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Susanne Schnabl

WIR MÜSSEN REDEN

Warum wir eine neue Streitkultur brauchen

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INHALT

WIR MÜSSEN REDEN

KALENDERSPRÜCHE STATT POLITIK

Warum Frau T. nicht mehr über Politik diskutieren will und lieber schweigt.

DIE ANDEREN

Wer sind diese Anderen? Vom Multi- und Paralleluniversum und warum es sich dennoch lohnt, ins Gespräch zu kommen.

DER STREIT UND SEIN SCHLECHTER RUF

Warum Streit nicht gleich Streit ist. Warum es den Konflikt braucht und wir eine neue Streitkultur.

DUELL STATT DIALOG – DIE NEUE UNERBITTLICHKEIT

It’s the emotion, stupid! Warum Emotionen Argumente und Fakten schlagen und wir uns deswegen duellieren anstatt zuzuhören.

STREITEN, ABER WIE?

Von brüllenden Vögeln und offenen Ohren, der Notwendigkeit des Widerspruchs und warum es mehr denn je eine kritische Öffentlichkeit braucht.

SPEED KILLS!

Tempo, Tempo. Warum die Rasanz unseren Diskurs umbringt.

DRAMA, BABY!

Empörung – und was dann? Worüber wir uns empören und worüber nicht.

SACHLICH, BABY!

Mehr Sachlichkeit statt Drama. Slow down and keep calm.

ANMERKUNGEN

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Es ist viel passiert. Wenn das chinesische Sprichwort „Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ als gut gemeinter Wunsch verstanden werden darf, haben wir derzeit wohl den Jackpot gezogen. Selten gab es so viel Veränderung, Neues und Umbruch, und selten so viel Aufgeregtheit und Schwarz-Weiß-Malerei, die wohl unerwünschten Nebenwirkungen dieser ereignisreichen Zeit. Da kann einem schon schwindelig werden. Aber was, wenn wir uns letztendlich vor lauter Aufgeregtheit nur noch im Kreis drehen? Das wurde ich unlängst in einem Gespräch in kleiner privater Runde gefragt. Die Frage klang ein wenig vorwurfsvoll, sind wir Journalistinnen und Journalisten – und somit auch ich – doch Teil dieser Öffentlichkeit, die sich rasant verändert und in der um die Deutungshoheit derzeit so unerbittlich gekämpft wird. Das Tempo, die Lautstärke, die Polarisierung macht uns, auch mich, manchmal atemlos, bisweilen sogar ratlos. Es ist laut, eng und gehässig geworden und das schon frühmorgens, wenn einem beim Wischen über das Display die Flut an Push-Nachrichten und Zorn-Postings den Kaffee verdirbt und vor dem Schlafengehen noch einmal die Laune, weil die Twitter-Vögel nicht zwitschern, sondern brüllen, die Wut und der Hass wieder einmal durch das Netz fegen und sich die Welt in den Abendnachrichten immer schneller und bedrohlicher dreht. Und jetzt? Wie weiter? Eine Gesellschaft, so heißt es, sei ja immer nur so klug wie der Diskurs, den sie gerade führt. Nun ja, um diesen scheint es nicht bestens bestellt zu sein. Anstatt einmal tief durchzuatmen, kühlen Kopf zu bewahren, nachzudenken, Fragen zu stellen und einander zuzuhören, verlieren wir uns lautstark empört in einem aufgeregten Gegen- und Durcheinander: „Drama, Baby!“ und „Tempo, Tempo!“ Und schon rufen die nächsten „Skandal!“, die anderen retten gerade die viel zitierte Wahrheit, wenn sie nicht ohnehin vorgeben, sie bereits zu kennen. Die Besser- und Alleswisser haben die Mehrwisser abgelöst, wer nicht in Nanosekunden zu allem und jedem eine Meinung hat, gilt als meinungsschwach. Kritik heißt nun Bashing und die Lautsprecher sind nahezu immer voll aufgedreht.

Aber stopp. Ich will nicht bereits auf den ersten Seiten in die Falle gehen und mich selbst über die Dauer-Empörung empören oder gar den Zeigefinger heben. Dann wäre das hier auch schon die letzte Seite dieses Buches. Resümee: Alles furchtbar – und aus. Das wäre zu einfach. Mir geht es vielmehr um die Frage, wie kommen wir in all diesem Lärm wieder miteinander in ein Gespräch, und das auf Augenhöhe, trotz unterschiedlicher Meinung? Das Argument des anderen zuerst einmal anhören, bevor man mit Meinung und Urteil schon zur Stelle ist. Warum nicht einmal eine Verschnaufpause einlegen und gemeinsam nachdenken, wie wollen wir eigentlich miteinander umgehen, miteinander reden und diskutieren? Denn abgesehen von den unüberhörbar Lauten, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben, was ist eigentlich mit den Leisen, die sich langsam verabschieden, oder denjenigen, die mitten in diesem schrillen Durcheinander bereits schweigen. Das sind nicht wenige. Aber wie klingt eine Gesellschaft, die mit sich selbst nicht mehr im Gespräch ist, weil ständig der rote Alarmknopf blinkt?

Wir müssen reden. Meistens lösen diese drei simplen Worte Unbehagen und sogar leise Furcht vor dem aus, was folgt. Keine Angst. Das hier ist keine Drohung, sondern eine Einladung. Eine jener Einladungen, die viel zu selten ausgesprochen werden, ebenso von uns Journalisten, die wir jeden Tag beschreiben, einordnen und hinterfragen, was gerade passiert und dabei zu selten einfach einmal nur zuhören. Aber dazu mehr im nächsten Kapitel am Weg ins Nagelstudio und der Erkenntnis, dass es sich lohnt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Nach der Daueraufregung der vergangenen Jahre haben wir Gesprächsbedarf und dabei geht es um Grundsätzliches: Was hat uns, wie wir miteinander umgehen und kommunizieren, wie wir Themen verhandeln oder eben auch nicht, bloß so ruiniert? Darüber wurde zuletzt in jener besagten kleinen Runde leidenschaftlich und streitbar diskutiert. Es sind die Gespräche, die abseits der vielen Postings, der 140 bis 280 Zeichen und der perfekt inszenierten Instagram-Fotos fehlen. Interessant wird es ja immer erst dann, wenn wir unsere Rollen ein wenig ablegen, wenn die Inszenierung Pause hat und der Blick hinter die digitale Pinnwand, auf der wir uns täglich präsentieren, frei wird und wir ins Reden kommen.

Das hier soll kein wehleidiger Abgesang auf die sozialen Medien und Netzwerke sein, die uns so viel Weite und zugleich so viel Enge bringen. Kulturpessimismus ist etwas für jene, die in den Rückspiegel blickend meinen: Früher war alles besser. Wir wollen hier nach vorne schauen. Also wie kommen wir wieder ins Gespräch trotz aller Gegensätzlichkeiten und digitalen und analogen Blasen, in denen wir leben? Das ist die eine Frage. Ob im Büro, im Internet, am Stammtisch, in privaten Diskussionen, selbst zu Hause am Küchentisch prallen Meinungen, Standpunkte aufeinander. Politics is back.

Wir leben zwischen den Zeiten. Hinter uns liegen zwei Jahre Dauerwahlkampf, vor uns eine neue Regierung, Europa hat sich nach außen und nach innen verändert, Donald Trump twittert noch immer aus dem Weißen Haus, alte Ordnungen gelten nicht mehr, der Populismus ist in aller Munde und vom Ende der liberalen Welt ist mancherorts nicht mehr nur die Rede. Und während wir rätseln, was uns der diffuse Wunsch nach Veränderung und die Zukunft tatsächlich bringen wird, werden die Bedingungen des Zusammenlebens bereits neu ausverhandelt. Das Alte funktioniert nicht mehr und das Neue ist noch nicht greifbar. Abschied und Neubeginn – und wir sind mittendrin. Was passiert da gerade und wohin führt es?

Wenn sich die Welt folglich so rasant ändert, dann sollten wir doch all unsere Energien dafür aufwenden, darüber zu reden und zu streiten, wie wir in Zukunft leben wollen. Es wird wieder politisiert und es wird so schnell nicht weniger werden. Das ist gut. Gegensätzliche Meinungen beleben bekanntlich nicht nur jedes Gespräch, sondern die Demokratie. Aber was passiert, wenn das Entweder-oder-Denken immer mehr um sich greift. Auch hier in Österreich herrscht mit den neuen politischen Verhältnissen unter einer rechtskonservativen Regierung eine Dafür- oder Dagegen-Stimmung und mit ihr setzen Unerbittlichkeit und ritualisierte Erregung auf beiden Seiten neue Maßstäbe. Gedacht wird in Lagern und selbst wenn es ein bisschen kleinteiliger daherkommt, sind es Schubladen, in die man die anderen aussortiert und einteilt. Das ist weniger gut. Bedeutet Demokratie nicht auch, Meinungen auszuhalten, die einem gegen den Strich gehen? Wenn das tägliche Drama das letzte Minimum an Sachlichkeit ablöst, Argumente gar nicht mehr zählen und es fast ausnahmslos nur mehr um entweder-oder, gut oder böse geht, wäre es jetzt an der Zeit, einmal tief Luft zu holen.

Die Themenliste, an der wir uns emotionsgeladen nach diesem Schwarz-Weiß-Muster abarbeiten und dabei nicht wirklich weiterkommen, ist mittlerweile ellenlang: Migration, Integration, zwischen den beiden Kampfbegriffen der sogenannten „Gutmenschen“ und der „islamophoben Rassisten“ scheint es kein sachliches Dazwischen zu geben. Dabei spielt sich das Wesentliche und Spannende genau in der Lücke zwischen den Extremen ab. Was aber, wenn dieses Dazwischen verloren geht und der Riss – je nach Thema und Glaubensfrage – durch unsere Gesellschaft immer größer wird, weil es nur mehr um „uns“ und „die anderen“ geht. Egal wie komplex die Fragen auch sind, es geht ausnahmslos um dafür oder dagegen, links oder rechts, gut oder böse. Und weil das Private auch politisch ist, hätten wir noch ein wenig weiter unten auf der Liste der hart umkämpften Themen: Die Straße und Radfahrer versus Autofahrer, das Essen und Veganer gegen Fleischesser, oder immer wieder ein Reizthema: Impfen, ja oder nein? Und wer schon einmal miterlebt hat, wie unversöhnlich Eltern ihre erzieherischen Überzeugungen vor sich hertragen, verlässt den (Kampf-)Spielplatz mitunter verunsichert – diese Liste ließe sich endlos fortführen. Aber warum dieser anklagende Ton, diese moralische Überlegenheit Andersdenkenden gegenüber? Die Hölle, das sind bekanntlich nicht nur bei Sartre, sondern insbesondere in den sozialen Medien, immer die anderen. Duell statt Dialog. Dabei wissen wir doch längst, dass die blanke Empörung über den Anderen und das Anderssein uns in unserem Diskurs nicht weiterbringt.

Und damit sind wir bei der zweiten Frage. Warum ist das Zuhören, Argumentieren und Streiten so schwer geworden? Oder war es das schon immer? Streiten um das bessere Argument auf Augenhöhe, fair und leidenschaftlich. Das bedeutet im Idealfall eine Kultur des Streitens anstatt der vielen Hot Takes, welche die Erregungskurven jeden Tag aufs Neue in lichte Höhen treiben. Auch wenn die Sehnsucht nach vermeintlich simplen Antworten so groß und die Unerbittlichkeit den anderen gegenüber so laut ist, wie wäre es mit mehr Sachlichkeit statt Drama – und sachlich meint hier nicht: langweilig. Warum wir gerade jetzt miteinander reden müssen, will ich Ihnen gleich am Weg nach Floridsdorf erzählen.

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Es ist Frühling und ich suche im 21. Wiener Gemeindebezirk das Nagelstudio von Frau T. Leerstehende Geschäftslokale, dazwischen ein Supermarkt, eine Sportwetten-Bar, ein Kebab-Stand, ein Handyladen, irgendwo hier muss es sein, und während der Streusplit unter den Füßen noch an den Winter erinnert, lässt die Frühligssonne die triste Gegend ein wenig freundlicher erscheinen. Sagen wir so, es gibt einladendere Gegenden, durch die man mit seinem Einkaufssackerl schlendern kann. Aber das machen hier die meisten ohnehin im nahegelegenen Shoppingcenter. Es ist eine jener Einkaufstraßen, an deren Auslagen und Geschäften man wie in so vielen Städten die gesellschaftliche Veränderung der vergangenen fünfzig Jahre ablesen kann. Vom Eisenwarenhändler ist nur mehr das Schild über der Auslage geblieben, in der jetzt die Schneiderpuppe des türkischen Änderungsschneiders samt Preisliste steht. Nebenan kann man Kebab und Pizza essen.

Da ist es auch schon. Unzählige kleine Nagellack-Fläschchen stehen in der Auslage. Das ist das Geschäft jener Frau, die in ihren Postings so wütend klang, sich später am Telefon schon ein wenig anders anhörte und mir schlussendlich dieses Interview, zu dem ich gerade unterwegs bin, doch zugesagt hat. Uns Journalisten wird vorgeworfen, dass wir zu selten nach draußen gehen und unseren Blick, gerade wenn es um Politik geht, nicht dorthin richten, wo die Sorgen und Ängste der Menschen zu Hause sind. Also raus aus der Redaktion, dem Fernsehstudio, der Blase und Nabelschau auf der Suche nach Frau T. und ihrem Nagelstudio.

Seit mehr als zwei Jahren dreht sich die Berichterstattung um Wutbürger, Protestwähler, Fake News, den Zorn auf das Establishment, die Ablehnung gegenüber Andersdenkenden, den Hass im Netz. Darüber wurde schon so viel gesagt und geschrieben, aber ins Gespräch kommen mit jemanden, der all diese Skepsis auch gegenüber uns Journalisten teilt, das ist schwieriger als angenommen. Sich entrüsten, schimpfen, jammern oder sich gegenseitig aus dem Weg gehen, das geht schnell und bequem, aber miteinander reden? „Lügenpresse“. Genau das hat es mir auch nicht leicht gemacht, mit Frau T., die hier anonym bleiben möchte, ins Gespräch zu kommen. Es hat Wochen gedauert. Nur zögerlich antwortete sie auf meine Nachrichten. Das Misstrauen ist groß, ihre Verunsicherung offenbar noch mehr.

Frau T. ist Mitte vierzig, betreibt seit Jahren ein kleines Nagelstudio, und wenn sie nicht gerade mit ihren Kundinnen beschäftigt ist, sitzt sie vor ihrem Computer im Geschäft. Sie lächelt verlegen, als sie mir die Türe öffnet. Auch ich bin ein wenig angespannt und so bemühen wir zunächst einmal das Wetter und sprechen ein wenig über ihre Arbeit, während sie gastfreundlich den Kaffee herunterlässt und fragt, ob es stört, wenn sie rauche. Schön langsam bricht das Eis und wir kommen ins Gespräch.

Sie erklärt, warum sie Meldungen, die sie immer wieder auf Facebook liest, für glaubwürdig hält und „die Medien“ für gesteuert. „Irgendetwas muss da ja dran sein“, wiederholt sie ihren Standpunkt, ihre Zweifel auf meine Nachfragen. Das geht eine Zeitlang so. Erst als sich eine gewisse Vertrautheit breit gemacht hat, kommen Frau T. und ich richtig ins Reden. Sie klingt gar nicht zornig wie in ihren Postings auf Facebook, in denen sie unter anderem die angebliche Großzügigkeit gegenüber Flüchtlingen beklagt, die Smartphones geschenkt bekommen würden – diese Falschmeldung hält sich trotz aller Richtigstellungen noch immer. Ihr Facebook-Profil liest sich stellenweise wie jenes einer Wutbürgerin, von denen so oft die Rede ist und die sich selbst selten bis nie zu Wort melden, um einmal öffentlich zu erklären, was sie hinter diesen ärgerlichen Sätzen im Netz so zornig macht. Frau T. ist diesbezüglich eine Ausnahme. Sie hat meine Nachrichten im Gegensatz zu den vielen anderen, die ich kontaktiert hatte, nicht ignoriert oder geblockt, sondern sich zurückgemeldet. Aber von der zornigen Frau im Netz, der ich jetzt hier am Maniküretisch gegenübersitze, ist nicht mehr viel Wut zu spüren. Schallgedämpft erzählt sie von „denen da oben“, dem System, den Ausländern und Flüchtlingen, ihrer Sicht auf die Welt, der Politik und ihrer Unzufriedenheit. „Schauen Sie“, beginnt sie fast jeden Satz, „man darf das ja alles, was man sich so denkt, nicht mehr sagen.“ „Was denn?“ „Naja, die Wahrheit“, seufzt Frau T. und zieht an ihrer Zigarette. Die „Wahrheit“ also, welche nicht mehr ausgesprochen werden dürfe, die wird auch hier im Nagelstudio immer wieder bemüht. Es sind Vermutungen, Gerüchte, zum Teil Vorurteile über Flüchtlinge, Ausländer, Politiker und Medien, die sich trotz Fakten hartnäckig halten und mit ihnen Frau T.s Unsicherheit über eine ungewisse Zukunft. Und dann sagt sie diesen einen Satz, der mich noch tagelang beschäftigt: „Aber mir, uns hier, hört ja niemand zu!“

Zuhören

Geht es darum? Das, was der Soziologe Hartmut Rosa in seinem gleichnamigen Buch „Resonanz“ nennt. Wahrgenommen, gesehen und gehört werden zu wollen. Frau T. klingt gekränkt, als sie diesen Satz sagt. Und sie erklärt auch auf Nachfrage, dass sie nach den Monaten des Wahlkampfes das Gefühl habe, dass ständig nur über „die anderen, die Fremden“ gesprochen werde, als „würde es uns hier nicht geben“. Dass sie Angst habe, dass ihre Kinder keinen guten Job bekommen werden und dass sie trotz ihres kleinen Geschäftes mit anderen, die sich gerade ein neues Auto kaufen oder auf Urlaub fahren, nicht mithalten könne. Nach eineinhalb Stunden hab ich den Eindruck, Frau T. fühlt sich nicht nur abgehängt, sie fühlt sich als Teil unserer Gesellschaft vor allem unsichtbar. Nicht wahrgenommen.