschaftler sein sollten, legt nahe, dass der Wolf als Archetyp tief in den meisten Menschen verankert zu sein scheint. So sind unsere Wolfsspaziergänge (mehrmals pro Woche dürfen uns Interessierte gegen eine Spende begleiten) auf Monate im Voraus gebucht und so mancher Besucher, der einen Wolf berührt, wäscht sich anschließend lange nicht mehr die Hand. Und gelegentlich werden wir angefeindet, weil unsere Wölfe „Sitz“ und „Platz“ machen. Man verübelt uns manchmal, dass die Inkarnationen der unberührten Natur, des Wilden und der Freiheit mit uns Menschen wie Hunde kooperieren. Erstaunlich, wie dünn die Ratio zu sein scheint, wenn es um den Wolf geht, und wie stark ideologisch aufgeladen diese Tiere anscheinend immer noch sind.

Wolfsbeziehungen

Wolfsnacht

Die vollkommene Dunkelheit der Nacht bettet mich ein, schwarz wie der Wolf im Märchen vom Rotkäppchen. So schwarz, dass ich die vier ebenfalls schwarzen, einjährigen Wölfe um mich herum nur fühlen kann. Ich weiß, der große Wolfsrüde, der mit mir auf Körperkontakt liegt, muss Aragorn sein, denn die anderen, Kaspar, Shima und Tayanita halten beim Schlafen gerne etwas Abstand. Kein Mond, kein Licht der Sterne erhellt die Nacht, Ernstbrunn liegt zugedeckt von einer dicken Wolkendecke.

Nein, ich bin weder verrückt noch versuche ich, mich als Alpha-Wolf unseres Rudels zu profilieren, wie so manche zweifelhafte Wolfs-Machos. Im Mai 2009 übersiedelten wir das Wolfsforschungszentrum mit Sack und Pack und vor allem mit den von uns handaufgezogenen kanadischen Grauwölfen (Canis lupus occidentalis, auch Timberwolf genannt) vom Wildpark Grünau im oberösterreichischen Almtal in ein neues, noch vorläufiges Gehege im Wildpark Ernstbrunn im niederösterreichischen Weinviertel. Da Wölfe ganz im Gegensatz zum landläufigen Image eher vorsichtig-schüchterne Tiere sind, die, in eine ihnen unbekannte Umgebung versetzt, scheu bis panisch reagieren können, entschloss ich mich, die ersten drei Nächte mit ihnen das Lager in ihrem neuen Gehege zu teilen.

Tatsächlich nahmen sie das ihnen unbekannte Gehege interessiert an und respektierten seine Grenzen, beruhigt offenbar durch die Anwesenheit eines ihnen vertrauten Menschen bzw., sozial gesehen, eines Bindungs- und Arbeitspartners. Ich schlief zeitweise ziemlich gut, dort im Stroh des Wolfsunterstands. Aber Wölfe sind keine Durchschläfer, und meine Schlafgefährten verließen als unruhige Nachtgeister unser gemeinsames Nachtlager immer wieder. Es beunruhigte mich auch nicht, Aragorn plötzlich nicht mehr an meinem Rücken zu spüren. Denn Kaspar, der später so verlässliche und ruhige Rudelchef, war in diesem Alter noch etwas „verhaltensoriginell“. Wird schon wiederkommen, dachte ich im Halbschlaf. Und so war es dann auch. Immer wieder beeindruckend, wie geräuschlos sich Wölfe bewegen können. Obwohl ich wusste, dass sie nahe an mir vorbeiliefen, hörte ich sie weder kommen noch gehen. Sehen konnte ich in der absoluten Dunkelheit dieser lauen Wolkennacht ohnehin nichts. So fühlte es sich gut an, Aragorns mächtigen Kopf plötzlich wieder auf meinem Oberschenkel zu spüren; offenbar hatte er beschlossen, mich als Kopfpolster zu verwenden. Er war schon als Welpe eher ein Kontaktschläfer mit mir. Ein wenig mulmig wurde mir dann aber doch, als ich merkte, dass er sich seinen Mitternachtssnack in Form der Wirbelsäule eines am Vortag verfütterten Rehs mitgenommen hatte und auf mir liegend daran knabberte, dass die Knochen nur so krachend knackten.

Wölfe verstehen – wie auch viele Hunde – keinen Spaß, wenn’s ums Essen geht. Also lag ich zunächst mal ganz ruhig, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich wolle ihm seinen Leckerbissen streitig machen. Das machen wir nie: Unsere Wölfen werden während des gesamten Aufwachsens kaum zurechtgewiesen, sie werden nie von uns dominiert und es wird ihnen niemals etwas weggenommen. Das wissen sie. Falls nötig, etwa im Falle eines stibitzten Handys (Aragorn ist unter unseren Wölfen der Technikfreak), versuchen wir, gegen ein nettes Stück Futter auszutauschen, um den Gegenstand einigermaßen heil zurückzubekommen. Aber wenn der Wolf nicht will, dann eben nicht. Es gilt, Situationen zu vermeiden, die in Konflikte ausarten könnten. Theoretisch. Praktisch lag ein Wolf auf mir, dessen mächtige Kiefer gerade Rehknochen knackten. Also einfach so tun, als würde ich’s nicht bemerken. Nach einem Weilchen regungslosen Liegens wurde es unbequem, ich drehte mich zur Seite, während Aragorn ungeniert weiter seine Brechschere betätigte. Schließlich begann ich, seinen Kopf zu kraulen und auch die Rehwirbelsäule anzufassen, um deren mir unbequeme Lage zu verändern. Und wie reagierte der Rüde? Gar nicht, nicht mal ein leises Knurren. Er ließ sich auch nicht stören, als ich vorsichtig mit meinen Fingern zu sondieren begann, welche seiner riesigen Backenzähne er zum Knacken der Wirbelsäule einsetzte. Ich nahm es als jenen Beleg tiefen Vertrauens zwischen uns beiden, der es wahrscheinlich auch war. Und fand mich in der feuchten Morgendämmerung unter einem Apfelbaum eingebettet in friedlich schlummernde Wölfe.

Partner Wolf?

Sind Wölfe also doch Kuscheltiere? Das wäre wohl die falsche Botschaft. Die Rudelgehege der erwachsenen Wölfe würden wir heute in der Nacht nicht mehr betreten; und schon gar nicht allein. Nicht, weil sie „gefährlich“ wären oder nur „auf ihre Chance“ warten würden, wie so mancher meinen könnte, der Wölfe immer noch als verschlagen-hinterlistige Feinde sieht. Unsere erwachsenen Wölfe entwickelten zu ihren menschlichen Partnern im Verlauf von Jahren verlässlicher Zusammenarbeit ein tiefes Vertrauensverhältnis. Und umgekehrt. Auf dieses Vertrauen sind wir in unserer Arbeit mit den Wölfen angewiesen. Aber die soziale Dynamik im Rudel lässt es nicht ratsam erscheinen, auch als vertrauter Mensch das Gehege allein zu betreten. Unsere Sicherheitsstandards lassen das nicht zu. Wir sind Kooperationspartner und wollen nicht Teil des sozialen Rudelgefüges werden. Was etwa, wenn ein Wolf die anderen zu beeindrucken versucht, indem er den bekannten Menschen testet, am Hosenbein zieht oder durch ruppiges Wadlbeißen zum Spiel auffordert; was wenn sich dann andere anschließen und ein lustiges Menschenmobbing beginnt? Der Sinn eines „Backups“ durch eine zweite im Umgang mit Wölfen erfahrene Person ist es, solche Ideen gar nicht erst aufkommen zu lassen.

In der wissenschaftlichen Arbeit mit Wölfen versuchen wir so wenig wie möglich in unsere Partner hineinzuprojizieren und -interpretieren. Wir bemühen uns, die Wölfe mit Respekt zu behandeln und im Übrigen herauszufinden, „wie sie wirklich sind“, soweit das überhaupt geht. Sonst wären wir ja keine Wissenschaftler. Tatsächlich ist eine objektive Sicht gerade auf den Wolf schwieriger als auf viele andere Tiere, wie ein kurzer Blick auf die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt. Menschen waren offenbar seit Urzeiten vom „Parallelwesen“ Wolf fasziniert. Die ähnliche Lebensführung unserer Vorfahren und der ihren Lebensraum teilenden Wölfe machte sie zu „Brüdern“ in der Vorstellungswelt steinzeitlicher Jäger- und Sammlerkulturen. Sie teilen den Glauben an die Beseeltheit der Natur und nehmen Tiere als denkende und fühlende Mitgeschöpfe wahr. So stand wahrscheinlich wie bei den meisten frühen Domestikationsereignissen von Nutzpflanzen und -tieren auch bei der Annäherung von Menschen und Wölfen nicht der Nutzen im Vordergrund; eher waren es spirituelle Vorstellungen. In vielen dieser animistischen Kulturen waren Wölfe und Raben die wichtigsten Mittler der Schamanen zwischen der wahrnehmbaren Welt und dem Reich der Geister, bevölkert mit den Seelen der toten Menschen und Tiere. In diesen Rollen mögen Raben und Wölfe Hauptrollen gespielt haben in der Entwicklung der religiösen Vorstellungen der Menschen.

Wölfe in den Köpfen der Menschen

Niemals aber in der Geschichte der Menschen auf der Nordhalbkugel unserer Erde waren die Wölfe nur verehrte Kultwesen oder geliebte Kuscheltiere. Man achtete sie zwar, fürchtete sie mitunter aber auch. So gestaltete sich wohl in den meisten Kulturen die Beziehung zwischen Wolf und Mensch ambivalent und komplex. Bereits sehr früh beeinflussten Wölfe in ihrer Rolle als ökologische Mitbewerber und Konkurrenten oder einfach als kluge und geheimnisvolle Parallelwesen die Ideenwelt und Mythen der sie beobachtenden Menschen. Frühe, jungsteinzeitliche Menschen glaubten an eine beseelte Natur. Diese Menschen nahmen sicherlich wahr, dass es da einen Vierbeiner gab, der ähnlich wie sie selber gemeinsam jagt, der liebevoll für seine Familie sorgt, Feinde aber entschlossen bekämpft und der ähnlich neugierig beobachtete, was sie als Menschen so trieben, wie umgekehrt. Naheliegend, dass in dieser Wesensverwandtschaft auch eine Seelenverwandtschaft gesehen wurde. Tatsächlich ist das „Werwolfthema“, also die Verwandlung vom Menschen in einen Wolf, einer der ältesten Mythen der Menschheit und etwa bei allen indogermanischen Völkern zu finden.

So dienen Wölfe von der Jungsteinzeit bis heute als Projektionsflächen menschlicher Vorstellungen. Der „Bruder Wolf“ bei den nordwestamerikanischen Indianern; Wölfinnen als Urmütter in den Gründungssagen von Rom oder der türkischen Nation; der kaum zu bändigende, brandgefährliche Fenriswolf, das Berserker-Macho-Monster in der germanischen Edda; das spätmittelalterliche Wolfsbild als Verkörperung des Bösen und der Wiedergeburt des Teufels; der Wolf als Sinnbild der edlen, tapferen Kriegertugenden bei den Mongolen und auch in der deutsch-nationalistischen Romantik und im Nationalsozialismus; und schließlich der Wolf als Sinnbild jener wilden und unbezähmbaren Natur, wie sie nur noch in der Sehnsucht der naturfernen, postmodernen Städter vorkommt: All das sind Rollen, welche Menschen unterschiedlicher Kulturen und Zeiten Wölfen zudachten und immer noch zudenken. Mit der Biologie der Wölfe hat dies nur am Rande zu tun, wohl aber mit den sich wandelnden Vorstellungen der Menschen von ihrer Welt. Die Einstellung zum Wolf verrät die in einer Gesellschaft vorherrschenden Ideologien und Einstellungen.

Nur scheinbar humaner als die Sage vom Fenriswolf gibt sich der Gründungsmythos Roms: Eine Wolfsamme nährte Romulus und Remus. Auch in diesem Fall leitet sich eine Kriegergesellschaft von einem Wesen her, das als Macho-Tier gesehen wurde, wenn auch in seiner – besonders von Indianern gerne betonten – fürsorglichen Rolle. Ausgerechnet eine Wölfin, also ein Tier, von dem Gefahr für Kinder ausgehen kann, wie Etrusker und Römer sicher wussten, soll die Stammväter Roms genährt haben. Besser kann man die menschliche Ambivalenz zum Alter Ego Wolf kaum ausdrücken. Sogar wenn eine Wölfin ein Menschenbaby adoptieren würde, wäre dessen Aufwachsen in wölfischer Pflege biologisch gar nicht möglich.

Noch immer scheint der Umgang mit Wölfen die Verfasstheit einer Gesellschaft zu spiegeln; im Sinne etwa des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, der in seinem klassischen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ feststellte, dass im von den Sowjets besetzten Prag Kampagnen gegen Straßenhunde und Stadttauben vom Zaum gebrochen wurden, nachdem die Proponenten des Prager Frühlings aus den öffentlichen Ämtern entfernt und diese mit regimetreuen Kollaborateuren besetzt worden waren. So zeigen sich die Spannungen in der Gesellschaft in der Verfolgung von Tieren, meinte Kundera – ein bestechender, nicht von der Hand zu weisender Gedanke.

Seit Jahren wandern Wölfe nun wieder in viele lange wolfsfreie Gebiete in Mitteleuropa ein. In Deutschland werden über die Zuzügler offene Kontroversen ausgetragen, die zu pragmatisch-politischen Lösungen führen. Daher sind in der Lausitz und in anderen Teilen Deutschlands bereits mehr als zehn Wolfsrudel unterwegs, Tendenz steigend. Auch nach Österreich wandern seit Jahren Wölfe ein. Unser schönes Land scheint jedoch ein Bermudadreieck für die großen Beutegreifer zu sein. Nur in Österreich „verdunsteten“ im Verlauf von einigen Jahren etwa 30 Braunbären spurlos (na ja, nicht ganz, einer wurde ausgestopft im Keller eines verstorbenen Jägers von der Kriminalpolizei beschlagnahmt). Und die jährlich etwa fünf bis zehn einwandernden Wölfe gründeten hierzulande trotz geeigneten Lebensraums noch keine Rudel. Einige werden überfahren oder in angeblicher Verwechslung mit wildernden Schäferhunden abgeschossen. Die meisten Wölfe verschwinden jedoch spurlos. Vielleicht wandern sie weiter, vielleicht auch nicht. Gesetzlich sind sie ganzjährig geschützt. Aber das Einhalten von Gesetzen war in Österreich bekanntlich immer schon eine Ermessensangelegenheit. Da wird der Unterschied zu Deutschland offenkundig, wo man nach Kontroversen und demokratischem Konfliktmanagement einen Modus vivendi fand. Noch nicht so in Österreich. Es ist zu hoffen, dass auch in der Alpenrepublik die Sache Wolf nicht mehr „unter der Hand“ geregelt würde, illegal und der demokratischen Kontrolle entzogen.

Menschen, Wölfe und Raben: Eine ökologische Trias

Wölfe sind in ihrer Bedeutung für uns Menschen mehr als nur eine von vielen Tierarten. Sie sind Partner und Gegner der Menschen seit Urzeiten und schließlich sind sie die Stammform unserer Hunde. Nicht zuletzt sind sie auch die Projektionsflächen unserer romantischen Vorstellungen von der Natur und von Urängsten. Wölfe wurden und werden verehrt und mit grausamen Mitteln verfolgt; sie wurden gefoltert, gehenkt und verbrannt. Noch heute trägt ein ranghohes deutsch-englisches Adelsgeschlecht die „Wolfsangel“ sozusagen als „Logo“ im Wappen. Wolfsangeln waren Eisenhaken, die man in gut verschluckbaren Fleischködern versteckte.

Wölfe sind zwar nicht die größten, aber aufgrund ihrer Teamorientierung die wohl effizientesten Beutegreifer der Nordhalbkugel. Zudem sind sie in ihren ökologischen Ansprüchen überaus plastisch. Wölfe eroberten eine unglaubliche Vielfalt an Lebensräumen, von den südöstlichen Halbwüsten, von Nordost-Afrika bis weit in die Arktis. Einzeln bzw. paarweise leben sie von Kleinsäugern, von den Abfällen der Müllhalden in Italien oder Rumänien oder sie machen in komplexen Rudeln von bis zu 40 Tieren gemeinsam Jagd auf Großtiere. Wie Bären auch nehmen sie erhebliche Mengen pflanzlicher Nahrung zu sich, sei es direkt, etwa durch süßes Obst im Herbst, wenn sie Zugang dazu haben, oder in Form von Darminhalten der von ihnen erbeuteten großen Pflanzenfresser. Denn Wölfe wie Menschen können essentielle Fettsäuren nicht selber bilden. Menschen gehören übrigens generell nicht ins Beutespektrum von Wölfen, aber zu behaupten, sie hätten noch nie Menschen angegriffen, wäre gelogen. Vor allem unter Wölfinnen bilden sich diesbezüglich gelegentlich Spezialistinnen.

Wölfe interagieren intensiv mit anderen Arten. So sind Raben und Menschen keineswegs nur mögliche Wolfsbeute, sondern seit Urzeiten Partner bei der Nahrungssuche. Mit Raben und Menschen teilen Wölfe nicht nur ökologische Breite und soziale Intelligenz, diese drei Arten bilden seit den frühen Eiszeiten auf der Nordhalbkugel auch eine Jagd- und Fressgemeinschaft. Also mindestens seit 50 000 Jahren, wahrscheinlich aber viel länger. Denn es gibt keinen Grund anzunehmen, dass nur der erst vor etwa 60 000 bis 100 000 Jahren aus Afrika ausgewanderte moderne Homo sapiens diese ökologische Beziehung zu Raben und Wölfen aufnahm. Wahrscheinlich unterschieden sich unsere unmittelbaren Vorfahren darin nicht von ihrer Schwesterart Homo erectus, die bereits hunderttausende Jahre früher als unsere direkten Vorfahren Afrika verließ. In Nordost-Deutschland etwa wurden 300 000 Jahre alte Siedlungen und Hochtechnologie-Wurfspeere des Homo erectus gefunden. Diese voreiszeitlichen Jäger sowie ihre eiszeitlichen Nachkommen, die Neandertaler, hatten also mit einiger Sicherheit Beziehungen zu Wölfen. Wie intensiv diese Beziehungen waren und ob sie über Räuber-Beute hinausgingen, wissen wir nicht. Mit der Entwicklung der Spiritualität erlangten später zumindest bei Homo sapiens die Natur und bestimmte Pflanzen und Tieren an Bedeutung, darunter auch und vor allem der Wolf.

Menschen, Wölfen und Raben ist unter anderem ihr breites Nahrungsspektrum gemeinsam, das von beinahe vollständig vegetarisch bis hin zu ausschließlich tierisch reicht. Ihre schon sehr lange währenden Gemeinsamkeiten in Ökologie und sozialer Orientierung werden letztlich dafür den Ausschlag gegeben haben, dass Menschen und Wölfe einander über die letzten Jahrzehntausende immer wieder nahe kamen und dass eine dieser Annäherungen der letzten Zwischeneiszeit vor etwa 15 000 Jahren Mensch und Wolf in der Form des Hundes für immer zusammenwachsen ließ. Bezeichnenderweise geschah dies zeitgleich mit einem der tiefgreifendsten sozio-ökologischen Übergänge der Menschheit, jenem vom nomadisierenden Jäger- und Sammlerstadium zur Sesshaftigkeit. Mit der Domestizierung zum Hund übernahmen die Menschen auch symbolisch die Kontrolle über ihr äonenlanges Alter Ego, den Wolf.

Beutegreifer mit Familiensinn

Sowohl Wölfe als auch Menschen verhalten sich innerhalb ihrer Clans weitaus netter und kooperativer als nächstverwandte Arten wie Schakal oder Kojote im Falle des Wolfes oder Schimpanse im Fall des Menschen. Sowohl Wölfe als auch Menschen sind Kooperationstiere. Innerhalb des Rudels/Klans arbeitet man in oft recht komplexer Weise zusammen, bei der gemeinsamen Jagd auf große Beute, beim Aufziehen der Nachkommen, bei der mitunter blutigen Verteidigung der Grenzen des Territoriums und dem Vergrämen von Konkurrenten. Und man ist offenbar mit dieser sozialen Orientierung und der damit einhergehenden gruppeninternen Zusammenarbeit anderen, weniger sozialen Arten überlegen. Eine Parallele dazu stellt übrigens auf der anderen Seite der Welt die „Prinzessin von Burundi“ dar, ein Buntbarsch, der wohl aufgrund eines ausgeprägten Helfer- und Familiensystems so gut wie alle Felsküsten des Tanganjika-Sees bevölkert, während nahe verwandte, weniger soziale Arten oft eine sehr eingeschränkte Verbreitung zeigen. Teamgeist siegt, auch in der Evolution. Der Mensch liefert das beste Beispiel.

Die Gruppe agiert beim Verfolgen gemeinsamer Ziele geschlossen als eine Art „Superorganismus“, der jedoch nicht, wie es bei den sozialen Insekten der Fall ist, fast ausschließlich auf Instinkten beruht, sondern auf den untereinander abgestimmten geistigen Leistungen der Einzelnen. Das bedeutet nicht notwendigerweise gruppeninterne Harmonie. Denn auch in den hoch kooperativen Gruppen der Menschen oder Wölfe herrschen unterschiedliche Einzelinteressen, etwa wenn es um die Reproduktion geht. Daher entwickeln sich in solchen Gruppen immer Rangordnungen, die meist weniger auf Muskelkraft als auf Motivation, Persönlichkeit und sozialer Kompetenz und dem Schließen von Allianzen beruhen. Gewöhnlich profitieren die Hochrangigen vom Zugang zu Ressourcen und die Niederrangigen sind die Helfer im System, entweder weil sie selber davon profitieren oder weil sie despotisch dazu gezwungen werden.

Die moderne Verhaltens- und Kognitionsbiologie zeigt, dass nicht nur Intelligenzleistungen komplexe soziale Organisation erlauben, sondern dass vielmehr umgekehrt ein komplexes Sozialleben als einer der wichtigsten Selektionsfaktoren für die Entwicklung weitgehend paralleler Intelligenzleistungen von Menschen, Wölfen und Raben gelten kann. Die „Social-brain“-Hypothese Robin Dunbars und anderer gilt mittlerweile als die plausibelste Erklärung für die Entwicklung großer, leistungsfähiger Gehirne bei vielen Säugetieren. Sie besagt, dass die geistige Herausforderung, mit vielen anderen Individuen in unterschiedlichsten Beziehungen zu leben, einen starken Selektionsdruck auf das Gehirn ausübt, größer und sozial intelligenter zu werden. Ganz nebenbei trägt das zur Erklärung des Wunders bei, dass Vertreter dieser Arten, etwa Mensch, Wolf und Rabe, einander zwischenartlich verstehen und sogar zusammenarbeiten, wenn es sein muss. Schließlich besteht selbst die Hundwerdung des Wolfes im Grunde in der Verfeinerung der in Wölfen angelegten kooperativen Fähigkeiten im Umgang mit dem Menschen. Unsere Kenntnis, wie diese Entwicklung genau abgelaufen ist, ist freilich noch recht begrenzt. Viele weitere Jahre der Arbeit an unserem Wolfsforschungszentrum werden unser Wissen zum Wesen der Wölfe und zur Hundwerdung wesentlich präzisieren.

Was Wölfe biologisch sind und wie das mit Menschen und Hunden zusammenpasst

Wir sind Säugetiere und als solche Wirbeltiere

Eigentlich ist es Grundtenor dieses Buches, dass es „den Wolf“, „den Hund“ und „den Menschen“ gar nicht gibt, sondern nur viele verschiedene Menschen, Hunde oder Wölfe. „Artspezifisches Verhalten“ war der Fokus der Biologie bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Dann erkannte man, dass die Einheit der Selektion das Individuum ist. Bis heute interessieren sich Verhaltensbiologen daher immer mehr für das, was Individuen tun, und fanden einen großen Reichtum an Taktiken und Reaktionen auf eine variable Umwelt. Eine Typusbezeichnung, also „der Mensch“, „der Wolf“ oder „der Hund“, ist allerdings dann gerechtfertigt, wenn es um die kennzeichnenden Merkmale einer Art geht, etwa um die Zahl und Ausführung der Zähne. Daher ist der Gebrauch der Ein- oder Mehrzahl in diesem Buch nicht zufällig.

Hund und Wolf sollten entgegen anderer Meinungen übrigens immer noch als eine einzige biologische Art gelten, schließlich sind sie auch mit fruchtbaren Nachkommen kreuzbar. Zoologisch gesehen sind Wölfe zuallererst Wirbeltiere, denn wie Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und andere Säugetiere arrangieren auch Wölfe ihren Körper entlang einer Wirbelsäule. Wölfe ähneln großen Haushunden, mit meist längerem Rumpf und höherem, schmalem Brustkorb. Der relativ große und breite Kopf trägt einen kräftigen Kiefer mit wesentlich größeren Zähnen als das beim Hund der Fall ist. Die Augen setzen schräg an, die Ohren sind kurz. Der buschige Schwanz misst etwa ein Drittel der Kopf-Rumpf-Länge.

In den gemäßigten Zonen Eurasiens überwiegen graue Wölfe, auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es weiße, cremefarbene, dunkle, gelbliche, rötliche, graue und schwarze Wölfe. Dass sie trotzdem alle als „Grauwölfe“ bezeichnet werden, mag verwirren, ist aber die Konvention. Die nördlichen Populationen zeigen größere Anteile schwarzer und weißer Tiere und sind größer als die im Süden. Das ist wahrscheinlich durch das Nahrungsangebot bedingt, denn die Riesen benötigen Großwild, während die kleinen Wüstenwölfe in der Regel mit Kleinsäugern ihr Auslangen finden. Die Großen weisen auch weniger Oberfläche bezogen auf ihre Körpermasse auf, sie kommen daher mit der Kälte besser zurecht. Die größten Wölfe leben in den nördlichen Waldzonen Lettlands, Weißrusslands, Alaskas und Kanadas. Sie erreichen eine Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 160 cm und eine Schulterhöhe von etwa 80 cm, bei einem Gewicht von bis zu 80 Kilogramm. Die kleinsten Wölfe von etwa 80 cm Körperlänge leben im Vorderen Orient und auf der Arabischen Halbinsel, sie wiegen nur rund 15 bis 20 Kilo. Kaum größer sind die Wölfe aus Italien. Wolfsweibchen bleiben etwa 10 % kleiner als die Rüden und um 20 % leichter. Männliche mitteleuropäische Wölfe wiegen zwischen 35 und 70 Kilo, Weibchen erreichen kaum 50 Kilo. Die kanadischen Grauwölfe können im Schnitt etwa zehn Kilo schwerer werden, aber die Variation in Farbe und Größe kann beachtlich sein, auch innerhalb von Rudeln.

Die unterschiedliche Lebensweise wirkt sich offensichtlich auch auf die soziale Toleranz bzw. Aggressionsbereitschaft dieser unterschiedlichen Wolfspopulationen aus. Gerade die großen Timber- und arktischen Wölfe gelten als innerhalb des Rudels friedfertig und als sozial tolerant, was plausibel ist, sind sie doch allein aufgrund der Größe ihrer Beutetiere gezwungen, in größeren Rudeln zu leben, was ein kleiner Wüstenwolf aufgrund der geringen Beutedichten nicht kann und aufgrund der geringen Beutetiergröße auch nicht muss. Den kleinen südlichen Wölfen eilt unter Tiergärtnern der Ruf voraus stressanfällig zu sein, während die amerikanischen Timberwölfe als ruhig und umgänglich gelten. Das ist auch der Grund, warum wir uns am WSC für die Timberwölfe und gegen die etwas kleineren Europäer entschlossen haben. Diese Zusammenhänge zwischen Körpergröße und sozialer Toleranz basieren allerdings nur auf Erfahrung und Hörensagen. Gesicherte Daten gibt es zu den Wesensunterschieden von Wölfen unterschiedlicher Ökosysteme oder Herkunft nicht.

Menschen und Wölfe verfügen als Säugetiere im Gegensatz zu den anderen Wirbeltierstämmen über einen in sich unbeweglichen Schädel aus harten Hautknochen samt dem zugehörigen „heterodonten Gebiss“, also einer Differenzierung der Zähne nach Funktionen. An der Schnauzenspitze finden sich die „Incisivi“, die Schneidezähne zum Abbeißen und Abreißen von Nahrung, dann gegen den Mundwinkel ein Eckzahn, der so genannte „Caninus“ (!), der ausgerechnet nach dem Hund bzw. den Hundeartigen benannte Eckzahn der Säugetiere. Dieser „Hundszahn“ dient zum Reißen der Beute, zur Verteidigung gegen Fressfeinde oder zum herzhaften Beißen unliebsamer Artgenossen. Beim Fressen ist er eher im Weg. Gegen das Kiefergelenk folgen ein paar Übergangszähne, so genannte „Prämolaren“, also „Vorbackenzähne“, weder Fisch noch Fleisch, bei denen der Evolution offenbar nicht wirklich eingefallen ist, wozu sie gut sein sollen. Sie sind auch relativ anfällig, bei ingezüchteten Rassehunden gar nicht mehr ausgebildet zu werden. Und schließlich, nah am Kiefergelenk, wo die Hebelkräfte beim Kauen am größten sind, die „Molaren“, die Backen- oder Mahlzähne. Bei Wölfen ist das freilich eine irreführende Bezeichnung, denn zum „Mahlen“ eignen sich diese Zähne ganz und gar nicht. Sie bilden vielmehr eine mächtige Brechschere, die das Knacken auch der härtesten Markknochen erlaubt. Wenn ein gemütlich fressender Wolf die Oberschenkelknochen ausgewachsener Rinder krachend knuspert, dann kann einem schon ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken laufen.