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Paul Chaim Eisenberg

AUF DAS LEBEN!

Witz und Weisheit eines Oberrabbiners

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For Toneya and Steven

INHALT

VORWORT

AUF DAS LEBEN!

DAS LACHEN

FESTE UND FEIERN – DIE JÜDISCHEN FEIERTAGE

BETEN, GLAUBEN UND ZWEIFELN

DAS TRENNENDE UND DAS VERBINDENDE

DER RABBINER

VOM LERNEN UND LEHREN

VORWORT

Meine Besonderheit – oder mein Problem – ist, dass ich sehr vieles ein wenig bis recht gut kann, aber nichts perfekt. Ich singe, aber unser Kantor singt schöner. Ich erzähle Geschichten, aber der große Rabbiner Schlomo Carlebach erzählte besser. Ich leite Gottesdienste, aber es gibt viele Rabbiner, die das viel besser können. Ich interessiere mich für Mode, aber darüber schreibe ich besser kein Buch. Ich bin ein wenig eingebildet, halte mich aber für bescheiden.

Als ich vor vierzig Jahren nach Wien gekommen bin, beschäftigte sich der Österreichische Rundfunk in seinen Religionssendungen fast ausschließlich mit dem Christentum. Erst langsam entwickelte sich ein Interesse an anderen Religionen. Als junger Rabbiner mit einigermaßen guten Deutschkenntnissen habe ich im Laufe der Zeit den „jüdischen Part“ übernommen: Ich habe regelmäßig in Sendungen mit anderen religiösen Würdenträgern diskutiert, und einige Zeit lang hatte ich sogar eine eigene Fernsehsendung namens „Schalom“ im ORF. Der Jude, der sich vor mir in den Medien um die interreligiösen Beziehungen kümmerte, hieß Otto Herz. Er war kein Rabbiner, aber ein gelehrter Jude, und er wollte, dass ich nach meiner Rückkehr nach Wien diese Aufgabe übernehme. Er gab mir dauernd Ezzes. Einmal hat er mir sogar eine Brille mit Goldrand geschenkt und gesagt, dass ich damit intelligenter ausschaue.

Im Laufe der Jahre habe ich mich nicht nur auf religiöse Sendungen konzentriert; ich war auch in solchen zu Gast, von denen gute Freunde meinten, dass ein Oberrabbiner dort eigentlich nichts verloren habe. Da war zum Beispiel die ORF-Sendung „Willkommen Österreich“, in die ich vor einigen Jahren eingeladen wurde. Ich fand mich dort gleich zwei professionellen Komikern gegenüber, die ständig versucht haben, ihre Gäste zu übertrumpfen. Sie stellten mir mehrere spitzfindige Fragen, ähnlich wie im Talmud.

Die beiden hatten für jeden Gast Getränke vorbereitet. Ich ersuchte sie um einen koscheren Wein. Sie kredenzten ihn mir und fragten mich, was denn eigentlich ein koscherer Wein ist. Weil das ziemlich schwer zu erklären ist, sagte ich einfach: Ein koscherer Wein ist ein Wein, den der Oberrabbiner trinkt. Dann fragten sie mich, was einen Oberrabbiner von einem Rabbiner unterscheidet, ob das so ähnlich sei wie bei Bischof und Priester, wo der eine höher geweiht ist als der andere. Ich erklärte ihnen, dass die Weihe die gleiche ist. Aber der Unterschied zwischen einem Rabbiner und einem Oberrabbiner besteht darin, dass der Rabbiner die Regeln kennen muss – und der Oberrabbiner auch die Ausnahmen.

Bescheiden, wie ich bin, glaube ich, in der Sendung ein „Unentschieden“ erreicht zu haben. Ich werde aber nicht behaupten, dass mich die beiden Moderatoren deshalb kein zweites Mal in ihre Sendung eingeladen haben.

Manche Leute haben die Abkürzung ORF mit OberRabbinerFernsehen gedeutet. In letzter Zeit ist mir zwar der Sinn für Humor nicht verloren gegangen, aber ich bevorzuge mittlerweile die klugen jüdischen Anekdoten, über die man nicht laut lacht, sondern mit tieferem Verständnis schmunzeln kann. Das sieht man auch an diesem Büchlein. Ich habe versucht, wertvolle jüdische Weisheiten zu versammeln, dabei aber nicht auf den Humor zu verzichten.

Denn auch wenn wir objektiv in „schlimmen Zeiten“ leben, dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren. Der große jüdische Philosoph Maimonides formuliert das in seinen Glaubenssätzen in etwa so: Wir warten jeden Tag auf die Ankunft des Messias, auf die Erlösung. Wenn er oder sie aber heute nicht kommt, dann ist es vielleicht morgen soweit. Aus der Enttäuschung, dass etwas nicht eingetreten ist, was wir ersehnt hatten, sollte keine Resignation entstehen – sondern neue Hoffnung.

AUF DAS LEBEN!

Prioritäten

Vor einigen Jahren organisierte ein prominentes Mitglied der Wiener Jüdischen Gemeinde einen Galaabend im Burgtheater. Kardinal Schönborn und ich als Oberrabbiner sollten über Weihnachten, Hanukkah und andere theologische Themen sprechen. Das Burgtheater war ausverkauft. Doch einen Tag vor der Veranstaltung bekam ich einen Anruf. Eine junge jüdische Frau aus Wien, erst 26 Jahre alt, war in Israel an einem Gehirntumor gestorben. Ihre Eltern ersuchten mich, das Begräbnis in Israel zu gestalten und über die Verstorbene zu sprechen. Ich zögerte ein wenig, beschloss aber schließlich, den Abend im Burgtheater abzusagen oder sausen zu lassen und nach Israel zu fahren. Die Veranstalter in Wien versuchten mich mit allen Mitteln zu überreden, in Wien zu bleiben. Sie meinten nicht ganz zu unrecht, dass es in Israel hunderte Rabbiner gebe, die bei dem Begräbnis sprechen könnten. Ich aber hatte den Mut und den Leidensweg dieser jungen Frau miterlebt, und so fuhr ich nach Israel.

Der Dalai Lama und ich

Vor vielen Jahren wurde in Graz auf den Mauern der alten Synagoge eine neue erbaut. Bei der Eröffnung habe ich der Jüdischen Gemeinde in Graz versprochen, in Bälde einen Schabbat mit meiner Familie dort zu verbringen. Allerdings war ich meistens am Schabbat in Wien so beschäftigt, dass ich mein Versprechen lange Zeit nicht einlösen konnte.

Eines Tages lud mich dann der Dalai Lama zu einem öffentlichen Friedensgebet ein – auf den Kasematten in Graz. Auch der zum Islam konvertierte Sänger Cat Stevens, der sich mittlerweile Yusuf Islam nannte, nahm daran teil. Das Friedensgebet fand an einem Freitag etwa drei Stunden vor Schabbat statt. Meine liebe Frau hatte Bedenken, dass wir es nicht mehr rechtzeitig aus Graz zum Fest nach Wien schaffen. Da fiel mir mein Versprechen an die Jüdische Gemeinde in Graz wieder ein. Also entschieden wir uns, am Friedensgebet teilzunehmen und danach den versprochenen Schabbat in Graz zu feiern. So hat es der Dalai Lama der Jüdischen Gemeinde in Graz zu verdanken, dass der Oberrabbiner bei seinem Gebet war – und die Jüdische Gemeinde dem Dalai Lama, dass der Oberrabbiner mit ihr Schabbat feierte.

Vor einiger Zeit sollte ich bei einem interkonfessionellen Konzert singen. Wenige Tage davor erreichte mich wieder eine Einladung des Dalai Lama zu einem anderen ökumenischen Friedensgebet. Es war am gleichen Abend wie jenes Konzert. Ich habe kurz darüber nachgedacht, wen ich enttäuschen soll: die Menschen mit den Konzertkarten oder den Dalai Lama. Schließlich entschied ich mich dafür, dem Dalai Lama einen Korb zu geben.

Die Chuzpe des Oberrabbiners

Vor vielen Jahren war der Papst zu Gast in Österreich, ich glaube, es war Johannes Paul II. Freundlicherweise hat er auch die jüdischen Vertreter eingeladen, ihn zu treffen. Das war 1988, ich war noch jung und fesch und frech. Besonders beeindruckt hat mich, dass der Papst auch nach Mauthausen gefahren ist, um dort der ermordeten Juden zu gedenken. Es war ein Freitagnachmittag, und wieder war ich wegen des herannahenden Schabbats nicht dabei, aber ich habe die Rede des Papstes im Fernsehen gesehen. Er sprach einleitend vom schrecklichen Leid, das den Menschen in Mauthausen widerfahren war. Dann sagte er aber, dass ihn das an das Leiden von Jesus erinnert, und ab diesem Moment hat er fast nur mehr über das Jesu-Leid gesprochen. Etliche Journalisten wollten danach Reaktionen auf diese Rede. Mich fragte man auch. Ich habe gesagt, dass ich mich nicht erinnere, dass Jesus jemals in Mauthausen gewesen wäre. Das hat natürlich Wellen geschlagen, sogar die „New York Times“ hat das Zitat gebracht, und der Generalsekretär des World Jewish Congress hat mir ein Telegramm geschickt, in dem er schrieb, ich habe recht. Diese Geschichte fällt mir immer wieder ein, wenn es um Chuzpe geht. Die Frage ist nur, ob es eine Chuzpe von mir oder eine des Papstes war.

Der goldene Mittelweg

Moderates Denken und Handeln ist nicht ein Kompromiss zwischen zwei Extremen, sondern ein ganz eigener Weg. Maimonides, der große jüdische Religionsphilosoph des Mittelalters, empfiehlt uns, immer den Mittelweg zu suchen, um gut durch das Leben zu kommen. Man sollte also weder knausrig sein, noch das Geld mit beiden Händen aus dem Fenster werfen. Man sollte nicht ständig traurig und schwermütig sein, aber auch nicht dauernd übermütig. Sondern manchmal traurig und manchmal fröhlich – je nach Anlass und Gegebenheit. Das ist, ich weiß, leichter gesagt als getan.

Maimonides hat einige praktische Tipps für uns, um auf den goldenen Mittelweg zu finden: Wenn wir beispielsweise dauernd zu spät kommen, dann sollten wir uns einige Zeit lang bemühen, überpünktlich zu sein und sogar zu früh zu Terminen zu erscheinen. Das Ergebnis wird sein, dass wir irgendwann pünktlich sind.

Ein zweites Beispiel: Wenn jemand sehr knausrig ist und nie für etwas spenden will, soll er über seinen Schatten springen und eine Zeit lang fast übermäßig großzügig sein. Auch das sollte – hoffentlich! – dazu führen, dass dieser Mensch die goldene Mitte findet.

Bei zwei Eigenschaftspaaren allerdings sollte man laut Maimonides keinesfalls den Mittelweg wählen: Bei Zorn und Sanftmut beziehungsweise bei Hochmut und Bescheidenheit. Vielmehr sollte man sich bemühen, eher sanftmütig zu sein als zornig; und eher bescheiden als zu sehr von sich eingenommen. Natürlich setzen all diese Veränderungen ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis voraus – wie das eben bei den meisten positiven Entwicklungen im Leben so ist.

Keine Angst vor Juden!

Vor zwanzig Jahren erschien in der „Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung“ ein Artikel mit dem Titel „Der koschere Knigge“. Er richtete sich an jene Nichtjuden, die glauben, dass sie Juden anders behandeln müssen als andere Menschen, nämlich rücksichtsvoller. Das geht meistens schief.

Der erste Punkt dieses Knigge war, dass das Wort „Jude“ heute kein Schimpfwort mehr ist. Zwar heißt die Jüdische Gemeinde in Wien bis heute „Israelitische Kultusgemeinde“, weil zu jener Zeit, als sie gegründet wurde, das Wort „Jude“ tatsächlich so negativ besetzt war, dass man lieber „Israelite“ sagte. Wir haben schon oft überlegt, ob wir die Kultusgemeinde in „Jüdische Gemeinde“ umbenennen sollen. Es ist aber nie etwas daraus geworden, weil das entsprechende Gesetz mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden müsste – und das ist a bissele anstrengend. Also ist es bei „israelitisch“ geblieben.

Ganz wichtig ist mir der Unterschied zwischen „israelitisch“, was „jüdisch“ bedeutet, und „israelisch“. „Israelisch“ sind Leute, die in Israel leben, davon sind natürlich die meisten jüdisch, aber Juden in der Diaspora sind nicht automatisch Israelis. Die Mitglieder der „Israelitischen Kultusgemeinde“ von Wien hingegen sind zum allergrößten Teil österreichische Staatsbürger. Wenn jemand also „Israelische Kultusgemeinde“ sagt, dann ist das ein echter Fehler. Natürlich haben die allermeisten Juden eine Beziehung zum Staat Israel. Dass dieser drei Jahre nach der Schoah gegründet wurde, ist auch für jene Juden, die nicht in Israel leben, ein wichtiger Punkt.

Dazu gibt es eine schöne Geschichte: Während man heute in ein Flugzeug steigt und in wenigen Stunden in Israel ist, war eine Reise nach Jerusalem früher einmal sehr langwierig und strapaziös. Doch viele Rabbis und andere Juden, denen das geistigmystische Erlebnis wichtig war, haben diese Anstrengungen auf sich genommen. Einmal legte ein Rabbi, der gerade aus Israel zurückgekehrt war, in einem Städtchen nur wenige Kilometer vor seinem Heimatort einen Zwischenstopp ein. Er blieb eine Woche in einem guten Hotel und erholte sich von den Beschwerlichkeiten der Reise. Die Leute fragten ihn, weshalb er nicht direkt nach Hause fahre. Da sagte der Rabbi: „Wenn ich aus Israel komme und krank und mitgenommen aussähe, dann glauben die Leute ja, dass auch Israel in einem miserablen Zustand ist. Das will ich auf keinen Fall.“ Vielen Juden ist das Ansehen Israels sehr wichtig.

Obwohl viele von uns dieses besondere Verhältnis zu Israel haben, sind wir trotzdem keine Israelis. Wir sind Juden. Daher muss man heute das Wort „israelitisch“ eigentlich nicht verwenden – außer bei der offiziellen Bezeichnung der Kultusgemeinde. Man kann uns einfach Juden nennen. Und wenn jemand glaubt, dass das Wort Jude negativ besetzt ist, dann ist das sein Problem – und nicht unseres. Manche sagen sogar in Bezug auf den Antisemitismus, dass er im Grunde das Problem der Antisemiten ist und nicht das der Juden. Allerdings wurde der Antisemitismus sehr wohl immer wieder zum Problem der Juden.

Im „koscheren Knigge“ steht auch, dass das Judentum keine Frage der Bruchrechnung ist. Wenn man einem Juden begegnet, dann soll man ihn also bitte nicht fragen, ob er „Volljude“ ist oder „Halbjude“. Man soll auch nicht von der eigenen Urgroßmutter namens Sara erzählen, durch die man selbst möglicherweise „Achteljude“ sei. Das Judentum geht in der klassischen Auffassung von der Mutter auf das Kind über. Wenn jemand also eine jüdische Mutter hat, ist er ein Jude, ganz egal, ob der Vater Jude ist oder nicht. Interessanterweise ist es bei den Moslems genau umgekehrt: Da ist das Kind eines moslemischen Vaters automatisch ein Moslem, das Kind einer moslemischen Mutter aber nicht. Daraus ergibt sich der Widerspruch, dass ein Kind mit einem jüdischen Vater und einer moslemischen Mutter für die Juden ein Moslem ist, für die Moslems aber ein Jude.

Es stimmt auch nicht, dass alle Juden Genies sind, die meisten Juden sind nicht klüger als andere Menschen. Allerdings müssen sich Juden nicht zuletzt durch ihre Religion immer wieder intellektuell mit unterschiedlichen Themen und Fragen beschäftigen. Dafür lernen wir früh lesen und schreiben. Da kann es natürlich sein, dass einige überdurchschnittlich kluge und gebildete Juden herauskommen. Es gibt auch überdurchschnittlich viele jüdische Nobelpreisträger.

Aber wenn ein Mensch sagt, die Juden seien generell viel klüger als die anderen, dann vermute ich zwar, dass er damit eigentlich etwas Projüdisches sagen will. Doch manchmal steckt dahinter nur Neid. Und der ist nicht projüdisch.

Das gilt noch mehr für das Vorurteil, alle Juden wären reich. Es gibt sehr viele Juden in der Mittelschicht; und es gibt zahlreiche Juden, denen es ökonomisch schlecht geht. All die Gebote zu Wohltätigkeit, zu sozialer und finanzieller Hilfe im Judentum beruhen ja darauf, dass es arme Juden gibt. Dass einige Juden sehr reich sind, können und wollen wir natürlich nicht leugnen, aber das auf alle umzulegen, halte ich für ein problematisches Vorurteil.

Ein anderer verbreiteter Irrtum ist, dass die Mehrzahl der Juden alle Gebote der Tora einhalten. Als Rabbiner muss ich sagen, dass das leider nicht stimmt. Natürlich gibt es sehr observante Juden, die jedes Detail um den Schabbat kennen und sich bemühen, alle Gebote einzuhalten. Aber es gibt auch andere Juden, auf die das absolut nicht zutrifft, die sich aber aus der Geschichte und der Tradition her als Juden verstehen. Das kann und soll man ihnen nicht absprechen, selbst wenn sie die Gebote nicht einhalten.

Ein weiterer Punkt aus dem Knigge betrifft die Vergangenheitsbewältigung: Es gibt gerade in Österreich und in Deutschland viele Menschen, deren Väter, Großväter oder Großonkel in der SS waren. Das müssen diese Menschen aber nicht jedem Juden, den sie treffen, auf die Nase binden. Manche Menschen sind als Reaktion darauf, dass ihre Vorfahren Nazis waren, den Weg in die „andere Richtung“ gegangen und zeigen sich besonders offen, liberal und interessiert Juden gegenüber. Doch wenn jemand heute zu einer anständigen Haltung gegenüber Juden fähig ist, dann muss er uns das eigentlich nicht erzählen. Viele Juden, die wie meine Eltern durch die Schoah gegangen sind, erzählen fremden Menschen auch nicht, was ihnen alles widerfahren ist. Sie behalten das für sich. Sogar uns Kindern haben sie nicht alles erzählt. Manche schämen sich sogar, überlebt zu haben. Manche wollen ihre Kinder schonen, aber oft ist nach vielen Jahren das Eis gebrochen. Dass Menschen, die in der Schoah auf der „anderen Seite“ gestanden sind, dann nicht darüber reden wollen, ist mehr als verständlich! Aber auch da gibt es Momente, in denen man offener zu Kindern oder Enkel wird. Wenn diese Kinder oder Enkeln später miteinander befreundet sind, erzählen sie einander die Geschichten der Familien oder sogar die Geschichte vom Großvater, der in der SS gewesen ist.

Wir Juden sind auch nicht das Gewissen der Menschheit. Wir erheben nicht den Anspruch, es zu sein. Bekanntlich wurden die Juden über viele tausend Jahre verfolgt, das ist historisch verbrieft. Daraus ergibt sich aber nicht automatisch, dass Ungerechtigkeiten aller Art und aller Völker unser Hauptgesprächsstoff sind. Natürlich gibt es eine Menge Juden, die sich leidenschaftlich zum Beispiel mit dem bedrohlichen Klimawandel in Umwelt und Politik beschäftigen. Und es gibt überdurchschnittlich viele weltoffene Juden, die Ungerechtigkeiten nicht akzeptieren wollen, auch wenn sie andere betreffen. So marschierten in den USA zu Zeiten Martin Luther Kings viele Juden und sogar Rabbiner bei Märschen und Demonstrationen an der Seite der benachteiligten und bedrohten Schwarzen. Dieses Engagement ist schön und richtig. Aber es ist kein „Programm“, an das sich alle Juden halten.

DAS LACHEN

Jüdischer Humor

Witz und Humor sind zwei Paar Schuhe. Mir gefällt das Bild, dass Humor wie die Wellen auf dem Meer ist und der Witz wie die Schaumkrone auf einer Welle. Eine Schaumkrone kann selbstverständlich sehr interessant sein, aber erst die Welle trägt sie. Ohne die Welle gibt es die Schaumkrone nicht. Ich habe im Laufe meines Lebens meine Einstellung zum Witz immer wieder ein wenig geändert: Ich glaube heute, es sind nicht die Witze, die uns helfen, die Dinge besser zu verstehen. Sondern es sind die klugen und manchmal auch humorvollen Bemerkungen und Geschichten. Grobe und verletzende Witze sind sowieso ein No-Go, auch frauenfeindliche Scherze und solche, die Menschen niedermachen. Das sind Dinge, die man nicht tun sollte.