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ADELE NEUHAUSER

ICH WAR MEIN GRÖSSTER FEIND

AUTOBIOGRAFIE

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INHALT

Weitergehen

Ich bin ein Kind zweier Welten

Bin ich’s oder bin ich’s nicht?

Ein halbes Leben für’s Theater

Schweigen

Zeit zu gehen

„Adele, wo ist eigentlich dein Glück?“

Kinder haften für ihre Eltern

Leben in anderthalb Stunden

Loslassen

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Mein Großvater, der Maler Leopold Schmid, und ich mit cirka 14 Jahren beim Spaziergang im Waldviertel.

WEITERGEHEN

Gehen ist für mich immer schon ein Lebensthema gewesen: Das Gehen und besonders das Weitergehen, wenn ich müde war. Hinter jeder Biegung, auf den Hügeln, nach einem Waldstück erwartete mich dann etwas Neues – meist Schönes –, das mich für mein Durchhalten entschädigte.

Meine Großeltern mütterlicherseits hatten einen äußerst forschen Gang, von ihnen wurde ich ins Gehen mitgenommen. Von mir wurde bereits als Kind erwartet, bei dem Tempo mitzuhalten, das die beiden anschlugen, wenn ich mit ihnen zu Fuß das Waldviertel durchkämmte. Das war mir überhaupt nicht unrecht: Ich habe schnelles Gehen von klein auf geliebt.

Mein Großvater war allerdings kaum einzuholen. Der einzige Grund, dass meine Großmutter und ich auf unseren Ausflügen wenigstens hin und wieder zu ihm aufschließen konnten, war die Tatsache, dass mein Großvater Maler war: Seine Profession brachte ihn dazu, manchmal doch innezuhalten und seinen Zeichenblock zu zücken, um rasch einen schroffen Felsen zu skizzieren oder eine elegante Baumgruppe festzuhalten, die ihn besonders beeindruckte. Ohne diese Pausen, bei denen es sich also um Kunstpausen im wahrsten Sinne des Wortes handelte, wäre er uns ganz einfach auf und davongerannt.

Dabei erklärte er mir auch noch in einem Affenzahn die Flora und Geologie des gesamten Waldviertels! Ich merkte mir von all den Namen und Bezeichnungen natürlich genau gar nichts, trotzdem war es eine großartige Erfahrung, seinen Ausführungen zuzuhören.

Auch meine Großmutter war eine extrem naturverbundene und geerdete Frau. Ich erinnere mich, wie sie während einem dieser Ausflüge einen Hochstand erkletterte und dabei von einem Förster beobachtet wurde: „Na, Sie sind aber naturisch!“, sagte der Förster anerkennend und traf damit ins Schwarze. Meine Großmutter war wirklich sehr naturisch und erdverbunden. Ich glaube, davon hat sie mir etwas mitgegeben.

Während meine Mutter eher eine gemütliche Müßiggängerin war, marschierte mein aus Griechenland stammender Vater zeitlebens immer mit langen, schnellen Schritten drauflos, wenn wir gemeinsam seine Lieblingsinsel Amorgos erkundeten oder uns durch die staubigen Straßen von Athen bewegten.

Aber er machte nicht bei seiner Heimat halt: Als ich bereits erwachsen und selbst Mutter war, lud er mich und meinen Sohn Julian nach Südamerika ein, weil er uns gehend, Schritt für Schritt, die Schönheit Perus und Ecuadors zeigen wollte. Sein Tempo entsprach dabei ganz seinem fremdenführerischen Ehrgeiz: In drei Wochen Südamerika bekamen Julian und ich alles zu sehen, was mein Vater in drei Jahren bei jeweils sechswöchigen Aufenthalten entdeckt hatte.

Zum Beispiel den majestätischen Machu Picchu. In meiner Naivität hatte ich mir ausgemalt, wir würden ganz einsam und alleine die mystische Aura dieses außergewöhnlichen Ortes genießen können. Stattdessen wurden die Touristen busweise an unser Ziel gekarrt, sodass mein Vater beschloss, sich durch einen besonders forschen Schritt von den Besuchermassen abzusetzen. Gruppen mochte er nie besonders – und schon gar nicht, wenn er sie nicht anführen konnte. Julian und ich hatten allerdings Mühe, ihm zu folgen, die ungewohnte Höhenluft machte mir doch zu schaffen – abends kämpfte ich mit Schüttelfrost und Übelkeit: „Das kommt vom Rauchen. Hör auf damit!“, sagte mein Vater als Reaktion darauf streng, „hör end-lich auf zu rau-chen, Adele!“

Das hätte nicht geschadet, klar. Aber in Südamerika herrschten schon erschwerte Höhenbedingungen: In Europa jedenfalls komme ich beim Wandern bis heute selten außer Atem. Auch in der Stadt lege ich Wege meistens in der Hälfte der angegebenen Zeit zurück und muss dann erst einmal zwei oder drei Zigaretten rauchen, um mir die Zeit zu vertreiben, während ich auf meine Verabredung warte.

Vielleicht liegt es an dieser doppelten Prägung durch meinen Vater und meine Großeltern: Als ich begann, an diesem Buch zu arbeiten, erste Notizen zu machen, tauchte das Thema „Gehen“ immer wieder in meiner Erinnerung auf. Ich wollte keineswegs mein Leben wie eine abgeschlossene und statische Geschichte erzählen. Deshalb kann ich zwar von meinem bisherigen Weg gerne berichten, der Blick wird dabei aber immer auch nach vorne gerichtet sein und auf die Wege verweisen, die hoffentlich noch vor mir liegen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das mit der Zukunft so stark empfinde. Das einzige, was ich weiß, ist, dass mein Leben mich „weitergehend“ zu mir geführt hat.

Zum anderen gab es in meinem bisherigen Leben immer wieder Momente, in denen ich mich aufraffen und forsch weitergehen musste, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Damit meine ich nicht nur Schicksalsschläge, sondern auch Situationen, in denen ich fühlte: Ich brauche jetzt einen neuen Impuls, um mich aus Verpflichtungen zu lösen, die ich als einschränkend und beklemmend empfand. Mein Umfeld dachte damals sicher oft, ich wäre verrückt, weil ich vermeintliche oder tatsächliche Sicherheiten einfach opferte, um einen Pfad zu betreten, der neu, frisch und interessant für mich war – aber natürlich gleichzeitig nicht ungefährlich. Freiheit war für mich schon immer wichtiger als Sicherheit. Sie nicht nur zu ersehnen, sondern auch zu leben.

An solchen Lebenskreuzungen muss man seine Entscheidungen alleine treffen. Und da ist sie wieder, die Analogie zum Gehen, zum Weitergehen: Auch in der Natur bin ich eigentlich am liebsten alleine, weil ich nur dann sicher bin, mein eigenes Tempo anschlagen zu können. Wenn man mich zwingt, mich zu verlangsamen, den Schwung herauszunehmen, werde ich müde, dann verliere ich den Spaß an der Sache. Im übertragenen Sinn bin ich eine Marathonläuferin, habe einen langen Atem und Durchhaltevermögen, aber irgendwann gibt es den Punkt, an dem mir langweilig wird – genau das Gefühl, das mich in meinem Leben immer dann befallen hat, wenn ich wusste: Jetzt ist es wieder Zeit weiterzugehen!

Ein richtiges Buch zu schreiben, ist keine kleine Entscheidung. Es ist eine Aufgabe voller Selbstzweifel und Fragen. Ich bin ja schließlich kein van Gogh, keine Garbo, keine Pionierin auf meinem Gebiet, die etwas außergewöhnlich Großes hinterlassen wird. Ich bin, so glaube ich, am ehesten eine Volksschauspielerin – ein Titel, den ich mir allerdings auch selbst verliehen habe, weil er genau das wiedergibt, was ich als Sinn und Zweck meines Berufes verstehe.

Wie, überlegte ich, müsste also ein Buch beschaffen sein, das von mir und meinem Leben handelt? Es müsste eine Geschichte sein, die überrascht, die ehrlich erzählt, die witzig ist und unterhaltsam. Die meisten Menschen, die mein Buch aufschlagen werden, haben wahrscheinlich das Bild von mir, das in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt vorwiegend auf dem Bildschirm entstanden ist. Aber viele werden nicht so genau wissen, wie es dazu gekommen ist, was dem an Mühe, Fehlschlägen, aber auch großartigen und unterhaltsamen Geschichten voranging. Diesen weniger bekannten Teil von mir, so meinte ich, könnte dieses Buch erzählen und beleuchten.

Womit ich nicht gerechnet hatte, gar nicht rechnen konnte: Dass die Jahre 2015 und 2016 für mich privat zu den schwierigsten und traurigsten Jahren meines Lebens werden würden. Innerhalb kurzer Zeit verlor ich nicht nur meine beiden Eltern, sondern auch meinen Bruder Alexander. Diese Ereignisse brachen im wahrsten Sinne des Wortes über mich herein und schüttelten nicht nur mich selbst, sondern auch den Plan für mein Buch komplett durcheinander.

In dieser Zeit des Trauerns wurde mir durch Gespräche mit Freunden klar, dass ich nun ein Alter erreicht habe, in dem es normal zu werden beginnt, dass Menschen in meinem Umfeld sterben. Der Tod, den ich in meiner Jugend manchmal als eine Art Mutprobe betrachtet, mich mit meinen Selbstmordversuchen freiwillig in seinen Bereich begeben hatte, kehrte in den beiden letzten Jahren plötzlich mit einer für mich ganz neuen Wucht und Unabwendbarkeit zu mir zurück.

Und die Erfahrung mit dem Tod veränderte meinen Blick auf meine Vergangenheit, Familie, Gefährten und die gemeinsamen schönen Erlebnisse tiefgreifend. Es kam mir zwischendurch fast absurd vor, ein „unterhaltsames“ Buch zu schreiben, launige Anekdoten zu erzählen, wo ich so tief von Trauer erfüllt war.

Gehen hatte auch in dieser düsteren und traurigen Zeit etwas Heilendes. Vor allem, wenn ich mich in der Natur bewegte. Wann immer es mir die Arbeit erlaubte, marschierte ich, ging raus und weiter und weiter.

Viele Jahre meines Lebens habe ich in Polling, in Oberbayern, auf dem Land verbracht. Erst als ich wieder nach Wien zurückkehrte, bemerkte ich, wie sehr mir die täglichen Spaziergänge und Wanderungen mitten in der Natur fehlten, die in Polling mein tägliches „Seelen-Brot“ gewesen waren. Ich vermisste genau die Art von Erdung, die ich bei meiner Großmutter kennengelernt und als Bedürfnis aus meiner Kindheit in mein Erwachsensein mitgenommen hatte.

In der Lunge sitzt die Trauer, sagen die Chinesen. Deshalb benötigte meine Lunge die heilende Wirkung von Wanderungen und Spaziergängen in diesem vergangenen Jahr ganz besonders. Ich ging, so oft ich nur konnte. Viele der Erinnerungen und Geschichten, die ich in diesem Buch versammelt habe, sind zuerst auf jenen Spaziergängen und Wanderungen wieder in mein Bewusstsein gerückt, die ich unternahm, um nach und nach die Trauer aus meiner Lunge entweichen zu lassen. Mir kam es so vor, als käme die Gewissheit – ich überstehe die Trauer gestärkt und verwandelt – von den Schritten, die ich gehe.

Wenn ich an die belebende Kraft des Gehens denke, fällt mir sofort eine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren in Kärnten erlebt habe. Ich war damals noch mit meinem Ex-Mann Zoltan zusammen, und gemeinsam mit unserem Sohn Julian und einer befreundeten Familie machten wir Hüttenurlaub irgendwo in den Kärntner Bergen. Meine Freundin und ich kreierten abenteuerliche Schnitzeljagden für die Kinder, was uns schon bei der Planung riesigen Spaß machte. Wir verbrachten eine wunderschöne Urlaubszeit in der beeindruckenden Natur.

Aber irgendwann wurde ich unruhig. Man konnte von der Hütte aus, auf der wir uns befanden, nur entweder hinauf oder hinunter gehen, und nachdem ich eine Zeit lang immer wieder abwechselnd hinauf und hinunter gegangen war, sagte ich zu den anderen: „Ich möchte gern auf den Gipfel, wollen wir nicht hinaufsteigen?“

Als Reaktion auf meine Frage wurde es plötzlich mucksmäuschenstill, um dann nahtlos in fröhliches Geplauder überzugehen. Alle schienen meinen Vorschlag geflissentlich überhört zu haben. Gut, dachte ich, umso besser, am liebsten gehe ich sowieso alleine. Ich erkundigte mich beim Hüttenwirt nach dem besten Pfad für den Aufstieg. Nach einem kurzen Erklärungsversuch meinte der Wirt, das wäre viel zu kompliziert: „Ich geb Ihnen einfach meinen Sohn mit, der kennt den Weg genau.“

Das klang doch nach einem guten Vorschlag. Nur leider war der Sohn seit Jahren Taxifahrer in Wien und schien irgendwie ziemlich erschöpft zu sein. Während ich mein übliches Tempo vorlegte, fiel mein vermeintlicher „Führer“ immer weiter ab. Wenn ich zurückblickte, sah ich ihn heftig keuchend hinterherhuchteln, während er mir mit lapidaren Handzeichen deutete, ich solle ruhig weitergehen und nicht auf ihn warten.

Na super, dachte ich: Er kennt den Weg genauso wenig wie ich, da hätte ich gleich alleine gehen können. Irgendwann stand ich plötzlich in Gipfelnähe auf einem schmalen Grat, und mich überkam ein leichtes Schwindelgefühl: Ich gehe zwar ausgesprochen gerne wandern, aber das heißt keineswegs, dass ich schwindelfrei bin. Während ich versuchte, tief durchzuatmen und mein Gleichgewicht zu bewahren, schloss mein Begleiter, der völlig ausgepumpt war, zu mir auf, drückte mir wortlos ein Fernglas in die Hand und deutete auf einen dunklen Punkt am Himmel. Ich hob das Fernglas an die Augen und sah – einen Adler, der in ruhigem Flug, fast ohne seine mächtigen Schwingen zu bewegen, an der Felswand entlangsegelte.

Dieser fantastische Anblick gab mir noch einen zusätzlichen Energieschub, und ich wollte weiter, weiter über den Grat und auf der anderen Seite ein Stück hinunter, dorthin, wo sich sonst nur die Gämsen tummelten. Das erste Mal fühlte ich, was es heißt: sich gleichsam im Wohnzimmer der Tiere zu befinden.

Bald rasteten wir, aßen gemeinsam unsere Brote und bewegten uns anschließend schweigend weiter. Wir hatten uns bis in ein Sperrgebiet vorgewagt, in dem die Natur ihre Ruhe bewahren soll und Menschen deshalb eigentlich nicht erlaubt sind. Ich bemühte mich, so leise wie ein Indianer zu schleichen und geriet dabei in einen regelrechten Rausch des Gehens: Ich hätte tagelang so weitergehen können und dabei jede einzelne Sekunde genossen.

In diesem Trancezustand spürte ich, wie mein Gefährte mich plötzlich an der Jacke zupfte, erst nur leicht, dann bestimmter, so als wollte er mich dringend daran hindern, die nächsten Schritte zu tun. Überrascht blieb ich stehen, sah mich um und versuchte den Grund für diese Unterbrechung zu entdecken. Da sah ich, nur einen Steinwurf von mir entfernt stand ein riesiger Hirsch mit einem mächtigen, weitverzweigten, majestätischen Geweih und schaute mir direkt in die Augen. Dieser kapitale Hirsch war so unfassbar groß! Ich wusste gar nicht, dass diese Tiere eine solche Größe erreichen können. Das prächtige Tier stand da, blickte mich an und rührte sich nicht. Ich war vollkommen gebannt von seiner Erscheinung. Zugleich hatte ich das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn dieses übermächtige Wesen nicht bald seinen Blick abwandte.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dort standen, es war ein zur Ewigkeit geronnener Augenblick. Irgendwann, ganz langsam, gemächlich und zugleich absolut bestimmt, wendete der Hirsch seinen Kopf zur Seite und marschierte entschieden davon. Und jeder seiner schweren Schritte erzeugte eine so heftige Vibration im Boden, dass ich sie in meinem Körper spüren konnte. Dieses Tier hat mir ans Herz gefasst.

Als wir zur Hütte zurückkehrten, kam mir Zoltan schon entgegengelaufen, er war besorgt und verärgert und ließ mich das auch spüren. Ich verstand ihn überhaupt nicht. Ich war so erfüllt von dieser großartigen Erfahrung. War tief bewegt vom Hirschen, vom Adler, von den Murmeltieren, vom Licht und anderen Naturerscheinungen, die ich für einige Stunden erlebt hatte.

Derartige Naturerlebnisse, solche wunderbaren Exzesse des Gehens waren es auch, dass sich mein Schauspiel hin und wieder relativierte und mir fast wie etwas Unnatürliches, wie Zeitverschwendung vorkam. Dabei ist das vermutlich Unsinn: Spielen ist nicht wider die Natur. Ebenso wenig ist es wider die Natur, sich zu erinnern. Die einzigartige Kraft der Schauspielkunst liegt in der Fähigkeit des Menschen begründet, im Spiel die Toten wiederauferstehen zu lassen, die Erinnerung zu beleben, ihr Hauch und Stimme – und einen lebendigen Gang zu verleihen.

Die Erinnerung ist eine trügerische Sache, sie ist nicht absolut und verändert sich, wie sich der Mensch und seine Beziehungen verändern. Das habe ich im vergangenen Jahr ganz deutlich gespürt. Ein Buch ist im Gegensatz dazu immer etwas Bleibendes, Absolutes, das sich nicht mehr verändern lässt, wenn es einmal fertig ist. Schwarz auf Weiß. Es legt seinen Autor auf eine ganz bestimmte Sicht der Dinge fest. Dieser Gedanke hat mir manches Mal ein wenig Angst gemacht.

Aber dann dachte ich mir: Wenn ein Buch selbst auch nur ein Schnappschuss, eine Momentaufnahme ist, dann kann es doch immerhin von der Veränderung, vom Gehen und vom Weitergehen erzählen.

Und wo es das tut, erzählt es mein Leben und dort erzählt es von meinem Leben.

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In den Armen meines stolzen Vaters habe ich mich immer geborgen gefühlt. Hier in unserem Haus in Athen, 1959.

ICH BIN EIN KIND ZWEIER WELTEN

Ein paar Jahre musste ich mich gedulden und im Universum zuwarten, bis meine Eltern glücklich aufeinander trafen.

Mein Vater, Georg Neuhauser, war sein Leben lang ein Inselkind: neugierig, unternehmungslustig und voll Energie. 1923 wurde er in Piräus geboren und wuchs auf Syros auf, der Hauptinsel der Kykladen. Sein Vater, ein Wasserbauingenieur, stammte aus der Steiermark. Über seinen Beruf war er nach Griechenland gekommen, hatte dort meine Großmutter kennen und lieben gelernt und war schließlich auf Syros hängengeblieben.

Die Kindheit meines Vaters war behütet und glücklich. Er war ein richtiger Lausbub, der zum Beispiel die Hühner mit in Ouzo getränktem Brot fütterte, sodass sie besoffen durch die Gegend torkelten, oder zum Leidwesen mancher mit seiner selbstgebauten Seifenkiste die engen Treppengassen hinunterratterte, bis man ihm – der Lärmbelästigung wegen – unter lautem Geschrei einen Eimer Wasser ins Gesicht kippte.

Die glückliche Kinder- und Jugendzeit meines Vaters fand mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein jähes Ende.

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Mein Vater als typisch griechisches Inselkind – zu besonderen Anlässen ging man auf Syros sogar in traditioneller Tracht ins Fotoatelier.

In der irrigen Hoffnung, dass sein Sohn vor den Grausamkeiten des Kriegs in der alten Heimat besser geschützt wäre als in Griechenland, wo die Nazis schon ab 1941 entsetzlich wüteten, schickte mein Großvater seinen Sohn nach Österreich. So kam mein Vater zu seinem Onkel in die Steiermark und wurde von dort aber sofort zum Kriegsdienst eingezogen: Mein Vater besaß einen österreichischen Pass und war somit „offiziell“ Bürger des Deutschen Reichs.

Aus Erzählungen meines Vaters erfuhr ich, dass sich der Bruder meiner Großmutter, Onkel Georg, später einmal darüber beklagte, dass mein Großvater meinen Vater nicht, statt ihn nach Österreich zu schicken, in seine Obhut gegeben hatte. Georg war Kapitän großer Containerschiffe, mit denen er sämtliche Weltmeere befuhr. Er wollte meinen Vater einfach mitnehmen und zum Beispiel in Ägypten absetzen, wo er dem Krieg womöglich wirklich entkommen wäre.

Auf Syros gab es eine große Schiffswerft, wo mein Vater oft nach der Schule neugierig herumstreifte und Arbeitern bei ihrem gefährlichen Beruf zusah. Die Ozeanriesen und Passagierschiffe, die dort gewartet und gebaut wurden, weckten bei ihm wohl die Leidenschaft für die Seefahrt. Deshalb hätte er gerne in Hamburg das Schiffspatent gemacht, was ihm aber wegen seiner schlechten Deutschkenntnisse verwehrt blieb.

Stattdessen schickte man ihn zu den Panzerpionieren. Die harte und körperlich ungemein schwere Ausbildung machte aus meinem Vater, damals noch ein zarter Inselknabe, einen stattlichen Mann. Noch während des Kriegs erhielt er eines Tages die schlimme Nachricht, sein Vater liege im Sterben. Nach langem Drängen und Bitten bekam er Feldurlaub. Mit einem Passierschein machte er sich auf den gefährlichen und mit Hindernissen gepflasterten Weg nach Syros.

Später erzählte er mir oft von diesem abenteuerlichen Trip zurück nach Griechenland. Durch die Kriegswirren schaffte er es nicht auf direktem Weg und musste sich auf illegalen Pfaden von Grenze zu Grenze kämpfen. Rasierklingen, Zigaretten und alle möglichen anderen Gebrauchsgegenstände dienten ihm dabei als Bestechungsmittel, mit deren Hilfe er schließlich sämtliche Barrieren überwand. Als er endlich auf Syros ankam, war sein Vater glücklicherweise noch am Leben – seine Mutter aber war in der Zwischenzeit verstorben. Den Verlust seiner geliebten Frau verkraftete mein Großvater nicht, und kurz darauf – der Feldurlaub meines Vaters war da bereits wieder zu Ende – starb auch er. Meinen Vater bedrückte es fortan sein Leben lang, dass er sich von seinen Eltern nicht hatte verabschieden können.

Nach dem Krieg, den mein Vater zum Glück gesund überstand, studierte er in Wien an der Akademie der bildenden Künste Architektur. Bis zum Krieg war das einzig deutsche im Leben meines Vaters der vererbte Familienname Neuhauser gewesen, er wuchs mit seiner Muttersprache Griechisch auf und musste erst während seines Einsatzes als knapp Zwanzigjähriger Deutsch lernen. Auch viel später noch unterliefen ihm auf Deutsch immer wieder kleine Grammatikfehler, wobei er diese sprachlichen Eigenheiten schon auch gerne kultivierte, weil sie seiner Ansicht nach gut zu seinem griechischen Image passten. Seine Arbeitskollegen und Freunde nannten ihn den „Griechen“ und er ließ auch bei keinem Fest die Gelegenheit aus, einen griechischen Tanz auf’s Parkett zu legen.

Bald verliebte sich mein Vater in die Schwester eines Studienkollegen, ein erst sechzehnjähriges Schulmädchen namens Elisabeth. Ihre Eltern konnte er davon überzeugen, dass es viel mehr als nur eine Liebelei war, sein Ehrgeiz und seine Zielstrebigkeit imponierten ihnen. Schließlich nutzte auch meine Großmutter die Verliebtheit meines Vaters recht eigenwillig aus, um ihre sehr hübsche und lebendige Tochter zu zähmen und zu verheiraten. Sie beschloss ganz einfach, dass ordentliche Verhältnisse hergestellt werden müssten: Um seine ehrlichen Absichten zu beweisen, musste mein Vater um ihre Hand anhalten, und schon war meine Mutter unter der Haube, verheiratet mit einem zwölf Jahre älteren Mann. Später erzählte mir meine Großmutter, dass sie sich immer Sorgen um ihre hübsche, aber haltlose kleine Lisl gemacht und meinen Vater deshalb als Rettungsanker für sie betrachtet hatte. Meine Großmutter versuchte einfach immer, Probleme so schnell und rigoros wie möglich zu lösen. In diesem Fall schien ihr die rasche Ehe für ihre Tochter der beste Weg zu sein.

Ein Jahr nach der Hochzeit war bereits mein älterer Bruder Alexander unterwegs. Also alles fein und schön? Nicht ganz, oder jedenfalls nicht sehr lange. Alexander war noch ein Baby, da verliebte sich meine Mutter in den besten Freund meines Vaters, Gerd Marquant, und dieser sich in sie.

Erst kurz vor dem Tod meines Vaters habe ich ihn einmal gefragt, wie das damals mit Gerd und meiner Mutter zugegangen war, weil es doch nach einer ziemlich wüsten Geschichte klang. Mein Vater erzählte mir, dass meine Mutter damals mit Alexander im Kinderwagen öfters Zeit im Schrebergarten ihrer Tante Joschi verbrachte. Eines Tages wollte mein Vater meine Mutter von Tante Joschis Garten abholen und begegnete bei dieser Gelegenheit seinem Freund Gerd – damals unternahm er noch nichts, obwohl es ihm schon gedämmert haben muss. Erst als mein Vater einmal viele Jahre später mit der Straßenbahn fuhr und sein bester Freund zufällig zustieg, verpasste er ihm jene schallende Ohrfeige, die Gerd schon vor dem Schrebergartentor gebührt hätte.

Meine Mutter ließ sich von meinem Vater scheiden und heiratete gleich darauf Gerd Marquant. Gerd war im Wien der Fünfzigerjahre ein „Hansdampf in allen Gassen“, ein Lebenskünstler, befreundet mit Helmut Qualtinger, André Heller und überhaupt so ungefähr allen, die in der jungen Wiener Kulturszene jener Zeit einen Namen hatten. André Heller nannte Gerd in einem seiner Bücher einmal den „glücklichen Verlierer“, und ich glaube, damit traf er ziemlich ins Schwarze. Bald gebar meine Mutter auch Gerd einen Sohn: meinen Halbbruder Peter. Mein Vater kehrte nach der Scheidung enttäuscht nach Griechenland zurück, er hatte nicht nur seine Frau, sondern auch seinen besten Freund verloren.

In Athen ging es allmählich wieder bergauf und er machte als Architekt Karriere. Später erzählte er mir, dass dies eine sehr gute und glückliche Zeit für ihn gewesen war.

Doch wie und wann hat dann Adele Neuhauser das Licht der Welt erblickt? Ja, danach sah es damals nicht unbedingt aus, dafür bedurfte es schon eines zweiten Anlaufs. Meine Eltern waren Mitte der Fünfzigerjahre geschieden worden und lebten in zwei Ländern, zwischen denen sich halb Europa erstreckt. Ich hätte also gut und gerne für alle Ewigkeit in den Weiten des Universums herumschwirren können.